Rede des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen, Hermann Heusch

Rede des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen, Hermann Heusch

Am 7. Mai 1964, dem Tage, an dem der damalige italienische Staatspräsident, Professor Antonio Segni, mit dem Internationalen Karlspreis der Stadt Aachen ausgezeichnet wurde, erinnerten wir uns an die Worte, die er bei Übernahme des höchsten Staatsamtes vor beiden Kammern des italienischen Parlamentes gesprochen:
"Die Richtung, in der sich die Geschichte entwickelt und die Menschheit fortschreitet, ist diese: die neuen Bande, die sich in Europa knüpfen, werden die endgültige Überwindung alter, unfruchtbarer Gegensätze bedeuten und einen konkreten, wirkungsvollen Beitrag zum Frieden, dem höchsten Streben aller Völker und zu ihrer Freiheit. Zu dieser neuen Organisation Europas drängt die Gegenwart."

Der Förderung dieser von Präsident Segni gedeuteten Entwicklung, die dem Fortschritt und dem Heil der Menschheit dienen soll, hat sich das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises verschrieben, getragen und bestätigt von der Zustimmung der Bürger dieser Stadt Aachen, die seit tausend und mehr Jahren eine europäische Stadt ist und es auch in Zukunft sein will.

Dankbar und freudig darf ich denn auch im Namen dieser Stadt Sie alle begrüßen, die unserer Einladung zu der heutigen festlichen Veranstaltung, die eine Manifestation europäischer Gesinnung sein soll, gefolgt sind. Ich begrüße:... (Anmerkung des Herausgebers: Der Begrüßungsteil der Rede ist nicht überliefert.)

Man hat bei der öffentlichen Besprechung dieser Preisverleihung gemeint, der Karlspreis sei auf eine romantische Aufwallung der ersten Nachkriegszeit zurückzuführen, anknüpfend an Aachens karolingische Tradition. Wenn man damit sagen will, der Preis beruhe auf schwärmerischen Vorstellungen, die mit der Wirklichkeit nicht zu tun haben, so glaube ich, solchen Ansichten am besten begegnen zu können mit dem eingangs von mir zitierten Ausspruch Prof. Segnis. Was die karolingische Tradition angeht, möchte ich eine Erfahrung erwähnen, die uns das Jahr 1965 vermittelt hat: Während drei Monaten fand unter den Auspizien des Europarates in diesem Hause eine Ausstellung statt, die sinnfällig machte, welch mannigfache Impulse von diesem großen Kaiser ausgegangen sind und durch die Jahrhunderte, teilweise sogar bis in unsere Zeit hinein gewirkt haben und noch wirken. Die jede Vorausschätzung übertreffende hohe Zahl von Besuchern setzte sich nicht zum überwiegenden Teil aus Gelehrten zusammen, die teilhaben wollten an der einmaligen wissenschaftlichen Ausbeute dieser von hervorragenden Kennern des frühen Mittelalters konzipieren und zusammengetragenen Schau. Nein, hier fanden sich Menschen aus aller Herren Länder in der Huldigung vor einer Idee, verkörpert durch eine große historische Gestalt, vor einer Idee, die in 1200 Jahren an Aktualität nur gewonnen. Viele der Besucher gingen ohne Zweifel von dem Gedanken aus, dem François Ganshof Ausdruck verliehen hatte mit den Worten: "Hier in Aachen, wo Karl so viele Jahre gelebt und regiert hat und wo er am 28. Januar 814 starb, im Angesicht der Schätze des Geistes und der Kunst, die hier versammelt sind und die ihm ihr Dasein verdanken, hier in der wunderbaren Kirche, die er erbauen ließ, in der er gebetet hat, wo er seinen Nachfolger krönte und wo er begraben wurde, empfinden und verstehen wir besser als an jedem anderen Ort seine Größe und seine wichtige Rolle in der Geschichte und Kultur Europas."

