Rede von Josef Ertl, Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten

Rede von Josef Ertl, Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten

Sehr verehrter Herr Ministerpräsident Karamanlis,
sehr verehrte Damen und Herren!

Zunächst möchte ich Sie, sehr verehrter Herr Ministerpräsident, im Namen der Bundesregierung sehr herzlich begrüßen und Ihnen zur Auszeichnung mit dem Internationalen Karlspreis der Stadt Aachen ebenso herzlich gratulieren.

Dies geschieht hier im Krönungssaal des Rathauses zu Aachen, der Residenzstadt Karls des Großen und späteren Krönungsstadt der deutschen Könige. Somit auf einem Boden, von dem schon einmal das großartige Unternehmen der Einigung der Völker und Länder des christlichen europäischen Abendlandes ausgegangen ist.

Mit Ihrer Person, sehr verehrter Herr Ministerpräsident, ist die Brücke zu Griechenland geschlagen, der Wiege europäischer Kultur und Zivilisation sowie insbesondere der Heimat der Demokratie. Also jener Staats-, ja Lebensform, auf die die freie Welt bei der Verteidigung der Freiheit des Individuums wie auch der Völker setzt.

Das Griechenland der Antike hat uns also die Demokratie geschenkt. Demokratie wird nicht durch Wahrung von äußeren Formen und durch Lippenbekenntnisse verwirklicht. Wer sich heute – wo und auf welcher Ebene auch immer – als demokratischer Politiker betätigt, der muß auch dem Sinn und dem Auftrag gerecht werden, die im griechischen Ursprungswort "Politik" liegen: nämlich Einsatz für das öffentliche Wohl mit dem einzelnen Bürger als Mittelpunkt – in Respekt vor den Menschenrechten und in Widerstand gegen menschenverachtende Ideologien.

Und noch ein Beispiel hat uns das alte Griechenland, das ja mehr oder weniger ein Verbund von Stadtstaaten gewesen ist, gesetzt: Die Stärke, die in der Einigkeit liegt, um sich gegen Übermacht und Bedrängnis von außen zu behaupten. Diesem Beispiel muß Europa im Zeichen einer bedrohlichen Polarisierung der Macht folgen, soll der Friede nicht nur unserem alten Kontinent, sondern weltweit erhalten bleiben.

Die materiellen Schäden, die sich die Völker Europas insbesondere im Zweiten Weltkrieg in mörderischer Selbstzerfleischung zugefügt haben, wurden erstaunlich schnell überwunden. Wovon Europa jedoch noch entfernt ist, das ist die Wiedergewinnung einer historischen und politischen Identität, seines Selbstbewußtseins gegenüber den Supermächten, gegründet auf Solidarität, auf Ausgewogenheit von Rechten und Pflichten.

Die Vorkämpfer der ersten Stunde, deren bekannte Namen ich wohl nicht aufzuzählen brauche, haben gestützt auf persönliche Autorität, in einem großen Wurf das Fundament für ein vereintes Europa gelegt. Das Gebäude des Einigungswerkes darauf zu errichten, zu festigen und schrittweise zu erweitern, diese Aufgabe ist der heute aktiven Politikergeneration aufgetragen.

Wir erinnern uns an den Höhenflug der Europa-Euphorie zu Ende der 50er und Anfang der 60er Jahre. Als es an die Umsetzung der Idee in die Tat ging, da wurde die Landwirtschaft zum Zugpferd der europäischen Integration erkoren. Ich bin weit davon entfernt, darin eine Würdigung er Tatsache zu sehen, daß es die "agricultura" gewesen ist, die am Anfang der Menschheitsgeschichte gestanden hat. Für die Entscheidung waren vielmehr ganz handfeste, nüchterne politische und wirtschaftliche Interessen ausschlaggebend. Die europäische Landwirtschaft hat sich der ihr gestellten Aufgabe unterzogen. Heute darf ich als langgedienter Landwirtschaftsminister wohl auch zusätzlich feststellen: Die gemeinsame Agrarpolitik ist ein Band, das die Europäische Gemeinschaft zusammenhält.

Lassen Sie mich deshalb fortfahren mit einer bildhaften Anleihe aus der Landwirtschaft. Der vielversprechende Sprößling Europa, seit mehreren Jahren dem rauhen Klima einer weltweiten Rezession ausgesetzt und vom aufkeimenden Unkraut eines überholten nationalen Egoismus bedroht, kränkelt an Wachstumsstörungen. Das Klima muß verbessert, Unkraut muß gejätet, neue Nährstoffe müssen zugeführt werden.

Deshalb sollten sich die Bürger in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft vorweg immer wieder die Frage stellen, wo wir heute ohne diese Gemeinschaft stünden. Dann muß Rückbesinnung einkehren darauf, daß Wohlstand, Recht und Freiheit auch bei uns eine Selbstverständlichkeit sind, daß Millionen Menschen in anderen Teilen der Welt leidenschaftlich nach Freiheit rufen. Wir müssen auf andere Völker blicken, die nach einer leidvollen Phase ihrer Geschichte den Weg zurück zur Demokratie gefunden haben. Sie haben deshalb noch den ungetrübten, scharfen Blick dafür, welchen wert ein politisch vereintes, wirtschaftlich starkes sowie auf seine Sicherheit bedachtes Europa hat. Der Repräsentant eines solchen Volkes steht mit Ihnen vor uns, sehr verehrter Herr Ministerpräsident. Den großen Staatsmann und Europäer haben gerade auch die Erlebnisse und Erfahrungen von Diktatur, Krieg und Besetzung, Militärregime geformt. Sie haben die drohende Gefahr einer bewaffneten Auseinandersetzung mit dem Nachbarn und dazu auch noch lange Jahre politischen Asyls hinter sich. Die Hoffnungen, die Sie für Ihr Volk mit dem Beitritt zur Gemeinschaft verknüpfen, sollen und müssen den Altmitgliedern der Gemeinschaft Ermunterung und Verpflichtung sein.

