Rede von Oberbürgermeister Marcel Philipp

Rede von Oberbürgermeister Marcel Philipp

Heiliger Vater,
verehrte Festgäste,

der Internationale Karlspreis zu Aachen hat in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder als Plattform für Impulse gedient, die die Einigung Europas befördern sollten. Die Verleihungen waren Ermutigung in krisenhaften Zeiten europäischer Politik, und davon gab es viele. Heute aber scheint die Lage besonders schwierig zu sein. Das Wort „Europa“ wird fast nur noch im Zusammenhang mit dem Wort „Krise“ genannt. Wie steht es um die Vertiefung der Einheit in Vielfalt? Oder geht es längst in die umgekehrte Richtung? Zerbricht Europa an nationalen Egoismen in Fragen der Migration, der Sicherheit und der Werte?

In tiefer Sorge um den Zusammenhalt Europas kommen wir deshalb heute hierher, in die Sala Regia des Apostolischen Palastes im Vatikan. Wir, die Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises, viele Bürgerinnen und Bürger der Stadt Aachen, bedeutende Ehrengäste und überzeugte Europäer, sind dankbar, hier ein Zeichen setzen zu können für die moralischen Grundlagen Europas, für die menschlichen Werte, für einen Kontinent, in dem Vertrauen, Respekt und Barmherzigkeit nicht verloren gehen dürfen.

Ich begrüße Sie, Heiliger Vater, im Namen aller Festgäste auf das Herzlichste und danke Ihnen, dass wir uns hier versammeln dürfen zur Verleihung des Internationalen Karlspreises 2016.

Zu Ehren des designierten Preisträgers heiße ich die Spitzen der Europäischen Union und früheren Karlspreisträger herzlich willkommen,

den Präsidenten des Europäischen Parlaments, Herrn Martin Schulz,
den Präsidenten des Europäischen Rates, Herrn Donald Tusk, und
den Präsidenten der Europäischen Kommission, Herrn Jean-Claude Juncker.

Wir freuen uns sehr über die Anwesenheit des Königs von Spanien, Seiner Majestät Felipe VI., und Seiner Königlichen Hoheit, Großherzog Henri von Luxemburg, sowie der Staatspräsidentin der Republik Litauen, Frau Dalia Grybauskaitė.

Ich freue mich besonders, eine Persönlichkeit begrüßen zu können, die in den vergangenen Monaten einmal mehr trotz vielfacher Kritik überaus beharrlich für ein gemeinschaftliches Vorgehen in Europa gestritten hat: ein herzliches Willkommen der Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, Frau Angela Merkel.

Unser herzlicher Gruß gilt dem Ministerpräsidenten der Republik Italien, Herrn Matteo Renzi.

Ein besonderer Gruß gilt weiteren anwesenden Karlspreisträgern vergangener Jahre sowie Mitgliedern verschiedener Parlamentspräsidien und Regierungsinstitutionen, allen Abgeordneten des Europäischen Parlaments, des Deutschen Bundestages und des Landtages Nordrhein-Westfalen, den Vertretern des Diplomatischen und Konsularischen Korps, den Vertretern der Kirchen und Religionsgemeinschaften, den Vertretern zahlreicher Institutionen und den mitgereisten Bürgerinnen und Bürgern aus Aachen.

Und bitte erlauben Sie mir, einen besonderen Gruß an diejenigen zu richten, die jetzt im Aachener Krönungssaal die Übertragung verfolgen: Heute besteht ein enges Band zwischen der Kaiserpfalz Karls des Großen und dem Vatikan. Ich freue mich, dass Sie auf diese Weise teilhaben an einer für uns alle außergewöhnlichen Karlspreisverleihung, seien Sie uns herzlich willkommen.

Frieden und Zusammenhalt in Europa, das ist die Jahrhundertaufgabe, um die sich so viele nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs verdient gemacht haben. Einige dieser Persönlichkeiten konnten die Bürgerinnen und Bürger der Stadt Aachen als Träger des Internationalen Karlspreises feiern und zugleich ermuntern, auf diesem Weg standhaft zu bleiben.

