Rede von François Seydoux de Clausonne

Rede von François Seydoux de Clausonne

Mit meiner Wahl zum Träger des Karlspreises hat das Direktorium, dem seit 20 Jahren die Wahl des Preisträgers obliegt, mir eine große Ehre erwiesen; ich bin ihm dafür zutiefst dankbar.
Für eine so hohe Bestätigung verdanke ich viel der Freundschaft; ein solches Geständnis vermindert nicht den Wert der Ehrung, die mir zuteil wird; es erhöht vielmehr meinen Stolz, daß ich ein solches Gefühl erweckt habe. Wenn ich mich auf einer Liste stehen sehe, auf der unter anderem so berühmte Namen wie der Winston Churchills verzeichnet sind, wie sollte ich mich da nicht über die Bedeutung der seltenen Auszeichnung befragen, deren glücklicher Empfänger ich bin. Nahm ich nicht den Platz eines anderen ein, um irgendwie als dessen Vertreter zu erscheinen? Meine Genugtuung wäre deshalb keineswegs geringer: das Gegenteil wäre richtig.
Sie haben Frankreich ehren wollen, und das bewegt mich sehr. Sie haben auch den Diplomatenberuf geehrt, dem ich mein ganzes Leben lang treu geblieben bin. Welch überraschendes Zusammentreffen, das dazu angetan ist, die innere Bewegung zu vergrößern, die ich verspüre: in Berlin, der Stadt, in der ich geboren bin, habe ich am 20. April den Schlußpunkt hinter eine 42jährige Laufbahn gesetzt.
Vom Augenblick meiner Geburt an hat Deutschland mich mit beiden Armen fest gepackt in einem Winter, der nicht zu enden drohte: es sollte mich nicht mehr loslassen, als nach Jahren dichten und schrecklichen Nebels der Frühling wieder in den deutsch-französischen Beziehungen seinen Einzug halten sollte. Ich habe einige Monate im kaiserlichen Deutschland vor Kälte gezittert, zu einer Zeit, da um Deutschland und Frankreich Europa sich vollends in zwei rivalisierende Lager aufspaltete, die sich aufeinander stürzen sollten, ohne daß auf irgendeiner Seite das riesige Ausmaß der Opfer erahnt wurde, das Europa erleiden sollte, ebensowenig wie das Unrecht, das man ihm zuzufügen sich anschickte.
Die Zahl der Toten war so groß, die Erschütterung so heftig, daß man nach dem Konflikt Mut brauchte, um sich an das Werk der Aussöhnung zu machen. Mit Gustav Stresemann zusammen war Briand der Vorkämpfer eines erfolglosen Versuches. In Genf, wo ich dem damals 65jährigen berühmten Greis half, auf die Rednertribüne zu gelangen, um seine alle in den Bann schlagenden Reden zu halten, wie auch in Paris, wo ich im elterlichen Hause den idealtrunkenen Grafen Coudenhove-Kalergi kennenlernte, war ich von der europäischen Atmosphäre durchdrungen.
Ein entsetzlicher Sturm hatte beinahe alles weggerissen. Deutschland hörte jedoch nicht auf, mich in seinen Bann zu ziehen. Vor dem Zweiten Weltkrieg und während des Konfliktes war ich in Berlin und in Frankreich eng an der Entwicklung des Dramas beteiligt. Im gleichen Augenblick, in dem gewisse Leute Europa schändeten, wagten sie zu verkünden, daß Europa ihre höchste Sehnsucht sei. Wie wenn Europa sich mit der Herrschaft einer selbst jeder Freiheit beraubten Macht in Einklang bringen ließe! Die Lüge beherrschte alles. Meine Verzweiflung entsprach meiner Enttäuschung.
Nach Beendigung der Feindseligkeiten bin ich wiederum in Berlin. Es ist die Zeit der Luftbrücke: angesichts der entschlossenen Haltung der Bevölkerung der Stadt erwacht die Hoffnung wieder.
Am 9. Mai 1950 bin ich bei Robert Schuman. Angeregt von Jean Monnet, den ich ebenfalls bei meinem Vater getroffen hatte, setzt Schuman den Plan der Europäischen Kohle- und Stahlgemeinschaft in Gang, der die wärmste Zustimmung Konrad Adenauers und Alcide de Gasperis findet, und der sich dann in ein Vertragswerk umwandelt und eine natürliche Entwicklung und Ergänzung in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und im Euratom erleben sollte. Für Deutschland und Frankreich handelte es sich um ein entscheidendes Ereignis, das um so heilversprechender war, als auch Italien, Belgien, die Niederlande und Luxemburg, die alle Frankreich so am Herzen liegen, sich daran beteiligten.