In der Tat wurde in diesen drei Sommermonaten des Jahres 1965 wieder etwas anschaulich von dem ersten großen Versuch, ordnend einzugreifen in das Leben der Völker, sie unter einer großen Leitidee im friedlichen Miteinander gemeinsam geistigem und kulturellem Aufstieg entgegen zu führen. Wohl wissen wir alle, daß dieser Gedanke schon bald nach Karls Tod daran gescheitert ist, daß kein ebenbürtiger Nachfolger das Werk fortsetzen konnte, wir wissen aber auch, daß wir es diesem Ungenügen zuzuschreiben haben, daß in den Folgezeiten bis in unser Jahrhundert hinein Ströme von Blut geflossen sind, weil die Völker nicht mehr zusammenfinden konnten. Ihre furchtbaren Auseinandersetzungen gipfelten in dem Aufblitzen der ersten Atombombenexplosion, das in seiner ganzen Furchtbarkeit nur eine schwache Ankündigung dessen war, was inzwischen an totaler Zerstörung durch die Fortschritte der Technik möglich geworden ist. Dieser unheildrohende Feuerschein hat eine Besinnung zur Folge gehabt, die schon im Jahre 1946 Sir Winston Churchill in Zürich die mahnenden Worte sprechen ließ: "Let Europe live and shine". Es hieße einer törichten Unterstellung zuviel Ehre antun, wollte man noch einmal darauf hinweisen, daß Europa heute mit dem Reich Karl des Großen in seiner damaligen Ausdehnung nicht identisch ist, aber unverändert geblieben ist durch zwölf Jahrhunderte die Notwendigkeit, die Völker Europas vor Auseinanderfallen und Selbstzerfleischung zu bewahren.

So ist auch die Besinnung auf Karls Staatsidee für uns heute noch und mehr denn je etwas sehr Reales. Ich glaube, es heiße auch die Fakten verkennen, wollte man den im vergangenen Jahre in die Ewigkeit abberufenen Sir Winston Churchill, der vor 10 Jahren, am Himmelfahrtstage 1956, hier an gleicher Stelle den Internationalen Karlspreis entgegennahm, als romantischen Schwärmer darstellen. Wie viele andere der besten Köpfe europäischer Politiker seiner Zeit, hatte auch er auf Abhilfe vor drohendem Unheil gesonnen. Nun weilt er - gleich Robert Schuman, dem großen Mahner zur Einigung Europas - nicht mehr unter den Lebenden. Wenn wir dieser beiden großen Toten unter den Baumeistern Europas in Ehrfurcht und Dankbarkeit gedenken, so sei ihnen ein Dritter zur Seite gestellt, der gleich ihnen den Schauplatz irdischen Schaffens verlassen hat: Heinrich von Brentano. Mehrmals hat er dieser festlichen Zeremonie beigewohnt, hat an diesem Rednerpult gestanden und mit seinen Glückwünschen an einen neuen Preisträger seiner leidenschaftlichen Anhängerschaft an die Einigung Europas Ausdruck verliehen. Er ist nicht müde geworden, seine reichen Geistesgaben in den Dienst dieser großen Idee zu stellen und, wenn die Historiker einmal daran gehen werden, die Geschichte der europäischen Vertragswerke und ihres Zustandekommens zu schreiben, dann wird sein Name und sein Verdienst einen ehrenvollen Platz einnehmen.

Wir müssen es zutiefst bedauern, wenn solch hervorragende Männer von der Bühne des Lebens abtreten und nicht mehr mitstreiten können für die endgültige Vollendung und Sicherung des Werkes, das der Bauleute heute mehr bedarf denn je, haben wir doch alle miterlebt, was der unbeugsame Wille eines Einzelnen vermag, wenn es darum geht, einen großen Gedanken über Kleingläubigkeit und Fährnisse hinwegzuretten. Was wäre aus unserer Freiheit und Menschenwürde geworden, wenn Winston Churchill nicht allen Gefahren getrotzt und mit seinem eigenen Volk die Welt in den Bann seines Willens geschlagen hätte? Es wäre traurig um uns bestellt, wenn erst die Katastrophe uns zu gleicher Entschlossenheit bei der Durchführung eines für richtig und unumgänglich erkannten Gedankens zu befähigen vermöchte.