Der Erfolg des europäischen Einigungsweges ist beachtlich: 70 Jahre mit Demokratie und ohne Krieg haben uns stark gemacht. Für gemeinsame Aufgaben sind gemeinsame Strukturen gewachsen, die wirtschaftliche Stärke und der hohe Lebensstandard in weiten Teilen des Kontinents wirken anziehend weit über die Grenzen Europas hinaus. Und doch empfinden wir heute Hilflosigkeit. Die großen Leitlinien der europäischen Entwicklung scheinen in der konkreten Umsetzung so kompliziert zu werden, dass manchen der Weg einer Renationalisierung leichter und damit attraktiver erscheint.

Hier in Rom wurde 1957 mit den Römischen Verträgen ein bedeutender Meilenstein der Europäischen Einigung gesetzt. Auch zu dieser Zeit wurde bereits von großen Krisen gesprochen, als die Bemühungen gescheitert waren, zu einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft zu kommen. Damit war auch der Weg zur damals angestrebten Europäischen Politischen Gemeinschaft versperrt. Diese Krise hat aber dann den Fokus auf die wirtschaftliche Zusammenarbeit gelenkt und letztlich einen der wichtigsten Schritte zur Einheit Europas, zunächst der ersten sechs Länder, hervorgebracht. Die Krise war also Anlass sich selber zu finden. Und das war möglich, obwohl Großbritannien auf halbem Weg aus den Verhandlungen ausgestiegen war.

Was dann im Palazzo Senatorio unterzeichnet wurde, war nicht weniger als die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und zusätzlich die Gründung des EURATOM-Verbundes und der Vertrag über gemeinsame Organe für die Europäischen Gemeinschaften.

Die wirtschaftliche Zusammenarbeit und die Etablierung gemeinsamer Strukturen sind sicher auch heute noch von entscheidender Bedeutung. Hinzu kommen die Fragen einer gemeinsamen Haltung und Hilfe in globalen Krisenherden und bei der Migration. Lösungen für derartige Fragen benötigen aber ein Fundament, das heute nicht mehr vollständig vorhanden ist. Dieses Fundament ist das gemeinsame Bewusstsein für die europäischen Werte und für die Lehren aus der Geschichte eines über Jahrhunderte in Kriegen versunkenen Kontinents. Die Werte, die es wieder zu entdecken und zu stärken gilt, sind ganz wesentlich christliche Werte.

Die Erosion des kulturellen und moralischen Fundamentes in Europa ist beängstigend. Schon lange hätten wir es erkennen können: Rechtsextreme Parolen und Strukturen der Renationalisierung dringen in die Mitte der Gesellschaft vor, der veränderte Umgang mit Medien blendet in weiten Teilen die Wirklichkeit aus. Das Konsumverhalten des reichen Europas ist beschämend, in Teilen zerstörerisch. Und plötzlich klopft die Globalisierung an unsere Tür. Sie hat ein Gesicht, und es sieht anders aus, als wir vor Monaten noch geglaubt haben. Es schaut uns an und berichtet von Furcht, Vertreibung, Armut, Hunger, von Krankheit, Krieg und Tod. Es ist das Gesicht eines Menschen, es sind die Gesichter vieler Menschen.

Wegschauen geht nicht mehr. Europa muss sich seiner globalen Verantwortung stellen. Das heißt nicht, weltweit jedes Problem lösen zu können oder für dessen Entstehen verantwortlich zu sein, aber es bedeutet, Menschlichkeit zu leben. Allein das ist eine Aufgabe, die so groß ist, dass wir das nur gemeinsam schaffen oder gar nicht. Familien schaffen es nur gemeinsam, Städte schaffen es nur gemeinsam, Europa schafft es nur gemeinsam oder gar nicht.

Also: Schaffen wir das? Sind wir stark genug, einig genug, menschlich genug? Ist unsere Lage überhaupt beherrschbar? Europa hat immer wieder bewiesen, dass Krisen überwunden werden. Der Plan zur Beherrschbarkeit dieser Krise ist die Stabilität der Werte: Sie sind vermehrbar in uns allen.

