Rede von Richard Nikolaus Graf Coudehove-Kalergi

Rede von Richard Nikolaus Graf Coudehove-Kalergi

Wir haben uns hier zusammengefunden im Namen des europäischen Kaisers Karls des Großen, in der altehrwürdigen Hauptstadt seines gewaltigen Reiches, das Deutschland, Frankreich und Italien umschloß.

Ihnen, Herr Oberbürgermeister, der Stadt Aachen und dem Preisrichtercollegium spreche ich meinen bewegten Dank aus, daß Sie mir für mein Lebenswerk, das ich gemeinsam mit meiner lieben Frau dem europäischen Einigungsgedanken gewidmet habe, den ersten Karlspreis der Stadt Aachen zuerkannt haben.

Es war eine kühne Initiative Ihrer Stadt, durch Stiftung dieses Preises eine Brücke über elf Jahrhunderte zu schlagen, von der großartigen Tradition des Frankenreiches zur größten Hoffnung unserer Tage: den Vereinigten Staaten von Europa. Zwischen diesen beiden Brückenköpfen fließt ein Strom von Blut und Tränen. Der elfhundertjährige deutsch-französische Krieg, der die Schöpfung Karls des Großen vernichten sollte, hat als Bruderkrieg zwischen seinen Enkeln mit der Schlacht bei Fontenay begonnen - und als Bruderkrieg hat er fortgetobt durch die Jahrhunderte.

Unserer Generation bleibt es vorbehalten, dieser Kette von Kriegen, dieser Erbfeindschaft, für immer ein Ende zu setzen; den unglückseligen Teilungsvertrag von Verdun des Jahres 843, der das europäische Kaiserreich zerrissen hat in eine deutsche, eine französische und eine italienische Nation, von Grund auf zu revidieren und die Einheit des Abendlandes im Geiste des 20. Jahrhunderts zu erneuern.

Der Europäische Rat in Straßburg, die Frucht der Paneuropa-Bewegung, ist der erste Schritt zu diesem großen Ziel. Aber der Weg zu einem einigen Europa, von Island bis zur Türkei und darüber hinaus von Finnland Portugal, ist weit. Jahre werden vergehen, ehe wir es erreichen. Um so mehr müssen wir unsere besten Kräfte in den Dienst der Straßburger Organisation stellen, auf daß eines Tages alle Völker Europas sich zusammenschließen.

Heute ist es nicht möglich, sich in Straßburg auf ein radikales Programm zu einigen, weil die Mehrzahl der dort vertretenen Regierungen die Idee eines europäischen Bundesstaates ablehnt und Europa organisieren will als losen Staatenbund souveräner Völker. Dies ist vor allem der Standpunkt unserer englischen Freunde, die nicht in der Lage sind, sich enger an ihre kontinentalen Nachbarn zu binden als an ihre überseeischen Dominions. Indessen drängt die Mehrheit der in Straßburg versammelten Parlamentarier, unter französisch-italienischer Führung, auf einen Bundesstaat, unter einer Bundesverfassung und einer Bundesregierung. Sie sind sich bewußt, daß diese Lösung allein den Frieden sichern kann, die Freiheit und den Wohlstand der europäischen Völker.

Die Erkenntnis hat sich durchgesetzt, daß nur eine Föderation der deutsch-französischen Erbfeindschaft ein Ende setzen kann. Denn es ist selbstverständlich, daß das deutsche Volk niemals freiwillig auf seinen Gleichberechtigungsanspruch verzichten kann; und ebenso natürlich ist es, daß, nach den bitteren Erfahrungen der letzten Jahrzehnte, das französische Volk sich nicht sicher fühlen kann an der Seite eines souveränen und gerüsteten Deutschland.

Es gibt nur eine einzige Formel, die Frankreichs Sicherheit mit Deutschlands Gleichberechtigung verbindet: ein föderativer Zusammenschluß der beiden Staaten, mit gemeinsamer Außen- und Rüstungspolitik, gemeinsamer Wirtschaftspolitik und gemeinsamer Währung. Der jüngste Vorschlag Robert Schumans, die deutsch-französische Produktion zusammenzufassen, bildet einen entscheidenden Schritt in dieser Richtung.

Die europäischen Randstaaten sind nicht bereit, ein föderalistisches Programm anzunehmen. Der europäische Rahmen ist zu weit gespannt, um diese deutsch-französische Forderung zu erfüllen. Darum müssen die europäischen Kernvölker mit der Föderation beginnen.

Deutschland und Frankreich können nicht länger warten. In zwei Jahren soll der Marshall-Plan enden und eine katastrophale Wirtschaftskrise droht. Was heute in China geschah, kann sich morgen in Europa wiederholen. Die Zeit arbeitet gegen uns und jeder verlorene Tag bedeutet eine versäumte Gelegenheit.