Während dieser ganzen Nachkriegszeit häufen sich die internationalen Konferenzen in Moskau, London, Washington, Ottawa, Rom, Den Haag, auf den Bermudas: ich reise um die ganze Welt völlig von Deutschland in Anspruch genommen, über das man überall diskutiert, teils um sich vor ihm zu schützen oder später mit ihm zusammen wieder aufzubauen.
Nach drei Jahren voller Würze in Österreich werde ich in Bonn ernannt, um dort, was nicht wenig schmeichelhaft für mich war, Nachfolger Couve de Murvilles zu werden. Einen Monat später, am 14. September 1958, stehen sich in Colombey-les-deux-Eglises General de Gaulle und Bundeskanzler Adenauer gegenüber. Der eine verkörpert Frankreich, der andere repräsentiert Deutschland. Der Augenblick ist feierlich, und das Schicksal konnte nicht besser wählen, als diese beiden so großen Männer zusammenzuführen, die mit vollem Recht so stolz auf die von ihnen geleisteten Dienste waren, und die sich ihrer heute schon legendären Sendung voll bewußt waren. Konrad Adenauer sah dieser Begegnung nicht ohne Besorgnis entgegen. Doch schon beim ersten Händedruck heitert sich alles auf. Auf den Höhen des Gedankens und der Politik kommt es zur vollen Übereinstimmung. Jeder ist mit dem anderen und zweifellos auch mit sich selbst zufrieden: gemeinsam haben sie endgültig die Seite der deutsch-französischen Streitigkeiten umgeblättert. Als wir uns am Abend zu ihnen gesellen, machen Kanzler und General den Eindruck, als kennten sie sich schon seit langem. Ihre Beziehungen sollten bis zum Ende von der gleichen Hochachtung und dem gleichen Vertrauen getragen sein, und die Folgen sollten sich als gewaltig erweisen. Diejenigen Franzosen, die noch zögernd zu Werke gingen, richten sich nun danach, und die Deutschen danken dem ersten französischen Widerstandskämpfer dafür, daß er sich ihnen in einer Regung aufrichtiger Sympathie zuwandte.
Von Beginn meiner Botschafterzeit in Deutschland an brauchte ich mich aber nur von der Strömung tragen zu lassen, die ihre Quelle von hoher Stelle aus nahm und die beide Völker zueinander zog. Es schien - und dieser Drang hatte nicht erst bis zum Jahre 1958, um sich zu zeigen - es schien, als verspürten die beiden Völker das Bedürfnis, durch ihre Verständigung das Leid, das geschehen war. Wie viele deutsch-französische Vereinigungen entstanden, wie viele Verbindungen zwischen Bezirken, Städten, Universitäten, wie viele persönliche Bande! Ein grundlegend neuer Geist, der noch 25 Jahre vorher unvorstellbar war, beseelt die Jugend, die es nicht einmal mehr begreift, daß die so reiche Vergangenheit dieser beiden Völker durch so schreckliche Wunden hat besudelt werden können. Das gemeine Blei hatte sich in ein reines oder fast reines Gold verwandelt. ,,Sie sind niemals an uns verzweifelt", sagte mir kürzlich Willy Brandt in einer Äußerung, die ihm mindestens ebenso viel Ehre machte wie dem Adressaten; weil die Aufgabe mir so gewaltig und stolz zugleich erschien - das lassen Sie mich Ihnen offen gestehen - habe ich mich ihr in voller Hingabe gewidmet. War es nicht erregend, Frankreich den Deutschen zu erklären? Pausenlos habe ich Deutschland durcheilt.
