Rede von Donald Tusk

Rede von Donald Tusk

Politik und Religion haben letztendlich ein gemeinsames Ziel in dieser Welt – und dieses Ziel ist nicht die Macht über andere, wie manche hoffen mögen. Dieses gemeinsame Ziel ist die Linderung von Leid und Unheil. Simone Weil erzählte einmal folgende Geschichte: „Ein Unglücklicher liegt auf der Straße – halb verhungert. Gott hat Mitleid mit ihm, doch er kann ihm kein Brot schicken. Es kommt jedoch ein anderer Mensch, und zum Glück ist er nicht Gott; er kann ihm ein Stück Brot geben. Nur in diesem einen Punkt ist der Mensch Gott überlegen.“ Nur Menschen können anderen Menschen zu essen geben. So auch Menschen des Glaubens und Menschen in der Politik – jeder auf seine Weise und mit seinen Mitteln.

Deshalb begrüße ich voller Freude die Vision des Heiligen Vaters von der Kirche. Einer Kirche – um es mit Ihren Worten auszudrücken – als Feldlazarett und nicht als Zollhaus. Ich bin zutiefst überzeugt, dass heute in diesen unsicheren Zeiten tiefgreifender Veränderungen und dramatischer Herausforderungen alle Gläubigen und Nichtgläubigen eine Kirche brauchen, die niemanden ausschließt, sondern vielmehr alle einschließt. Eine Kirche, die auf Prunk verzichtet, um den Armen zu helfen; eine Kirche, die in ihrer Liebe radikal ist und das Urteilen Gott überlässt. Eine Kirche, die den Menschen und ihrer Freiheit eher vertraut als der Allmacht und dem Allwissen von Institutionen; eine Kirche, die Menschen, deren Leben zerrüttet ist, Hoffnung und nicht Verdammnis bringt. Eine Kirche, die nur Güte verbreitet, aber nie, nirgends und bei niemandem Angst, Verachtung oder Zorn auslöst. Das ist die Kirche, die wir alle brauchen.

Heiliger Vater, ich bin davon überzeugt, dass Sie bei Ihrem bevorstehenden ersten Besuch in Polen, bei dem Sie junge Menschen aus aller Welt treffen wollen, auch die große Wärme und Gastfreundschaft meiner Landsleute erleben werden. Polen ist und bleibt in Europa – das steht außer Frage. Die Frage, die uns der Heilige Vater stellt, lautet: Wie sollte Europa sein? Mitfühlend und hilfsbereit oder abweisend und egoistisch? Gegründet auf die zutiefst christlichen Grundsätze der Menschenrechte, der bürgerlichen Freiheiten und der Achtung eines jeden Menschen oder auf den heidnischen Kult von Gewalt und Verachtung?

„Herr, mach mich zum Werkzeug Deines Friedens,
dass ich liebe, wo man hasst;
dass ich verzeihe, wo man beleidigt;
dass ich Glauben bringe, wo Zweifel droht;
dass ich Hoffnung wecke, wo Verzweiflung quält;
dass ich Licht entzünde, wo Finsternis regiert;
dass ich Freude bringe, wo der Kummer wohnt.“

Wir sind und bleiben Europäer. Ich möchte dies nicht aus rein geographischer oder ausschließlich politischer Sicht verstanden wissen. Vielmehr und vielleicht in erster Linie ist dies eine wertephilosophische und metaphysische Aussage. Europa ist gewissermaßen ein Glaubensgrundsatz.

Warum sollten wir auf Europa stolz sein? Warum verdient Europa, dass wir uns um es sorgen und es notfalls schützen und verteidigen? Weil hier noch immer der Geist der Liebe und der Freiheit zu spüren ist. Bitte sehen Sie mir diese vielleicht übertriebene Formulierung nach, die dem feierlichen Charakter dieser Zeremonie geschuldet ist. Wir können stolz auf Europa sein, weil Europa, Heiliger Vater, Ihnen noch immer ähnelt. Wenn es Ihnen einmal nicht mehr gleicht, wird es auf einen geographischen Begriff und eine leere politische Worthülse reduziert sein.

Einfach gesagt. Heiliger Vater, Ihr seid der Papst der Hoffnung. Für uns alle.