Soll Europa nicht nur eine Idee sein, soll es nicht Vision bleiben, so gilt es, die Vielzahl von unterschiedlichen Interessen auszugleichen und damit permanent ein hartes Stück politischer Alltagsarbeit zu verrichten.

Sie haben, sehr verehrter Herr Karamanlis, schon in frühen Jahren Ihrer Ministerverantwortung die Bedeutung öffentlicher Arbeiten, insbesondere der Verbesserung der Infrastruktur, erkannt. Deshalb bereiten sie mit einem eindrucksvollen Infrastrukturprogramm für die Landwirtschaft Griechenland auf den Beitritt zur Gemeinschaft vor.

Dies ist der Realismus, der sich mit Idealismus paaren muß, wollen wir ein Europa mit Wohlstand für alle errichten und festigen.

In dieser Gemeinschaft gleichberechtigter und gleichrangiger Partner gilt es, Recht und Freiheit nach innen und außen zu verteidigen. Europa braucht also auch Sicherheit, deshalb muß das Mittelmeer wieder zu einem Meer der Anrainer werden. Und da Meere bekanntlich nicht trennen, sondern verbinden, hält Europa für Griechenland eine wichtige Mittlerrolle bereit zu einem Großraum, mit dem Hellas über viele Jahrhunderte in eng und vielfältig verwobener Partnerschaft verbunden war.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich wäre kein überzeugter und engagierter Europäer, wenn ich nicht die einmalige Gunst dieser Stunde und das Gehör dieses ausgesuchten Publikums nutzen würde. Vor einigen tagen mag ich unter dem Eindruck der Schwierigkeiten, die zur Unterbrechung der diesjährigen Agrarpreisverhandlungen führten, in Frankfurt von Landwirten aus Deutschland, Europa und der ganzen Welt, vielleicht etwas drastisch formuliert haben, wenn ich sagt, Europa brauche keine Sprüche, sonder Taten. Lassen Sie mich bitte kurz mit Worten, die der Würde dieser Veranstaltung angemessen sind, darlegen, was ich meine:

Je größer die europäische Gemeinschaft wird, desto schwieriger und langwieriger wird die Beschlußfassung durch den Rat der europäischen Gemeinschaft. Dies ist ganz zwangsläufig angesichts einer sehr unterschiedlichen politischen und wirtschaftlichen Ausgangslage in den einzelnen Mitgliedstaaten. Wozu hinzukommt, daß die Entwicklung zwischenzeitlich zum Teil noch weiter stark auseinandergelaufen ist – man denke nur an die Inflation. Prozedurale Verbesserungen, eine bessere Verfahrensregelung, sie bringen uns nicht weiter. Die europäische Gemeinschaft darf nicht zu einem Club werden, in dem Minister über ausgesprochene Einzelfragen verhandeln und über letzte Details feilschen. Ein solcher loser Zusammenhalt wird auf Dauer möglicherweise selbst den derzeitigen Integrationsstand nicht halten können. Und es ist schon eine Denaturierung der Europa-Idee, wenn die einzelnen Minister nach Rückkehr vom Ratstisch in ihre Länder zu Hause nicht an ihrem Beitrag zu Europa, sondern an der erfolgreichen Vertretung nationaler Interessen gemessen bzw. in die Verantwortung genommen werden.

Wir brauchen also ein wiederbelebtes, gesteigertes europäisches Bewußtsein auf allen Ebenen in ganz Europa, das Bewußtsein, daß die europäische Gemeinschaft nicht ein wirtschaftlicher und administrativer Moloch ist, sondern in Wahrheit eine echte Schicksalsgemeinschaft. Sie wird nur durch Verständnis für die Probleme des Partners und durch Solidarität ihrem Sinn und ihrer vielleicht wichtigsten Aufgabe gerecht werden, nämlich Europa in eine wirklich gleichrangige Position gegenüber den Supermächten und den Mächtegruppierungen wo immer in der Welt zu erheben.

Die entscheidenden Träger eines solchen europäischen Bewußtseins sind die Bürger Europas. Sie werden endlich Gelegenheit haben, dieses Bewußtsein über Parteien und Berufsstände in ein direkt gewähltes europäisches Parlament umzusetzen. Dieser obersten demokratischen Institution Europas und damit der Vertiefung des Solidaritätsgefühls der Europäer gilt meine Hoffnung; denn von daher erwächst die Möglichkeit, dieses europäische Parlament in den europäischen Entscheidungsprozeß mit einzubeziehen, indem in wichtigen Fragen Mehrheitsentscheidungen des Rates seiner Zustimmung unterworfen werden. Das Prinzip der Mehrheitsentscheidung könnte so zu dem vom Vertrauen aller Europäer getragenen Entscheidungsmechanismus werden.

Nach diesem Exkurs, den Sie mir bitte nicht verübeln wollen, darf ich mich wieder dem Preisträger zuwenden.

Sehr verehrter Herr Ministerpräsident Karamanlis, wir alle haben Ihnen für die Verdienste zu danken, derentwegen Sie heute ausgezeichnet wurden. Europa braucht Staatsmänner, die ihm Zuversicht vermitteln und auch neue Denkanstöße geben.

Unsere guten Wünsche gelten Ihnen persönlich und dem griechischen Volk – nach glücklicher Rückkehr zur Demokratie – für seinen Weg in die europäische Gemeinschaft.