Rede von Martin Schulz

Rede von Martin Schulz

Heiliger Vater,
verehrte Festgäste,

es ist mir eine große Ehre und Freude, in der Sala Regia im Vatikan anlässlich der Verleihung des Karlspreises an Seine Heiligkeit Papst Franziskus zu sprechen. Der Karlspreis ist ein Bürgerpreis, gestiftet von den Bürgern Aachens, meiner Heimatregion an der deutsch-holländisch-belgischen Grenze. Unser Kontinent lag damals kriegsverheert und kriegsvernarbt noch in Trümmern. Und doch machten sich die Aachener Bürger auf, mit dem Karlspreis die friedliche Einigung Europas zu fördern. Dass wir, Jean-Claude Juncker, Donald Tusk und ich, als die Präsidenten der drei EU-Institutionen und als Karlspreisträger heute gemeinsam zu Ihnen sprechen, zeigt, wie sehr wir uns diesem Geist der Aachener Bürger verpflichtet fühlen.

Heute durchlebt Europa stürmische Zeiten, steht vielleicht sogar vor einer Zerreißprobe. Mehr denn je braucht es mutige Bürgerinnen und Bürger, die sich zur europäischen Einigung bekennen, braucht es Menschen, die uns wachrütteln und daran erinnern, was wirklich wichtig ist: Frieden, Solidarität und gegenseitiger Respekt – zu vertiefen, nicht was uns trennt, sondern was uns einigt. Genau für diese Botschaft wird heute Seiner Heiligkeit Papst Franziskus der Karlspreis verliehen. Dazu gratuliere ich Ihnen, Eure Heiligkeit, von Herzen.

Der Papst aus Argentinien, der Sohn italienischer Einwanderer, der mit seinem bescheidenen, seinem herzlichen Auftreten Menschen über alle Konfessions- und Glaubensgrenzen hinweg für sich einnimmt, dieser Papst blickt unverstellt von außen auf Europa. Wenn er sagt, dass ein Europa, das auf den Menschen schaut, das seine Würde verteidigt und schützt, ein kostbarer Bezugspunkt für die gesamte Menschheit sei, dann führt Seine Heiligkeit Papst Franziskus uns Europäer auf unsere europäischen Werte und damit auf uns selbst zurück: auf Europas humanistischen Geist.

Unser Bekenntnis zur Menschenwürde, das wir in Europa in einer bewussten Abkehr vom Totalitarismus ablegten, der Menschen in der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts dazu brachte, dass sie ihren Nächsten unvorstellbares Leid antaten, ihre Häuser niederbrannten und ihre Familien auseinanderrissen, dass sie andere Menschen einsperrten, folterten und töteten – aus diesem Tiefpunkt der Menschheitsgeschichte heraus entstand in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – zunächst in Westeuropa – ein einzigartiger Gegenentwurf: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit und grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Völkern. Weil die Gründergeneration eines wusste: Wenn wir Europäer uns untereinander zerstritten, dann erging es allen schlecht – wenn wir Europäer aber zusammenstanden, dann brachte das gute Zeiten für alle.

Doch heute laufen wir Gefahr, dieses Erbe zu verspielen. Denn die Fliehkräfte der Krisen treiben uns auseinander, anstatt uns enger aneinander zu binden. Nationale Egoismen, Renationalisierung, Kleinstaaterei sind auf dem Vormarsch. Ohne Frage, Europa steht in der Flüchtlingsfrage vor einer epochalen Herausforderung. Seit dem Zeiten Weltkrieg waren zu keinem Zeitpunkt weltweit mehr Menschen auf der Flucht als heute. Doch Populisten treiben ihr böses Spiel; sie suchen nicht nach Lösungen, sondern schüren Ängste. Angst mag verständlich sein, aber sie ist kein guter Ratgeber für Politik.

Mit welcher Geschichtsvergessenheit wollen manche 25 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wieder Mauern und Zäune in Europa errichten und gefährden damit eine unserer größten europäischen Errungenschaften – die Freizügigkeit! Als ob sich Menschen, die vor der Brutalität des Islamischen Staates oder Assads Rohrbomben fliehen, von Mauern und Stacheldraht aufhalten lassen.

Mit welcher Realitätsverweigerung wird behauptet, dass Nationalstaaten auf sich gestellt besser dran wären. Als ob wir Europäer uns und unser einzigartiges Gesellschaftsmodell in einer sich immer weiter globalisierten und enger vernetzten Welt behaupten könnten, wenn sich unser Kontinent in seine Einzelteile zerlegt.

Sehr geehrte Damen und Herren,
ich will es klar sagen: Europa durchlebt eine Solidaritätskrise; unsere gemeinsame Wertebasis gerät ins Wanken.

Deshalb: Jetzt ist es an der Zeit für Europa zu kämpfen. Jetzt müssen alle Europäerinnen und Europäer aufstehen und sich zu Europa bekennen.

Papst Franziskus macht uns Hoffnung, dass dies gelingen kann, wenn er sagt, dass „Schwierigkeiten zu machtvollen Förderern der Einheit werden können“. Er zeigt uns – und besonders jenen Regierungschefs, die sich weigern, muslimische Flüchtlinge aufzunehmen mit der Begründung, man sei ein christliches Land –, was gelebte Solidarität, was Menschlichkeit heißt, wenn er nach seinem Besuch aus Lesbos drei syrischen Familien Schutz im Vatikan gewährt. Und wenn ich die zehntausenden, hunderttausenden Freiwilligen sehe, die in Lesbos, Lampedusa, München und anderswo den Männern, Frauen und Kindern, die auf der Flucht vor dem Krieg und auf der Suche nach Schutz zu uns kommen, Wasser und Brot reichen, Kleider und Decken an sie verteilen, wenn ich diese Menschen sehe, dann ist mir um Europas Zukunft nicht bange. Denn diese Menschen füllen die europäischen Werte der Gerechtigkeit, der Solidarität und der Achtung der Menschenwürde mit Leben. Sie zeigen den Flüchtlingen und der Welt Europas menschliches Gesicht.