In dieser Erkenntnis beginnt Europa regionale Zusammenschlüsse vorzubereiten. Es ist leichter, sechs Staaten auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, als neunzehn. Die wichtigste dieser geplanten Staatsgruppen sieht den wirtschaftlichen Zusammenschluß Frankreichs, Italiens und der Benelux-Staaten vor; aber alle Sachverständigen sind sich darüber klar, daß diese Gruppe ohne Deutschland nicht lebensfähig ist. Zunächst erhielt diese Gruppe den Namen "Fritalux", der bald wegen seiner Lächerlichkeit fallen gelassen wurde und durch den neuen Namen "Finebel" ersetzt wurde. Aber auch dieser Name wird bald abgeändert werden müssen, um die Teilnahme Deutschlands durch Einschiebung eines A zum Ausdruck zu bringen. Europa sollte doch endlich mit dem Unfug brechen, durch Aneinanderreihung von Anfangsbuchstaben künstliche und groteske Namen zu erfinden! Es wäre würdiger, die neue Staatengruppe, die von der Elbe bis zu den Pyrenäen reicht, mit Europas größter Tradition zu verbinden und ihr den Namen zu geben: "Union Charlemagne".

Denn die jüngsten Erfahrungen haben gezeigt, daß Wirtschaftsunionen politisch unterbaut werden müssen um lebensfähig zu sein. Die Union Charlemagne soll darum nicht nur als Wirtschaftsunion errichtet werden, sondern als ein Sechs-Staaten-Bund: Deutschland, Frankreich. Italien, Belgien, Niederlande und Luxemburg. Es handelt sich also um nicht weniger als um die Erneuerung des Karolinger-Reiches auf demokratischer, föderalistischer und sozialer Grundlage.
Diesem großen Plan, der sofort das Antlitz Europas und der Welt verwandeln könnte, steht ein einziges Wort entgegen: das Wort Hegemonie. Die französischen Gegner der Kontinentalpolitik warnen vor einer deutschen - die deutschen vor einer französischen Hegemonie.Diese Furcht ist begreiflich, aber unbegründet. Denn Hegemonien gründen entweder auf militärische Übermacht oder auf parlamentarische Überzahl. Es gibt kein besseres Mittel, dem militärischen Angriff eines Nachbarn vorzubeugen als eine Föderation, mit einer gemeinsamen Armee. Und für eine Majorisierung des Bundesparlaments dieser sechs Staaten durch eine der föderierten Nationen fehlen die zahlenmäßigen Voraussetzungen. Außerdem hat mit dem Zweiten Weltkrieg ein neues Kapitel europäischer Geschichte begonnen, das die alten nationalen Gegensätze durch neue ideologische ersetzt; ebenso wie im Dreißigjährigen Krieg das Zeitalter der Religionskriege abgelöst wurde durch nationale Kämpfe. Thorez steht seinem italienischen Genossen Togliatti ungleich näher als seinem Landsmann Bidault - und dieser versteht sich sicherlich besser mit Adenauer als mit den französischen Kommunisten.

In einem Bundesparlament würde die Welt mit Staunen erleben, wie sofort die nationalen Fronten wie Kartenhäuser zusammenfallen und abgelöst würden durch ideologische Parteien, die quer durch die nationalen Gruppen schneiden. Eine gemeinsame kommunistische Partei würde sich bilden, eine christliche, eine sozialdemokratische und eine liberale. Die europäischen Gewerkschaften würden sich ebenso zusammenfinden wie die europäischen Industriezweige und die europäischen Agrarier. Von der Bildung nationaler Blocks wäre nicht mehr die Rede und ebensowenig von nationaler Hegemonie. Wer dies bezweifelt, braucht nur eine Studienreise nach der Schweiz zu unternehmen. Dort leben, unter einer vorbildlichen Bundesverfassung und Bundesregierung, Europäer deutscher, französischer und italienischer Zunge in ungestörtem Frieden und beispiellosem Wohlstand. Niemand kommt auf den Gedanken einer nationalen Hegemonie - obgleich die deutschsprechende Bevölkerung der Schweiz die absolute Mehrheit bildet.

Wer in Europa ernstlich die Gefahr einer Hegemonie fürchtet, sollte nicht auf die Gespenster Napoleons und Hitlers zurückblicken, deren Versuche nationale Hegemonien zu errichten, sich als unmöglich erwiesen haben; sondern eher an Stalin denken, dessen Reich mehr Menschen umfaßt als Deutschland, Frankreich und Italien zusammen und der Europa mit einer sehr realen Hegemonie bedroht, wenn es sich nicht einigt.