Um Europa zu bauen, ist es aber nicht mit Deutschland und Frankreich getan. Wie sehr hätte Europa General de Gaulle bezaubert! Ende Juli 1960 setzte er in Rambouillet seine Ideen dem Kanzler Adenauer auseinander. Der Plan war besonders klar und einfach: man sollte von den Realitäten ausgehen, d.h. von den sechs Staaten, die schon in den bestehenden Gemeinschaften zusammengefaßt waren. Wie konnte man sie vernachlässigen, die Staaten mit ihren Traditionen, mit ihrer Individualität, mit ihren Zukunftsmöglichkeiten! Sie bildeten so viele Bausteine, so viele Kräfte, mit denen der General verbunden ist; mit ihrer Vereinigung, die mit Hilfe der Zeit immer enger werden würde, wäre das zu vollbringende Werk auf einen Felsen gegründet. Warum sollte man auf den Enttäuschungen bestehen, auf der Unzufriedenheit, auf den Streitigkeiten die sich in der Folge erhoben haben! Am 18. Juli 1961 scheint man dann in Bad Godesberg im Verlauf einer denkwürdigen Sitzung der sechs Staats- und Regierungschefs den Weg der politischen Einigung einzuschlagen. Es ist nur ein zaghafter Sonnenstrahl.
General de Gaulle wollte, daß das künftige Europa rißlos europäisch sei. Sein Entschluß führte ihn dazu, Positionen einzunehmen, die seinem Ideal entsprachen. Daher seine Festigkeit gegenüber den Vereinigten Staaten, die heute besser die Bedenken ihres gestrigen Gesprächspartners verstehen. Daher auch seine Haltung England gegenüber, das grundsätzlich fernzuhalten niemals sein Gedanke war. Ehe General de Gaulle Formeln zustimmte, die eine Hypothek für die Zukunft darstellten, hat er lieber seine Vorstellung von Europa unversehrt bewahrt.
Unter solchen Umständen haben es Frankreich und Deutschland für notwendig erachtet, sich noch stärker gegenseitig anzunähern. Seite an Seite beten der Kanzler und der General in der Kathedrale von Reims, der Stadt, die in so glücklicher Weise mit Aachen verbunden ist. Der General unternimmt einen wahren Triumphzug durch die Bundesrepublik. Am 22. Januar 1963 unterzeichnen sie den Freundschafts- und Kooperationsvertrag, der eine wesentliche Etappe in der Geschichte der beiden Völker darstellt.
Wenn ich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr bei Ihnen war, so beschäftigte ich mich trotzdem ständig weiter mit Deutschland, da ich berufen worden war, von französischer Seite aus im Rahmen dieses Vertrages den Platz einzunehmen, der kürzlich von deutscher Seite aus dem Manne übertragen wurde, der eine unvergleichliche Kenntnis Frankreichs besitzt, meinem guten Freund Carlo Schmid. Bald jedoch gab man mir zu verstehen, daß ich zum zweiten Male in Bonn ernannt werden könnte. Warum dorthin zurückkehren, sagten mir einige Leute? Ihnen stehen andere Möglichkeiten offen; verschmähen Sie sie nicht. Sie werden schließlich einen anderen Erdteil erforschen. Und was kann man im übrigen noch in einem Deutschland tun, das künftig für immer mit Frankreich ausgesöhnt ist? Wie wenn selbst in den besten Ehen man nicht fast täglich die Liebe seines Nächsten nicht erneut gewinnen müßte! Und soweit waren wir gewiß noch nicht. Mich erneut der Verständigung zwischen den beiden Nachbarvölkern zu widmen, zumal ich wohl wußte, in welchem Maße dies lebenswichtig für das Schicksal Europas war, das war eine Chance, der ich mich nicht zu entziehen gedachte. Der Einsatz lohnte sich für mich, mich bei denen, die mir schon einen so herzlichen Empfang bereitet hatten, zum Fürsprecher einer Politik zu machen, die sich ohne Rücksicht auf den Kontinent den Frieden durch Entspannung zum Ziel setzte. An Schwierigkeiten sollte es nicht mangeln: ich befleißigte mich leidenschaftlich und ohne mir Illusionen über meine Rolle zu machen, diese Hindernisse zu beseitigen.
