Begründung des Direktoriums

Begründung des Direktoriums der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen an den Bundesminister der Finanzen Dr. Wolfgang Schäuble

In Würdigung seiner herausragenden Verdienste um die Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas und seiner Rolle als Ideengeber und wichtiger Akteur bei nahezu allen Integrationsfortschritten in den vergangenen drei Jahrzehnten und in Anerkennung seiner bedeutenden Beiträge zur Stabilisierung der Währungsunion und zur Vertiefung des Einigungsprozesses ehrt das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen im Jahre 2012 den Bundesminister der Finanzen Dr. Wolfgang Schäuble

„Einundzwanzig Jahre nach der friedlichen Vereinigung von Ost- und Westdeutschland und nach Wochen intensiver Debatten zu Europa […] lohnt es sich ganz besonders, noch einmal zurückzuschauen und sich die Bedeutung Europas für die zweite Chance Deutschlands vor Augen zu führen […] Die Tatsache, dass wir in einem einigen Deutschland als demokratischer und freiheitlicher Rechtsstaat, umgeben von befreundeten Nationen, in Wohlstand und Frieden leben dürfen, war für die meisten der Generationen vor uns unvorstellbar […] Ohne unsere Einbettung in die Europäische Union wäre die friedliche Wiedervereinigung Deutschlands unendlich schwieriger geworden – wenn nicht unmöglich. Wir erinnern uns an die Bedenken einzelner unserer Freunde und Partner, denen mit dem Hinweis auf die tiefe Verwurzelung Deutschlands im vereinten Europa begegnet werden konnte. Wir wären schlecht beraten, wenn wir heute meinten, dass sich das überholt hätte. Vielmehr gilt nach wie vor, dass die Zukunft und der Erfolg des wiedervereinigten Deutschlands untrennbar mit seiner Integration in europäische Institutionen und deren zielgerichteter Fortentwicklung verbunden sind […] Es ist in den letzten Monaten klar geworden: Die Antwort auf die Krise kann nur ein Mehr an Europa bedeuten.“

Wenn Wolfgang Schäuble über Europa spricht, dann sind es beileibe nicht nur fiskal- und währungspolitische Probleme, die den Bundesfinanzminister umtreiben, viel häufiger sind es ganz grundsätzliche Fragen, die er in Erinnerung ruft; denn Europa ist für ihn Herzensangelegenheit und innere Überzeugung. Und wenn selbst scharfzüngige Kritiker wie der Philosoph Jürgen Habermas in dem dienstältesten Mitglied des Deutschen Bundestages „den letzten profilierten Europäer im Kabinett“ sehen, dann klingt hierbei auch ein hoher Respekt vor der Lebensleistung des Badeners an.

Der Euro steht für den Willen Europas, seine Einigung dauerhaft zu festigen und zu vertiefen. Er steht für die Überzeugung, dass Europa den Herausforderungen in einer globalisierten Welt nur gemeinsam gewachsen ist. Deshalb ist die Zukunft des Euro untrennbar verbunden mit der Überzeugungskraft der Idee der europäischen Einigung. Umso wichtiger sind die Hilfs- und Stabilisierungsmaßnahmen, die seit Anfang 2009 sukzessive ins Werk gesetzt wurden; umso wichtiger sind vor allem aber die Konsequenzen, die aus der aktuellen Krise zu ziehen sind. Europa steht am Scheideweg – hin zur Politischen Union oder hin zur langfristigen Bedeutungslosigkeit! Wenn heute hochnervöse Finanzmärkte testen, ob und inwieweit die europäische Konstruktion einer Währungsunion ohne eine Politische Union mit eng abgestimmten Haushalts-, Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitiken funktionsfähig ist, dann wird hierdurch deutlich, dass der Vergemeinschaftung der Geldpolitik weitere Schritte folgen müssen, dass auf Dauer nur ein Mehr an Europa Stabilität, Wachstum und Sicherheit verspricht.