Papst Franziskus ist für diesen schwierigen Weg Europas ein großes Glück. Der Heilige Vater schaut mit dem Blick der südlichen Hemisphäre auf Europa und sieht klar und ohne den Wohlstandsschleier als oberster Hirte der weltweiten Gemeinschaft der katholischen Kirche unseren verzerrten und in Widersprüche verstrickten Kontinent. Die christliche Botschaft ist für ihn dabei ebenso wichtig wie die Offenheit für den interreligiösen Dialog. Ein besonderes Geschenk ist dabei das Heilige Jahr, das Jahr der Barmherzigkeit, die ein verbindendes Element sowohl des christlichen als auch des jüdischen und des muslimischen Glaubens ist.

Wir erleben als Ursache vielfachen Leids, dass Religionen von Extremisten fehlgedeutet und benutzt werden, und wir erleben die Anfälligkeit vieler Menschen für absurde Heilslehren, die in Gewaltexzessen münden. Diese Probleme sind nicht lösbar durch Reorganisation staatlicher Strukturen, sondern nur durch Hinwendung zu den Menschen. In dieser Beziehung ist ein Neustart Europas nötig. Wir brauchen eine Debatte über unsere gemeinsame Interpretation der Freiheitsrechte, der Menschenwürde, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit. Wer Vertrauen haben kann in die Gemeinschaft, der ist immun gegenüber Hass und Extremismus.

Die Einsicht, dass Europa sich teilweise neu definieren muss, erfordert einen unverstellten Blick, einen Blick von außen. Sind wir nicht der stärkste Kontinent der Erde, wirtschaftlich erfolgreich, innovativ, reich an Kultur, voller sozialer Standards und begehrtester Zufluchtsort?

Wirtschaftliche Stärke ermöglicht soziale Errungenschaften, aber es besteht die Gefahr einer Dekadenz, eines Verfalls von Moral und Kultur. Ein Anzeichen für diesen Verfall ist das schwindende Vertrauen der Menschen in die Politik und die staatlichen Institutionen, weil es nicht ausreichend gelingt, für Gerechtigkeit zu sorgen. Die Unfähigkeit, bei ohnehin schon schwer nachvollziehbaren Millionengehältern einiger weniger sicherzustellen, dass diese ordnungsgemäß versteuert werden und damit das Gemeinwohl stärken, reißt tiefe Wunden in die Gesellschaft.

Ein zweites unheilvolles Anzeichen ist die Tendenz zur Abschottung – sowohl einzelner Nationen als auch Europas insgesamt. Aber Mauern und Zäune lösen dauerhaft keine Probleme. Sie bekämpfen nur Symptome, die auch durch unzureichende Unterstützung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Strukturen außerhalb Europas entstanden sind. Wer reich ist, der hat Verantwortung. Der Reichtum Europas verpflichtet zu weitsichtigerem und solidarischerem Handeln, als es bisher geschehen ist.

Dieser Verantwortung gerecht zu werden, ist nicht anonymen Strukturen zu überlassen, sondern sie trifft die Menschen in ihrem Kern, in ihrer Haltung, in ihrem täglichen Handeln, sie trifft jeden Einzelnen, ob politisch aktiv oder nicht, ob jung oder alt, überall in Europa. Die Möglichkeiten, solidarische Beiträge zu leisten sind ungleich verteilt, aber in der Summe haben die Menschen Europas die Kraft, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.

Diese Karlspreisverleihung ist ein gemeinsamer Ordnungsruf, der zu geistiger Orientierung aufruft und die Leitlinien des politischen Handelns in Europa zum Thema macht, weil diese Basis brüchig geworden ist.

Die Geschichte zeigt, dass Krisen in der Europäischen Union immer wieder erfolgreich bewältigt werden konnten, neue Wege wurden erschlossen, und letztlich wurde die Einheit immer weiter gestärkt. Vielleicht ist es heute besonders schwierig. Aber mit Mut, mit dem Wissen um die eigenen Stärken, mit dem Bewusstsein für die Verantwortung Europas in der Welt und vor allem mit der Besinnung auf unsere humanitären Werte ist es möglich.

Verehrter Heiliger Vater, der Weg dorthin erfordert mahnende Stimmen wie die Ihre. Für die Kraft und die Klarheit, mit der Sie diese Aufgabe annehmen, verleihen wir heute den Internationalen Karlspreis 2016.