Da gab es die, die uns letztlich, hauptsächlich im Sommer 1965, den Gemeinsamen Markt eingebracht haben. General de Gaulle hatte ihn nicht erfunden, aber man stand vor einer Realität, vor einem Experiment, das sich als richtig erwiesen hatte. Das beste war also, es fortzusetzen. Unter der Bedingung jedoch, daß in den vertraglich abgemachten Fristen die Vorschriften des Vertrags von Rom durchgeführt, die eine gemeinsame Agrarpolitik vorsehen. Frankreich, das noch 20 Jahre zuvor und seit langem eine Kolonialmacht und Anhängerin einer Schutzzollpolitik war, hatte eine vollständige Verwandlung erfahren. Stoisch paßte es sich einer selbst in voller Umwandlung begriffenen Welt an. Welcher Kühnheit hatte es bedurft, unsere Grenzen der Industrie unserer fünf Partner nicht mehr zu verschließen! Die Sonderstellung, die zu erreichen der Bundesrepublik gelungen war, und die ihr mit vollem Recht einstimmige Anerkennung einträgt, bildet für uns Mahnung und Ansporn zugleich. Es wäre nicht gerecht gewesen, wenn die von uns auf einem Gebiet gemachte Anstrengung von anderen nicht auf einem anderen Gebiet akzeptiert würde; ohne den Agrarmarkt wäre der Gemeinsame Markt ein unvollendetes und labiles Bauwerk: wer könnte ohne den Agrarmarkt Anspruch um das Bemühen um eine gemeinsame Politik erheben?
Ich schmeichle mir nicht damit, immer alle die überzeugt zu haben, an die ich mich wandte, ganz gleich, ob sie als Geschäftsleute oder Journalisten zu Hunderten in Vorträgen oder zu zehn oder zwanzig um einen Tisch versammelt waren, oder ob es sich um Gespräche unter vier Augen handelte. Aber von all diesen zahlreichen und verschiedenartigen Kontakten in Hamburg, München, Frankfurt, Saarbrücken, Düsseldorf, wohin ich mich sicherlich ohne zu übertreiben mindestens 50mal begeben habe, bewahre ich aufschlußreiche Erinnerungen. Man hat mir aufmerksam zugehört: man hat mir meine Offenheit nicht übelgenommen. Meine Zuhörer waren erpicht darauf, die Positionen und die Reaktionen Frankreichs zu begreifen: seinem Vertreter gegenüber habe ich mit großer Bewegung die Regungen der Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit zu verspüren geglaubt. Ein Zusammenwirken von Umständen, das ich als von der Vorsehung bestimmt zu bezeichnen nicht zögere, erlaubt es mir, an diesem strahlenden Vormittag jenen allen von diesem wunderbaren Saal aus, nur wenige Tage nach meinem Verlassen Deutschlands, meinen tiefempfundenen Dank auszusprechen. Wie viele Zeichen der Zuneigung sind mir gerade in den allerletzten Wochen in überreichem Maß zuteil geworden; allein der Takt verbietet mir, sie hier aufzuzählen.
Woraus wird das "Morgen" bestehen? Wird das heutige Europa der Sechs bald das Europa der Zehn oder ein noch größeres Europa sein, das sich über andere Länder erstreckt, die uns so nahestehen durch die Kultur, die Lebensweise, daß man es sich kaum vorstellen kann, daß sie nicht einen Teil unserer Gemeinschaft bilden? So glänzend eine solche Perspektive auch sein mag, sie würde uns immer noch nicht zufriedenstellen. Das Schauspiel, das unser Kontinent seit so vielen Jahren bietet, erfüllt uns mit tiefer Betrübnis. Begrüßen wir daher die Versuche all derer, die mit der höchsten Verantwortung ausgestattet sind und sich dafür einsetzen, die Entspannung zu fördern, die Trennung zu mildern, das Entstehen einer Versöhnung vorzubereiten, die der deutschen Nation das Tor zur Einheit öffnen würde.
In der dunklen Unsicherheit, in der wir uns befinden, auf einer Erde, die ständig dem Unglück und dem Krieg ausgeliefert ist, wollen wir uns hartnäckig an das Erreichte klammern. Ist das Ergebnis nicht glänzend, da die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft als die größte Handelsmacht des Erdballs erscheint. Es gibt wohl niemanden, der nicht wüßte, mit welchem Willen, zum Ziel zu gelangen, man daran arbeitet, dieses Werk zu vollenden, zu verstärken, zu erweitern. Wir alle wissen, mit welchem Aufflammen des Optimismus vor wenigen Monaten die Konferenz von Den Haag zu Ende gegangen ist. Um die wunderbare britische Nation zu überzeugen, um uns immer mehr in der Hochachtung des unentbehrlichsten unserer Freunde, unserer Verbündeten jenseits des Atlantiks, durchzusetzen, können wir nichts Besseres tun, als beharrlich weiterzuarbeiten und zum erfolgreichen Abschluß zu kommen. Unser Vertrauen ruht auf soliden Grundlagen. In kurzer Frist werden ehrgeizige Programme auf die Tagesordnung gesetzt. Jeder hat von sich aus dazu beigetragen, die Kommission von Brüssel genauso wie die Mitgliedstaaten. Wirtschaftsunion, Währungsunion, politische Zusammenarbeit - ein weiter Horizont hellt sich auf. Frankreich, das nicht der letzte in diesem Wettstreit ist, beschäftigt sich besonders mit den Hauptgebieten, der Versorgung Europas mit angereichertem Uranium, mit schon hochentwickelten Reaktoren, mit Datenverarbeitung; hängt nicht unsere Zukunft als Europäer davon ab?
