Laudatio von Jean Monnet, Karlspreisträger des Jahres 1953

Laudatio von Jean Monnet, Karlspreisträger des Jahres 1953

(Wegen Erkrankung wurde die Rede von Etienne Hirsch, Präsident von Euratom, verlesen.)

Meine Damen! Herr Oberbürgermeister! Meine Herren! Herr Walter Hallstein, Präsident des Gemeinsamen Marktes! Herr Heusch hat mich darum gebeten, ein paar Worte Ihnen zu Ehren zu sprechen, mein lieber Freund, und ich danke ihm dafür.

Sie erinnern sich an unsere erste Begegnung - es war in Paris im Juni 1950. Der deutsche Kanzler und die deutsche Regierung hatten Sie gerade zum Führer der deutschen Delegation für die Verhandlungen über den Kohle- und Stahlpakt ernannt, der damals Schuman-Plan genannt wurde.

Der Krieg und all sein Unglück waren damals kaum 5 Jahre vergangen.

Und Sie sind jetzt, im Jahre 1961 Präsident der Kommission des Gemeinsamen Marktes unserer sechs Länder.

Im Jahre 1950 wurden Sie damit beauftragt, die deutschen Interessen wahrzunehmen; im Jahre 1961 sind Sie beauftragt, die europäischen Interessen wahrzunehmen.

Es genügt, diese beiden Daten und diese beiden Tatsachen aufzuführen, damit wir den tiefen Wandel sehen, der sich vollzogen hat und sich noch ständig zwischen unseren Ländern und den Menschen unserer Länder vollzieht.

Im Jahre 1961 sind Sie gewiß Deutscher, aber Sie sind Europäer geworden, und Deutschland, Italien, Luxemburg, Belgien, die Niederlande und Frankreich haben Ihnen ihr gemeinsames Vertrauen übertragen, indem sie Sie zum Präsidenten der Kommission ernannten, die mit der Ausführung des Gemeinsamen Marktes beauftragt ist.

Aber mehr noch als das haben Sie, indem Sie das taten, anerkannt, daß ihre Probleme nicht nur nationaler Art seien, sondern gemeinsame Probleme geworden waren. Sie sind damit einverstanden, daß nicht nur die diplomatischen Lösungen der Probleme gesucht werden, die sie trennen, sondern die Lösung der gemeinsamen Probleme, die sie einen.

Im Jahre 1950 - ich leitete damals die französische Delegation - sind wir gemeinsam an die Fragen herangegangen, vor die uns die Schuman-Erklärung stellte. Ich höre noch das Echo daraus.

Der Beitrag, den ein organisiertes und lebendes Europa für die Kultur leisten kann, ist unentbehrlich für die Aufrechterhaltung friedlicher Beziehungen. Da Europa noch nicht geschaffen war, hatten wir Krieg gehabt.

Europa wird nicht auf einen Schlag geschaffen werden, auch nicht in einer gemeinschaftlichen Verfassung. Es wird durch konkrete Leistungen geschaffen werden, dadurch, daß man zunächst eine de fakto Solidarität schafft. So wird in einfacher und schneller Art die Interessenverschmelzung bewirkt, die für die Herstellung einer europäischen Gemeinschaft unerläßlich ist, und es wird das Ferment für eine breitere und tiefere Gemeinschaft zwischen den Staaten gelegt, die sich so lange in blutigen Zwistigkeiten gegenüberstanden.

Es hat zu jener Zeit großer Zähigkeit und großer Anstrengung bedurft, damit diese Verhandlungen gleichzeitig über die Probleme der Kohle und des Stahles geführt wurden; sie mußten gelöst werden, wobei man sich von den allgemeinen Zielen leiten ließ, die mit der Erklärung vom 9. Mai aufgezeigt wurden: Man mußte für immer den Gegensatz beseitigen, der so lange Frankreich und Deutschland getrennt hatte. Man mußte auf der Basis der Gleichheit, und das stand der Vergangenheit ganz besonders im Wege, die Beziehungen zwischen den Siegerstaaten und -völkern und den besiegten Völkern herstellen. Man mußte durch den Beginn eines großen Marktes die für die ständige Hebung des Lebensstandards und der sozialen Verhältnisse unerläßlichen Bedingungen schaffen. Man mußte ein und das gleiche Los der Freiheit unseren Ländern und unseren Völkern gewähren, die vereint und nach Westen ausgerichtet sind.