Bestreiten läßt sich nicht, daß auch heute wieder Gefahren drohen, die - rechtzeitig erkannt - sicherlich auch gemeistert werden können. Mir scheint vor allem der Nationalismus erneut unsere Aufmerksamkeit zu erfordern. Wohl hatten wir nach dem Erlebnis des Zweiten Weltkrieges geglaubt, daß diese unheilvolle Krankheit sich selbst ad absurdum geführt habe. Die Maßstäbe der Macht, die heute im Weltgeschehen zählen, sind weit über die Möglichkeiten europäischer Staaten hinausgewachsen. Ein Beharren auf nationalen Ambitionen im heutigen Europa wäre selbstmörderisch. Angesichts der gewaltigen Machtblöcke, die sich in der Welt gebildet haben, kann kein europäisches Land ernsthaft davon ausgehen, auf sich allein gestellt noch mehr als Objekt der Politik sein zu können. Auch in Wissenschaft und Forschung sind wir, auf uns allein gestellt, nicht in der Lage, Schritt zu halten mit dem, was heute zum Weltmaßstab geworden. Vollends in Wirtschaft und Technik sind durch vielseitige Konzentration Möglichkeiten entstanden, im Vergleich zu denen wir Europäer bald hoffnungslos unterentwickelt sein werden, wenn wir nicht unsere Kräfte zusammentun.

Heute noch gibt es die Chance einer eigenständigen Entwicklung, eigenständig aber nur im Sinne der europäischen Kooperation, niemals mehr im Sinne nationaler Ambitionen. Die Statistik der wirtschaftlichen Ergebnisse des letzten Jahrzehnts zeigt klar und deutlich, welche Energien die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft freigesetzt hat. Könnte es einen schlagenderen Beweis für die Richtigkeit der angewandten Methode geben? Mit vollem Recht sind die Schöpfer dieser Verträge von der Annahme ausgegangen, daß ein erfolgreiches Vorangehen einer Staatengruppe große Anziehungskraft auch auf die vorab noch Außenstehenden ausüben werde. Die Gesamtentwicklung auch dieser Länder ist durch die von der Gemeinschaft ausgehenden Impulse durchaus positiv beeinflußt worden. Sollte uns diese Feststellung nicht genügender Beweis dafür sein, daß wir auf dem richtigen Wege sind? Gewiß kann man überall, wo entschlossen gehandelt wird, auch Kritik üben, und es wäre sicherlich zuviel verlangt, wenn wir erwarten würden, daß notwendige Eingriffe von den Betroffenen ohne Widerspruch hingenommen würden. Solange wir aber sicher sein dürfen, dem Wohle des Ganzen zu dienen, werden wir das als unvermeidlich hinnehmen müssen.

Es stellt sich ferner die Frage, ob wir es uns leisten können und dürfen, den weiteren Zusammenschluß in Frage zu stellen, weil wir über Fragen der Methodik unterschiedlicher Auffassung sind, dazu müssen wir mit letzter Entschlossenheit "Nein" sagen. Schon in vergangenen Jahren haben wir mit Bedauern feststellen müssen, daß uns manches nicht schnell genug ginge, daß wir meinten, in vieler Hinsicht hinter den Erwartungen zurückgeblieben zu sein. Hier unterliegen wir auf dem Gebiete der großen Politik den gleichen Erfahrungen, die jeder von uns auch in seinem persönlichen Dasein macht: auch da gelingt vieles nicht so, wie wir es uns gedacht und vorgestellt haben, gerade dadurch aber werden wir gezwungen, uns zu bewähren. An unserer Haltung gegenüber auftauchenden Schwierigkeiten wird dereinst das Urteil des Geschichtsschreibers über unsere Zeit und die Bewährung der politischen Verantwortlichen gebildet, diese Verantwortung tragen wir alle, jeder, der in der Lage ist, sich ein eigenes politisches Urteil zu bilden, ist im demokratischen Staat verpflichtet, nach seinem Vermögen auch für das als recht erkannte einzustehen. Unter keinen Umständen dürfen wir das Ziel aus den Augen verlieren! Erinnern wir uns doch der ersten Nachkriegszeit, in der wir alle hofften und wünschten, der gesamte freie Westen Europas werde sich in einer großen Gemeinschaft zusammenfinden. Bald schon mußten wir erkennen, daß es eine ganze Anzahl von Ländern gab, die glaubten, sich diesem Gedanken verschließen zu müssen; sie taten dies sicherlich aus guten Gründen, über die zu urteilen uns im übrigen nicht zusteht.