Die Konsolidierung der Staatsfinanzen in der gesamten EU, die Einführung der Schuldenbremse, die Stärkung der Sanktionsrechte bei Nichteinhaltung der Kriterien der gemeinsamen Währung – all dies sind richtige Schritte. Darüber hinaus brauchen wir aber eine breit angelegte Debatte über die Vertiefung der europäischen Einigung, die weit über die Schuldendiskussion und den Euro hinausgeht. „Denn die Krise […] zeigt erstens, dass die europäische Einigung die richtige Antwort auf das 21. Jahrhundert ist. Zweitens, dass wir gar nicht mehr vollständig souverän sind, und zwar seit Langem nicht mehr, denn die Ereignisse in anderen Ländern, anderen Märkten, anderen Systemen beeinflussen unser Leben direkt […] Die europäische Einigung trägt der Tatsache Rechnung, dass der Nationalstaat das, was er seit dem 17. Jahrhundert geleistet hat, seit Mitte des 20. Jahrhunderts nicht mehr leisten kann. Was wir daher im 21. Jahrhundert brauchen, ist eine neue Form der Regierungszusammenarbeit.“ Der dies gesagt hat, zählt zu denen, die in den vergangenen 30 Jahren entscheidend zum Aufbau der Europäischen Union beigetragen haben, und er zählt zu denen, die heute maßgebliche Verantwortung für die Stabilität Europas tragen:

Wolfgang Schäuble wurde am 18. September 1942 in Freiburg im Breisgau geboren. Nach dem Abitur 1961 studierte er Rechts- und Wirtschaftswissenschaften in Freiburg und Hamburg. Nach dem Ersten juristischen Staatsexamen (1966), einem Gerichtsreferendariat und dem Assessorexamen (1970) wurde er 1971 promoviert und trat in die Steuerverwaltung des Landes Baden-Württemberg ein.

1972 wurde er erstmals in den Deutschen Bundestag gewählt, dem er seither – jeweils als direkt gewählter Abgeordneter – ununterbrochen angehört. Spätestens mit seiner Wahl zum Parlamentarischen Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion 1981 begann eine langjährige sehr intensive Zusammenarbeit mit Helmut Kohl, der ihn zwei Jahre nach dem Regierungswechsel im November 1984 zum Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramtes berief.

Im April 1989 wechselte Schäuble ins Bundesinnenministerium, wo ihm im darauffolgenden Jahr als Verhandlungsführer der Bundesregierung gemeinsam mit Günther Krause, dem damaligen Staatssekretär des DDR-Ministerpräsidenten de Maizière, die Federführung bei der Ausgestaltung des deutsch-deutschen Einigungsvertrags oblag. Schäuble und Krause unterzeichneten das mehrere hundert Seiten starke Vertragswerk am 31. August 1990. Rückblickend betont Schäuble: „Zu erwarten war eine solche glückliche Entwicklung nicht unbedingt – angesichts der Teilung Europas in sich feindlich gegenüberstehende und militärisch hochgerüstete Blöcke, und angesichts der blutigen Gewalt, mit der in Ost-Berlin am 17. Juni 1953, in Ungarn 1956, in der Tschechoslowakei 1968 und in Polen 1981 das Streben nach Freiheit niedergeschlagen wurde. Nur vor dem Szenario dieser Ausgangslage kann man die Bedeutung der Ereignisse von 1989/90 wirklich ermessen: von den Montagsdemonstrationen in der DDR bis zum Vollzug der staatlichen Einheit am 3. Oktober 1990. Und das alles ging nicht ungeordnet, sondern auf der Grundlage von juristisch wasserfesten Gesetzen und Verträgen und in einem Dialog auf Augenhöhe vonstatten. Die damals getroffenen Entscheidungen haben sich als richtig erwiesen. Das wiedervereinigte Deutschland ist normal im besten Sinne des Wortes geworden.“