Lassen wir uns von unserem Wege nicht abbringen. Stillstand heißt Rückgang. Da sind Deutschland und Frankreich, die sich aufeinanderstützen. Wenn überhaupt, dann ist dieses ein bemerkenswertes Bündnis. Man muß es stark genug machen, damit es über alle Stürme triumphieren kann, damit es von möglichen Störmanövern abschreckt. Es mag eine prophetische Vision gewesen sein, die darin bestand, bei der Unterzeichnung des Vertrages die beiden Länder so miteinander zu verschweißen, daß sie in kritischen Augenblicken sicher sind, Seite an Seite zu stehen. Hatte man ihnen nicht zur Genüge vorgeworfen, daß sie durch ihre Zwietracht 75 Jahre lang das Unglück Europas bedeutet hatten? Der vollständige Erfolg war nicht sofort möglich. Heißt es ein diplomatisches Geheimnis verraten, wenn man versichert, daß man in Paris wie in Bonn sich des Wertes der Union voll bewußt ist? Bande sind geknüpft, Gewohnheiten haben sich gebildet, eine modernere, direktere Diplomatie ist im Begriff, Platz zu greifen, wobei auf allen Stufen der politischen und der Verwaltungshierarchie Freundschaften entstehen.
Ich habe allzuviel von mir selbst und viel von Frankreich gesprochen. "Sie sind ein Patriot", haben kürzlich zu mir einige - und nicht die geringsten - Ihrer Landsleute gesagt, die selbst unbestreitbar europäische Tugenden vertreten, als sie an mich anläßlich meines Weggangs ein Grußwort richteten. Ich habe mich gefragt, was wohl die jungen Leute dazu sagten, wenn sie mich in dieser Weise gelobt hören. Ist der Patriotismus in ihren Augen überhaupt vereinbar mit dem Bild, das sie sich von Europa machen? Sie mögen sich keine Sorgen machen! Der Patriot, der hier vor Ihnen steht, ist ein ganz anderer als der von früher. Hätte ich ohne die Liebe zu Frankreich überhaupt das Recht gehabt, mich - so wie ich es getan habe - für das deutsche Leben, für die deutsche Seele zu begeistern? Könnte ich denn überhaupt morgen von Deutschland sprechen, es erklären, sein Unglück und seinen Wiederaufstieg, seine Gewissensbisse und seinen Liberalismus kommentieren, seine aufeinanderfolgenden Kanzler vorstellen, insbesondere den, der heute in diplomatischen Gesprächen von unerhörter Härte und die uns alle betreffen, sich bemüht, den Sinn des Menschlichen wieder einzuführen. Man muß sein Land lieben, um das Nachbarland zu ergründen, es zu verstehen, es zu erfühlen und es seinerseits zu lieben. Europa wird das Vaterland der Vaterlandsliebenden sein.
Mögen unsere Nachfahren verkünden, daß bei aller Verwirrung und Betrübnis, die diese, unsere Zeit, in der wir leben, oft zu beherrschen scheinen, auf unserem Kontinent aufgeklärt worden ist durch das ungewöhnliche Brodeln und Wallen von Ideen, aus dem Europa geboren ist. Daß dazu viel fester Wille, Hartnäckigkeit und Großmut notwendig gewesen ist. Und diese Tugenden wollen wir nicht für uns Europäer allein bewahren, denn wir sind deswegen nicht weniger Bürger der Welt, die empfindlich sind gegen deren Leid und deren Unglück. Darin liegt ein weiterer Grund, daß wir zur Einigung gelangen. Geeint, vereint, wessen wären wir dann nicht fähig?