Um zu diesem Ziel zu gelangen, mußte man zuerst damit beginnen, eine Interessengemeinschaft zu schaffen; das wurde für Kohle und Stahl verwirklicht. So wurde in unsere alten statischen Gesellschaftsordnungen ein Ferment des Wandels hineingetragen, das notwendigerweise unsere Länder zu einer neuen Perspektive der Anpassung an die modernen Verhältnisse bringen sollte. Aus der Zerrissenheit und Zerstückelung fing Europa an, ein großes gemeinsames Ganzes zu werden.

Dieser notwendige Wandel durfte sich nicht auf unsere sechs Länder beschränken. Sie erinnern sich, daß vom ersten Tage an Frankreich England aufgefordert hatte, sich diesem gemeinsamen Werk anzuschließen. Aus verschiedenen Gründen war England damals der Meinung, daß ihm dieser Anschluß nicht möglich sei. Aber wir waren der Meinung, daß, wenn unsere sechs Länder Ausdauer und Zähigkeit hätten, um ihre Wirtschaftsgemeinschaft zu verwirklichen, um diesen großen Markt zu errichten, den wir heute kennen, und ihn so aufzubauen, daß er unzerstörbar sei und allen demokratischen Staaten, insbesondere auch England, offenstehe, daß dann England, das 1950 die Hypothese einer Einigung Europas abgelehnt hatte, die vollzogene Wirklichkeit anerkennen würde und sich eines Tages rückhaltlos, ohne Interessensteilung ihnen anschließen und dieselben Regeln und dieselben Einrichtungen übernehmen würde.

Und wir meinten auch, daß eines Tages das erstarkte Europa ein Bundesgenosse im Format der Vereinigten Staaten sein würde, und daß dann zwangsläufig die Probleme, denen wir uns gegenüber sähen, ganz natürlich eine Zusammenarbeit gleichberechtigter Partner, nämlich dieses vereinten Europas unter Einschluß Englands und der Vereinigten Staaten, bedeuten würde.

Ihr Verdienst, und ich meine damit auch das Verdienst zahlreicher anderer von denen, die hier in diesem Saal versammelt sind, und auch von denen, die heute hier fehlen, liegt darin, daß Sie an die Verwirklichung dieser Aufgaben mit aller Kraft herangegangen sind.

Kaum war die Kohle- und Stahlgemeinschaft geschlossen, da sind Sie nach Bonn zurückgekehrt und dort sind Sie mit dem Kanzler, unserem Freunde Etzel und anderen einer der stärksten Pfeiler der Einheit Europas gewesen.

Sie haben sich den manchmal volkstümlichen, aber so theoretischen und irrealen Ansichten zu widersetzen gewußt, daß nämlich eine rein wirtschaftliche Verständigung zwischen unseren Völkern genüge, um die Probleme zu lösen, denen sich unsere Völker gegenüber sehen. Sie haben sich nicht durch die Leichtigkeit eines Kompromisses verführen lassen, der in illusorischer Weise die Verständigung zwischen unseren Ländern und England beschleunigt, und der in Wirklichkeit nur ein Teilvertrag gewesen wäre und den Tag des vollständigen englischen Anschlusses hinausgezögert hätte. Obwohl Sie von der allgemeinen Skepsis aufgrund des Scheiterns der Pläne einer europäischen Armee umgeben waren, sind Sie fest geblieben, als Sie mit anderen zusammen, deren Namen in aller Munde sind, zur Ausarbeitung und schließlich zur Ratifizierung des Gemeinsamen Marktes und von Euratom beigetragen haben.

Und so hat sich im Laufe dieser Jahre, im Laufe dieser häufigen Enttäuschungen, aber auch dieses pausenlosen Kampfes, ganz allmählich das Verhalten der Länder und der Völker gewandelt. Unsere wirtschaftlichen Probleme sind gemeinsame Probleme geworden; ihre Behandlungsmethoden haben sich geändert: Aus der Diskussion entgegengesetzter Interessen sind sie allmählich zur Suche nach gemeinsamen Lösungen für die Probleme geworden, die jeder als die gemeinsamen Probleme akzeptiert.