Das erste wichtige Faktum wurde dank dem genialen Einfall Jean Monnets geschaffen durch Robert Schuman und es war beschränkt auf Frankreich, Italien, die Benelux-Staaten und die Bundesrepublik. Vielfach gefiel man sich in der abwertenden Bezeichnung dieser Schöpfung als "Kleineuropa". Aus den zunächst nur auf Kohle und Stahl bezogenen vertraglichen Vereinbarungen erwuchsen die Verträge über den gemeinsamen Markt und Euratom. Hätten nicht wenige hervorragende Männer zielstrebig gewirkt, hätten wir den Maximalismus zur Devise erhoben, so gäbe es heute sicherlich noch keinerlei Gemeinsamkeit, und wir wären nicht in den Genuß der vielen Segnungen gemeinsamen Handelns gelangt, die wir heute schon allzu gerne als Selbstverständlichkeiten ansehen. Zu unser aller Glück hat der gesunde Menschenverstand gesiegt, und wir sind vor der unvernünftigen Haltung bewahrt geblieben, auf das Mögliche zu verzichten, weil wir das Wünschenswerte nicht haben konnten. Ausgegangen sind wir von der Überzeugung, daß dieses vielfach verlästerte "Kleineuropa" uns logisch früher oder später zum größeren Europa hinführen würde.

Alle seitherigen Wahrnehmungen deuten darauf hin, daß diese Logik recht behalten wird. Es will mir auch nicht einleuchten, daß die Bildung der EFTA eine ungute Konsequenz der Schaffung der EWG wäre. Ist es nicht im Gegenteil zu begrüßen, daß es neben den sechs andere sieben Länder gibt, die sich in der Wahrnehmung gemeinsamer Interessen gefunden haben? Alles spricht dafür, daß wir diese Tatsache begrüßen sollten, denn es ist viel wahrscheinlicher, daß eines Tages diese beiden Gemeinschaften zusammenfinden, als daß dreizehn Einzelne diesen Schritt tun würden. Durch das bisherige Vorgehen sind im Laufe von 16 Jahren viele vollendete Tatsachen geschaffen worden, die sich ohne schwere wirtschaftliche Schäden für alle Beteiligten nicht mehr rückgängig machen lassen. Nächst denen, die die Verträge geschaffen, kommt hieran das Hauptverdienst der Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu. Wir können diesen Männern nicht genug dafür danken, daß sie der ihnen durch die Verträge gestellten Aufgabe in so hervorragender Weise gerecht geworden sind. In kluger Abwägung divergierender Interessen ist es ihnen immer wieder gelungen, schwierigste Probleme einer für alle tragbaren Lösung entgegenzuführen. Dies berechtigt uns, darauf zu vertrauen, daß auch in den noch offenstehenden Fragen, von deren Lösung die Vollendung der Zollunion abhängt, bald eine Einigung erzielt werden wird. Das ist ein sehr wichtiger weiterer Schritt, wir dürfen allerdings nicht außer Acht lassen, daß gerade dadurch eine Angleichung der Wirtschafts-, Sozial- und Verkehrspolitik, der Steuersysteme sowie des Handels- und Gesellschaftsrechtes besonders dringlich wird.

Wenn manche Momente auch dafür sprechen, daß wir in einer Phase stehen, die zu keinem übertriebenen Optimismus berechtigt, so hat sich bisher doch immer wieder gezeigt, daß es keine Schwierigkeit gibt, die nicht bezwungen werden kann, vorausgesetzt, daß die Beteiligten mit zäher Entschlossenheit an dem gesteckten Ziel festhalten. Ernst Robert Curtius hat gesagt: "Ob Europa untergehen wird, kann kein Denken entscheiden. Entschieden wird das durch unseren Willen, durch Haltung und Spannung unseres Lebens. Wir werden das Schicksal haben, was wir wählen." Solange wir über Männer verfügen, die über genügend Geist, Phantasie und Elastizität verfügen, um das Ziel anzusteuern, um, wenn der eine Weg sich als nicht gangbar erweist, einen anderen zu finden, solange brauchen wir nicht zu bangen, daß wir zu dem von unseren Völkern sehnlichst herbeigewünschten Ergebnis nicht gelangen werden.