Nur wenige Tage nach dem Vollzug der Einheit wurde Schäuble bei einem Attentat am 12. Oktober 1990 schwer verletzt und ist seither auf den Rollstuhl angewiesen. Indes kehrte er mit eiserner Disziplin schon sechs Wochen später in die Öffentlichkeit zurück. Nach der ersten gesamtdeutschen Wahl zunächst im Amt des Innenministers bestätigt, übernahm er im November 1991 den Vorsitz der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, die er neben dem Kanzleramt zum „stärksten Machtzentrum im Regierungslager“ (Süddeutsche Zeitung, 28.3.1994) ausbaute, vor allem aber auch konzeptionell neu aufstellte. So legte Schäuble selbst (gemeinsam mit dem Unionsabgeordneten Karl Lamers) im September 1994 ein Grundsatzpapier mit Überlegungen zur europäischen Politik vor, das Anstöße lieferte, die sich bis heute hin in der Debatte um die Zukunft Europas widerspiegeln. So forderte er zur institutionellen Weiterentwicklung der EU: „Ziel muss die Stärkung der Handlungsfähigkeit der EU und ihre demokratische und föderale Ausgestaltung sein. Dazu ist die Beantwortung der grundlegenden Verfassungs-Frage – wer macht was? – in einem verfassungsähnlichen Dokument notwendig, das die Kompetenzen von Europäischer Union, Nationalstaaten und Regionen in klarer Sprache abgrenzt und die ideellen Grundlagen der Union definiert […] Alle vorhandenen Institutionen, der Rat, die Kommission, die Präsidentschaft und das Europaparlament, müssen reformiert werden […] Neben der Effizienzsteigerung muss die Demokratisierung als leitendes Prinzip für alle Reformen Anerkennung finden.“ Und wenn Schäuble bereits damals die Notwendigkeit einer im Ergebnis „gemeinsamen, gleichgerichteten Politik“ in den Bereichen Geld-, Fiskal-, Haushalts-, Wirtschafts- und Sozialpolitik für die Währungsunion anmahnte, dann steht die EU heute dringender denn je vor dieser Herausforderung.

Nach dem Verlust der Regierungsmehrheit im Herbst 1998 übernahm Schäuble im November desselben Jahres zusätzlich zum Fraktionsvorsitz auch das Amt des Bundesvorsitzenden der CDU. Im Zuge der Ende 1999 bekannt gewordenen Spendenaffäre gab er indes im Februar 2000 seinen Rückzug von beiden Ämtern bekannt, um „einen Neuanfang einzuleiten und möglich zu machen“. Neben seinem Bundestagsmandat konzentrierte er sich in der Folge vor allem auf seine Arbeit als Leiter einer Arbeitsgruppe zur Kompetenzverteilung zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten, in der er sich in erster Linie für mehr EU-Befugnisse in der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik einsetzte.

Im Oktober 2002 zog er als Stellvertreter von Angela Merkel wieder in den Geschäftsführenden Vorstand der Unionsfraktion ein. Mit seiner erneuten Berufung zum Bundesinnenminister in der Großen Koalition kehrte er 2005 endgültig in die erste Reihe der Bundespolitik zurück und setzte mit der Einrichtung der Islamkonferenz ein weithin beachtetes Signal der Integration und des interkulturellen Dialogs. Vier Jahre später berief die Bundeskanzlerin ihren Vorgänger im Amt des Parteivorsitzenden zum Bundesfinanzminister.

Wolfgang Schäuble zählt auf nationaler wie auch auf europäischer Ebene zu den wenigen noch aktiven Politikern, die entscheidende Integrationsfortschritte schon ab den 1980er Jahren begleitet haben, so 1986 die Einheitliche Europäische Akte, die zum Binnenmarkt führte, 1990 den Einigungsvertrag, mit dem die Teilung Deutschlands und Europas überwunden wurde, 1992 den Vertrag von Maastricht, mit dem die Währungsunion geschaffen wurde und die Europäische Union die Europäischen Gemeinschaften ablöste, 1996 den Stabilitäts- und Wachstumspakt, 1997 den Vertrag von Amsterdam bis hin zum Lissabonner Vertrag von 2007. Als Mitglied der Regierung bzw. als Vorsitzender der Mehrheitsfraktion im Bundestag hat Schäuble all diese Schritte in verantwortlicher Position begleitet und teilweise maßgeblich mitgeprägt.