Diese gemeinsame Sorge um Europas Zukunft hat in den letzten Wochen einige der weitblickendsten Staatsmänner bestimmt für die Charlemagne-Idee einzutreten - Patrioten wie Konrad Adenauer und Charles de Gaulle, die sich durch das Schlagwort der Hegemonie nicht schrecken lassen. Italien, mit seiner großartigen europäischen Tradition, versöhnt mit Frankreich und mit Deutschland, ist bereit, an jedem Frieden mitzuwirken. Charlemagne muß daher mit der deutsch-französischen Versöhnung beginnen.

Die Zeit ist gekommen, den Kriegszustand zwischen Deutschland und Frankreich zu beenden, nicht durch einen Friedensvertrag, der nur zu neuen Protesten und Revisionsbestrebungen führen müßte, sondern durch eine Bundesverfassung, die das deutsch-französische Verhältnis für die Zukunft auf Gesetze gründet statt auf Verträge. In diesem Bund werden alle schwebenden Fragen, wie das Schicksal der Ruhr und der Saar, freundschaftliche Lösungen im gemeinsamen Interesse finden.

Die neuen Verfassungen Deutschlands, Frankreichs und Italiens haben den Charlemagne-Bund bereits vorbereitet durch Gesetze, die eine Übertragung von Souveränitätsrechten auf übernationale Instanzen vorsehen. Es bedarf nur parlamentarischer Mehrheiten in Bonn, Paris und Rom um sofort mit der Gründung des neuen Bundes zu beginnen. Das geeignetste und rascheste Mittel wäre die Einberufung einer Konstituante durch allgemeine Volkswahlen zur Ausarbeitung der Bundesverfassung.

Von entscheidender Bedeutung für das Zustandekommen Charlemagnes wird die Stellungnahme Amerikas und Englands sein. Ich komme soeben aus Amerika und kann Sie versichern, daß die Amerikaner glücklich wären, einen starken und mächtigen Verbündeten auf dem europäischen Kontinent zu besitzen, der sie der Sorge enthebt, immer wieder die Blüte ihrer Jugend auf europäischen Schlachtfeldern verbluten zu sehen. Und England? War es nicht seine traditionelle Politik seit Jahrhunderten, die Einigung des Kontinents zu verhindern, aus Furcht, der geeinte Kontinent könnte sich gegen Britannien wenden? Erst jetzt mit der Unterzeichnung des Atlantikpaktes, der England, Amerika und Europa in ein gemeinsames Verteidigungssystem wandelt, ist diese Sorge gegenstandslos geworden. Im Gegenteil: England hat jedes Interesse daran, daß an den gegenüberliegenden Küsten ein starker Verbündeter wacht, der einen eventuellen feindlichen Vormarsch nach Calais aufhält. Die Verwirklichung des Charlemagne-Bundes ist darum heute ebenso im englischen Interesse wie im amerikanischen. Die Atlantische Union würde so zu einem Dreierbund werden, mit dem Britischen Reich als Brücke zwischen Amerika und Europa.

Die Erneuerung des Karolinger-Reiches im Geiste des Zwanzigsten Jahrhunderts wäre ein entscheidender Schritt vorwärts zur Einigung Europas. Ein neues Weltreich würde entstehen, dessen Bevölkerung größer wäre als die Vereinigten Staaten von Amerika und dessen Territorium, von der Ostsee bis Katanga, nur der Sowjetunion an Größe nachstehen würde. Mit einem gewaltigen inneren Markt von 200 Millionen Menschen und fast unerschöpflichen Rohstoffreserven, könnte es binnen kurzem eine Wirtschaftsblüte schaffen, wie sie Europa nie gekannt hat. Militärisch wäre es unangreifbar und könnte seinen Völkern eine lange Friedensperiode sichern. Für Osteuropa wäre es ein Magnet, der erst Ostdeutschland in seinen Bann ziehen würde, und dann die europäischen Oststaaten.

Zu diesem entscheidenden Schritt aus einer tragischen Vergangenheit in eine glänzende Zukunft bedarf es nur der Entschlossenheit und Initiative der Führer und Völker Deutschlands, Frankreichs, Italiens und der Benelux-Staaten. Von ihnen hängt es ab, ob Europa in Wolken von Atombomben versinkt - oder ob es aus den Flammen des letzten Weltkrieges wie ein junger Phönix in neuer Herrlichkeit hervorgeht. Darum appelliere ich an alle, die guten Willens sind, eine Bewegung ins Leben zu rufen zur totalen deutsch-französischen Versöhnung durch Erneuerung des Reiches Karls des Großen als Bund freier Völker. Diese Charlemagne-Bewegung soll heute von Aachen ihren Ausgang nehmen, im Zeichen jenes deutsch-französischen Kaisers, um Europa aus dem Schlachtfeld periodischer Weltkriege zu verwandeln in ein friedliches und blühendes Weltreich freier Menschen!
Sursum corda!
Empor die Herzen!

Foto Richard Nikolaus Graf Coudenhove-Kalergi

Richard Nikolaus Graf Coudenhove-Kalergi