Daß die Völker selbst auf diesen Weg drängen, können wir aus mancherlei Anzeichen schließen. Ich denke da nicht nur an unzählige politische Willensäußerungen. Neben diesen gibt es viele andere untrüglich Anzeichen hierfür. Ist es nicht eine großartige Ermutigung für unsere Zukunft, daß zum Beispiel im Jahre 1965 mehr als 340.000 Jugendliche aus Frankreich und Deutschland über das deutsch-französische Jugendwerk zueinander gefunden haben? In diesen Zahlen sind die vielen, aus privater Initiative zustande gekommenen Begegnungen nicht einmal enthalten. Ähnliche Austauschaktionen gibt es mit unseren übrigen Nachbarländern diesseits des eisernen Vorhanges und ganz besonders auch mit Großbritannien. Diese Jugend, die sich kennt, die Freundschaft miteinander geschlossen hat, ist fest entschlossen, den Weg durchs Leben miteinander zu gehen, sie wird sich nicht mehr voneinander trennen lassen, sie wird hoffnungslos veraltete nationale Vorstellungen mit der ihnen zukommenden Mißachtung behandeln und sich ein Haus erbauen, in dem alle ihren Platz haben.

An uns ist es, aus dieser Erkenntnis die Schlußfolgerungen zu ziehen, daß man von uns nicht einmal sagt, wir hätten versagt. Dieser Ruf soll immer wieder von dieser historischen Stätte aus an die Ohren derjenigen dringen, die Verantwortung tragen für das Schicksal der freien Völker Europas. Ausbau und Festigung des Erreichten ist die erste und dringendste Aufgabe, die ansteht. Damit aber dürfen wir uns nicht zufriedengeben! Schon im Jahre 1963 hat das Karlspreisdirektorium durch seinen Beschluß, dem damaligen britischen Lordsiegelbewahrer Edward Heath den Preis zu verleihen, deutlich machen wollen, daß unsere Bestrebungen nicht beschränkt bleiben dürfen auf die sechs Länder, die die Fahne der Einheit vorangetragen haben. Das Direktorium hielt damals Ausschau nach den Kräften außerhalb der Grenzen der Sechsergemeinschaft, von denen wir uns räumliche Ausdehnung und Verbreitung der bestehenden Grundlagen versprechen durften, so wie es schon Leitgedanke gewesen bei der Preisverleihung an Sir Winston Churchill und Georges Marshall. In Edward Heath wurde der Staatsmann geehrt, der am Tage der Eröffnung der Verhandlungen über den Beitritt Großbritanniens zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, dem 10. Oktober 1961, in Paris gesagt hatte: "Wenn wir erklären, daß wir der EWG beizutreten wünschen, so wollen wir damit sagen, daß wir von ganzem herzen volle und aktive Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft in ihrem umfassendsten Sinne zu sein wünschen und mit Ihnen den Aufbau eines neuen Europa vorwärtstreiben wollen." Dies ist eine Sprache, die unmißverständlich erkennen läßt, daß Erkenntnis und Wille das Ziel erfaßt haben, daß Bereitschaft zum Handeln gegeben ist. Aus Gründen, die wir nicht mehr zu erwähnen brauche, blieb zwar zunächst der Erfolg versagt, aber wir sind weit davon entfernt, uns dadurch entmutigen zu lassen.

In gleiche Richtung gingen die Bestrebungen unseres Nachbarn im Norden. Dänemarks maßgebende Politiker haben schon zur selben Zeit wie die Briten erkennen lassen, daß sie eines Sinnes mit ihnen waren. Leider ist auch hier nach dem Scheitern der Verhandlungen mit Großbritannien der Erfolg zunächst versagt geblieben, was aber weiter besteht ist die grundsätzliche Einstellung der maßgebenden Politiker des Landes. Durch eine lange Friedensperiode begünstigt hat Dänemark es vermocht, in der Beurteilung außenpolitischer Probleme zu überlegenen Erkenntnissen zu gelangen. Wo sich in dem ihm unmittelbar benachbarten Bereich Fragen stellten, die an anderem Ort vielfach zu schwerwiegenden Komplikationen führten, hat Dänemark eine exemplarische staatsmännische Weisheit gezeigt. Niemanden hätte es verwundern können, wenn die zuletzt im Jahre 1864 blutig umstrittenen Minderheitenprobleme in seinen südlichen Grenzgebieten bis heute einen Nährboden nationalistischer Auseinandersetzungen abgegeben hätten. Dänemark hat diese Gefahr klar erkannt und hat sie gebannt. Am hundertsten Jahrestag des Sturmes auf die Düppeler Schanzen hat Herr Ministerpräsident Krag bei der Gedenkfeier vor den Vertretern beider Länder gesagt: "Wir wissen alle, daß im dänisch-deutschen Verhältnis Schwierigkeiten zu überwinden sind. Wir können glücklicherweise feststellen, daß wir bereits verschiedene Schwierigkeiten überwunden haben, und es besteht in beiden Ländern eine Hoffnung, nicht nur alte Gegensätze zu überwinden, sondern auch die Begegnungen zwischen Dänisch und Deutsch zu einem fruchtbaren Umbruch zur Bereicherung beider Teile zu machen. Hier liegt eine europäische Aufgabe." Dieser Ausspruch scheint mir sehr kennzeichnend für die Geisteshaltung des Mannes, der heute in die Reihe der Karlspreisträger Eingang finden soll; sehen wir in einmal losgelöst von dem konkreten Problem, so entnehmen wir ihm das Streben nach dem fruchtbaren Umbruch, der durch die Begegnung der Menschen verschiedener Nationen über die Bereicherung der Beteiligten hinaus die Erfüllung einer unserer Zeit aufgegebenen europäischen Verpflichtung anstrebt. Dürften wir sicher sein, daß alle Staatsmänner Europas ihre Tagesaufgaben, insbesondere die Regelung offener Fragen im eigenen nachbarschaftlichen Bereich aus dem gleichen Gesichtswinkel betrachteten, so bliebe uns manch unfruchtbares Gezänke erspart.