So war es wenig überraschend, dass die Bundeskanzlerin 2009 den erfahrensten Unionspolitiker mit der Leitung des Finanzministeriums, der Schlüsselfunktion zur Stabilisierung der gemeinsamen Währung, betraute. Alle seither verabredeten Maßnahmen stehen unter wesentlicher Mitverantwortung Schäubles, so auf nationaler Ebene beispielsweise das Verbot ungedeckter Leerverkäufe und das Bankenrestrukturierungsgesetz und auf europäischer Ebene z.B. die Griechenlandhilfe, die Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes, der Euro-Plus-Pakt („Schuldenbremse“ u.a.), der Europäische „Rettungsschirm“ (ESFS/EFSM), die Rekapitalisierung der Banken und der Europäische Stabilisierungsmechanismus (ESM).

Jenseits der verschiedensten Einzelmaßnahmen der Krisenhilfe und -prävention tritt Schäuble indes seit langem dafür ein, strukturelle und institutionelle Reformen auf den Weg zu bringen und umzusetzen: „Wir bauen an einer neuen institutionellen Architektur für die Euro-Zone, die mehr Europa und mehr Stabilität bedeutet […] Bislang gibt es in der Euro-Zone nur eine gemeinsame Geld- und keine Finanzpolitik. Das ist das Problem, und das müssen wir Schritt für Schritt ändern. Wir müssen auf europäischer Ebene zu mehr Verbindlichkeit und Durchsetzbarkeit kommen.“

Deutschland und Frankreich sieht der zeitlebens im badisch-elsässischen Grenzgebiet verwurzelte Schäuble dabei in einer besonderen Verantwortung: „Dass die europäische Einigung gelingt, liegt im existentiellen Interesse der Deutschen. Was gut ist für Europa, ist gut für Deutschland. Europa kann nicht nach dem Hegemonialprinzip gebaut werden […] Von uns als größtem Mitgliedstaat wird aber regelmäßig erwartet, dass wir im engen Schulterschluss mit Frankreich eine Führungsfunktion übernehmen. Denn nur wenn Deutschland und Frankreich an einem Strang ziehen, können oft schwierige Fragen gelöst werden.“

Hierzu muss Europa seiner Meinung nach „weiter bereit sein, sich zu bewegen, sich institutionell zu reformieren, mit einer Stimme zu sprechen […] Die Antwort auf die globalen Herausforderungen lautet nach meiner Überzeugung: mehr Europa“. „Es wird oft gefragt: Was heißt das denn für die Jungen? Meine Antwort auf die Frage, was dies alles für die Jungen heißt, ist für mich jedenfalls klar: Ohne ein gelingendes Europa, das sich seiner Verantwortung stellt in dieser Welt voller aufregender Veränderungen, voller großer Herausforderungen, aber auch voller faszinierender Chancen, sind unsere Chancen in dieser Welt gering. Ein gelingendes Europa ist die beste Vorsorge, die wir für eine gute Zukunft leisten können.“

Mit Bundesfinanzminister Dr. Wolfgang Schäuble ehrt das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen im Jahre 2012 einen großen Europäer, der sich historische Verdienste um die Überwindung der deutschen und europäischen Teilung erworben hat, der an allen wichtigen Integrationsfortschritten der zurückliegenden drei Jahrzehnte beteiligt war und der auch und gerade in Zeiten der Krise ein bedeutender Impulsgeber für ein Fortschreiten der Einigung hin zur Politischen Union ist.