Als der Vertrag über den gemeinsamen Markt - nach seiner fast einstimmigen Ratifizierung durch unsere Parlamente - in Gang gesetzt werden mußte, haben sich unsere Regierungen an Sie gewandt und haben Sie ganz selbstverständlich zum Präsidenten ernannt.

Ich möchte hier bezeugen und deutlich unterstreichen, daß sich das Vertrauen und die Achtung für Sie und Ihre Kollegen in allen unseren Ländern heute in keiner Weise von dem Vertrauen und der Achtung unterscheiden, die Sie alle bei Ihrer Ernennung umgeben haben.

Und warum? Nicht nur, weil Sie und Ihre Kollegen die ihnen übertragene Arbeit gut ausgeführt haben, sondern, und vor allen Dingen, mein lieber Freund, weil Sie standhaft geblieben und den Zielen, die den Ausgangspunkt dieses großen Unternehmens bildeten, ohne jede Schwäche treu geblieben sind.

Und heute noch sind Sie und Ihre Kollegen von zahlreichen Schwierigkeiten umgeben: Die Agarpolitik, die so wichtig ist, stößt heute auf Hindernisse, die den besonderen nationalen Verhältnissen zuzuschreiben sind. Das europäische Antikartellgesetz, das für das richtige Arbeiten eines großen Marktes von schon 170 Millionen und bald mehr als 220 Millionen Verbrauchern unerläßlich ist, stößt auf den Widerspruch von Interessen, die ihren Ursprung noch in der Vergangenheit haben. Gewisse konservative Verwaltungen versuchen noch hier und da durch versteckte Maßnahmen das aufzuhalten, was schon von unseren Regierungen und unseren Parlamenten beschlossen war: Das Zusammenlegen unserer Volkswirtschaften.

Durch diese scheinbar unüberwindlichen Schwierigkeiten fließt jedoch wie eine Strömung, die man nicht in eine Gegenrichtung umlenken kann, der Strom der öffentlichen Meinung, der unsere Länder und unsere Völker zur Einheit führt. Überrascht über die tatsächliche und nicht mehr rückgängig zu machende Verwirklichung der Einheit der Länder des Kontinents, überrascht über die Fortschritte, die diese Vereinigung mit sich bringt, überrascht endlich über die Unterstützung, die Amerika dieser Vereinigung zuteil werden läßt, fragt sich England, und zahlreiche Stimmen erheben sich in England, die danach fragen, ob seine Regierung sich endlich dazu entschließt, wie wir selbst an der Schaffung des wirtschaftlichen und politischen Europas teilzunehmen, des Europas, so wie es jetzt schon ist, und wie es im Begriff ist, weiterhin zu werden. Um einen Anfang zu machen, des Europas des Gemeinsamen Marktes. Und jetzt sind auch die Vereinigten Staaten, da sie sich der ständig größer werdenden Realität des vereinten Europa bewußt werden, damit einverstanden, daß Probleme, die bisher nur nationaler Art waren, inzwischen aber zu Weltproblemen geworden sind - Währungsstabilität des Westens, Entwicklungshilfe, usw. - durch Zusammenarbeit auf der Basis der Gleichberechtigung zwischen ihnen selbst und Europa behandelt werden. Und so bildet sich die neue Organisation der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, in der zum ersten Mal diese Probleme erörtert werden sollen, um zu gemeinsamen Lösungen zu gelangen.

Und in demselben Augenblick beschließen die Führer unserer sechs Länder, über den bisher verfolgten Weg der wirtschaftlichen Einheit hinauszugehen, verbinden sich und suchen gemeinsam die Formen der Zusammenarbeit, die eine politische Vereinigung erfordert.

So schließt sich die freie westliche Welt allmählich, mühselig, unter ständigen Schwierigkeiten zusammen. Bei all diesen Anstrengungen verwischt sich die herkömmliche Idee der Macht und es festigen sich die Begriffe der Freiheit und der Organisation der demokratischen Staaten, unter denen England und die Vereinigten Staaten einen so hohen Rang einnehmen.

In diese, für die Erhaltung unserer Freiheit so notwendige Organisation der westlichen Welt, hat die Vereinigung Europas das notwendige Ferment des Wandels hineingetragen.

Und so haben Sie, mein lieber Freund, mit so vielen anderen, im Laufe Ihres Lebens dieses seltene Vorrecht gehabt, eine Idee entstehen zu sehen und zu ihrer Verwirklichung beitragen zu dürfen.