Unser heutiger Preisträger, Herr Ministerpräsident Jens Otto Krag, hat trotz seiner verhältnismäßig jungen Jahre das höchste Dienstalter im Kreise seiner Minister. Als Angehöriger des Jahrgangs 1914 wurde er schon mit 33 Jahren im Jahr 1947 zum Mitglied der Regierung Hedtoft ernannt, in der ihm das Ministerium für Handel, Industrie und Schiffahrt unterstand. Die Schwierigkeiten dieses Ressorts in den ersten Nachkriegsjahren sprechen für das große Vertrauen, das man in den jungen Politiker setzte; der auch insofern ein Neuling auf politischem Parkett war, als er erst in den Wahlen dieses Jahres Mitglied der gesetzgebenden Versammlung, des Folketings, geworden war. Der junge Krag hatte sich seit seiner Studienzeit vornehmlich mit wirtschaftlichen Fragen befaßt und nach seiner Abschlußprüfung als Staatswissenschaftler im Jahre 1940 wirtschaftliche Aufgaben in staatlichen Ämtern bearbeitet; so konnte er auch den Hoffnungen derer, die auf ihn vertraut hatten, entsprechen. Persönliches politisches Engagement hatte er schon mit 16 Jahren übernommen, als er die Mitgliedschaft der Jugendbewegung der sozialdemokratischen Partei seines Landes erwarb. Auch an der Ausarbeitung des wirtschaftlichen Nachkriegsprogramms seiner Partei hat er mitgewirkt. Als die Regierung Hedtoft im Jahre 1950 einer bürgerlichen Koalitionsregierung Platz machte, nutzte Krag dies, um sich vom Folketing beurlauben zu lassen, bei der Botschaft seines Landes in Washington als Wirtschaftsberater tätig zu werden und sich besonderer Aufgaben im Zusammenhang mit der Marshall-Hilfe zu widmen. 1953 wurde er Mitglied des zweiten Kabinetts Hedtoft, übernahm das Arbeits- und Wirtschaftsministerium und behielt dieses auch nach Hedtofts Tod unter Ministerpräsident Hansen, bis er 1957 Minister für Außenwirtschaft wurde. Seine Ernennung zum Außenminister im Jahre 1958 fand weithin Beachtung; inzwischen nämlich hatte er sich einen Namen als Förderer der Annäherung der Europäischen Freihandelszone an die EWG gemacht. Dies war insofern nicht verwunderlich als er schon 1949 als Mitglied der Regierung seines Landes an dem Entschluß Dänemarks beteiligt war, der NATO beizutreten. Seit September 1962 bekleidet Jens Otto Krag ununterbrochen das Amt des Ministerpräsidenten. Die dänische Regierung hat unter seiner Führung erkennen lassen, daß sie die Förderung des Europäischen Zusammenschlusses als Grundlage der Sicherstellung von Frieden, Freiheit und Fortschritt in der Welt ansieht. Im Jahre 1962 hat Herr Ministerpräsident Krag hierzu geschrieben: "Auch entscheidende politische Motive sind für unsere Haltung gegenüber den europäischen Vereinigungsbestrebungen im Rahmen der EWG und im Anschluß an die EWG bestimmend gewesen. Eine ständige Marktaufteilung in Europa wird unseren Erdteil nicht nur wirtschaftlich schwächen, sondern auch für die Sicherheit und die Möglichkeiten Europas, einen Einsatz für Frieden und Fortschritt in der übrigen Welt zu leisten, von Nachteil sein." Mit diesen Worten hat Herr Krag in sehr klarer Weise unser aller Verpflichtung gegenüber Europa in den Rahmen unserer politischen Gesamtverantwortung gestellt. So haben neben ihm wohl alle Baumeister Europas diese Frage gesehen und dementsprechend haben sie gehandelt. Wenn wir vor latenten Gefahren nicht die Augen verschließen wollen, dann müssen wir - soweit es in unserer Macht liegt - alles tun um die Reihen derer zu stärken, die entschlossen sind, Frieden und Freiheit in dieser Welt zu sichern. Deuten wir seine Worte richtig, so strebt er für ein Vereinigtes Europa eine Eigenständigkeit an, sagt er doch: "Europas Stellung sollte innerhalb der westlichen Gemeinschaft gestärkt werden, so daß Europas Stimme in der internationalen Politik noch stärker gehört wird." Nur der Zukunft ist sein Denken zugewandt, wie es dem vorausschauenden Politiker geziemt, dies beweisen seine Ausführungen, die in verschiedenen Variationen in seinen politischen Darlegungen der letzten Jahre immer wiederkehren: "Ständig müssen wir das Ziel vor Augen haben: der Spaltung in Westeuropa ein Ende zu machen und eine Vereinigung mit den Ländern des Gemeinsamen Marktes in einem großen Europäischen Markt zu erreichen. Wir müssen die Zukunft und deren Möglichkeiten Ausgangspunkt für unser Denken sein lassen - nicht die Vergangenheit und ihre Schwierigkeiten."

Wir alle wissen wohl, daß es noch vielfacher Bemühungen bedürfen wird, ehe wir das Ziel erreichen; diese müssen ausgehen von entschlossenen Männern, von starken Männern, die durch Rückschläge nicht entmutigt, nein, im Gegenteil in ihrer Entschlossenheit bestärkt werden. Daß wir in der Person des dänischen Ministerpräsidenten Jens Otto Krag einen solchen Vorkämpfer des von ihm als richtig erkannten Gedankens haben, konnte jeder aufmerksame Beobachter des politischen Geschehens der letzten Jahre feststellen; in den Phasen, in denen Schwierigkeiten auftraten, verdoppelte er seine Aktivität, die angefeuert ist von den Motiven, denen er mit den folgenden Worten Ausdruck verlieh: "Ich fühle mich zutiefst überzeugt, daß die politische Entschlossenheit, die die treibende Kraft hinter der Zusammenarbeit Europas in den Nachkriegsjahren ist, sich stark genug erweisen wird, die jetzigen Schwierigkeiten zu überwinden. Auf längere Sicht ist die Tendenz in Richtung europäischer Integration unaufhaltbar."

Herr Ministerpräsident Krag,
wir danken Ihnen dafür, daß Sie diese Entschlossenheit in sich tagen, daß Sie Ihr eigenes Land der Einheit der Völker zuführen und darüber hinaus sich mit Ihrer ganzen Person einsetzen für den Brückenschlag zwischen den Völkern. Diese Bewährung im Dienste am großen Gedanken hat das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachenveranlaßt, Ihnen durch einstimmigen Beschluß den Karlspreis 1966 zuzuerkennen. Wir sind glücklich darüber, daß wir Sie aus diesem Anlaß in den Mauern dieser Stadt, die seit vielen Jahrhunderten freundschaftliche Beziehungen zu Ihrem Lande unterhält, begrüßen dürfen. Sie treten damit ein in den illustren Kreis der Männer, denen ob ihrer hervorragenden Verdienste vor Ihnen die Ehre dieses Preises zuteil wurde. Wir haben das feste Zutrauen zu Ihnen, daß Sie treu zur Sache Europas stehen und als einer der Baumeister Europas in die Geschichte eingehen werden.