Begründung des Direktoriums

Begründung des Direktoriums der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen an den Präsidenten der Europäischen Zentralbank Dr. h.c. Jean-Claude Trichet

Der Euro ist in Gefahr.
„Scheitert der Euro, dann scheitert Europa“ (Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel). Die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen 2011 setzt das Signal, die Europäische Währungsunion und einen stabilen Euro existenziell zu sichern. Im Ergebnis ist der Euro eine Erfolgsgeschichte, und die Auswirkungen der Finanzkrise wären ohne Währungsunion und ohne die Europäische Zentralbank (EZB) weit dramatischer gewesen. Die Rückkehr zu nationalen Währungen ist kein gangbarer Weg.

Die Europäische Zentralbank hat das Stabilitätsversprechen der Gründungsväter des Euro eingehalten. Seit Einführung des Euro hat die EZB, allen voran ihr Präsident Jean-Claude Trichet, den weit über 300 Millionen Bürgerinnen und Bürgern der Eurozone bewiesen, dass sie auf ihre Währung vertrauen können. Auch in Zeiten der Krise vertraut das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen den Maßnahmen der EZB und ihres starken Präsidenten.
Der Euro hat über die Eurozone hinaus große Bedeutung für die Weltwirtschaft und andere Währungen.

2002 hat das Karlspreisdirektorium die bedeutsame Gemeinschaftsleistung EURO ausgezeichnet. Heute gilt es, die Persönlichkeit zu ehren, die sich seit Jahren für seine Stabilität engagiert einsetzt.

In Würdigung seiner herausragenden Verdienste um den Zusammenhalt der Währungsunion und den Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Binnenmarktes als Grundstein unseres Wohlstands und sozialer Sicherheit ehrt das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen im Jahr 2011 den Präsidenten der Europäischen Zentralbank, Dr. h.c. Jean-Claude Trichet.

Jean-Claude Trichet steht für die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank.

„Die Zentralbank wird immer ihrer Verantwortung gerecht werden. Denn wer die Preisstabilität in Gefahr bringt, der bringt Europa in Gefahr.“ In nur zwei Sätzen bringt Trichet anschaulich zum Ausdruck, was ihn gleichermaßen umtreibt und antreibt. Für ihn, der von der ersten Stunde an die Geburt der Gemeinschaftswährung mitgestaltet hat, ist der Euro nicht nur Zahlungsmittel, sondern ein hohes Gut, eine Friedenswährung für ein Europa, das noch vor 65 Jahren in Schutt und Asche lag.

Jean-Claude Trichet wurde am 20. Dezember 1942 in Lyon geboren. Nach dem Schulbesuch in Paris absolvierte er die Bergbauakademie in Nancy, die er 1964 als Ingénieur civil des mines verließ. 1966 erwarb er in Paris ein Diplom in Politikwissenschaft und eine Licence in Ökonomie; nachfolgend machte er erste Berufserfahrungen als Ingenieur in der freien Wirtschaft. Von 1969 bis 1971 besuchte er die Elitehochschule ENA.

1971 trat er am Wirtschafts- und Finanzministerium in die Abteilung Wirtschaftsprüfung ein. 1974 zunächst Referent in der Generalinspektion für Finanzen, wechselte er ein Jahr darauf ins Schatzamt – die Schaltstelle der französischen Geldpolitik. 1978 wurde er als Berater für den Bereich Industrie, Energie und Forschung ins Generalsekretariat des damaligen Staatspräsidenten Valéry Giscard d’Estaing berufen. Nach Übernahme der Präsidentschaft durch François Mitterrand kehrte er 1981 ins Schatzamt zurück, dessen Leitung er 1987 übernahm. In der Folgezeit vertrat er Frankreich unter anderem bei der Weltbank, dem Internationalen Währungsfonds und bei den Verhandlungen über die Wirtschafts- und Währungsunion. Rückblickend sagt er, den viele einen „Vater des Euro“ nennen: „Ich hatte schon damals das Gefühl, an etwas zu arbeiten, das im historischen Sinne groß war.“ (WamS, 20.6.2010)

Im Oktober 1993 trat er als Gouverneur an die Spitze der Banque de France, der erst wenige Monate zuvor die Unabhängigkeit von der Regierung zugesprochen worden war. In dieser Funktion war er gemeinsam mit dem damaligen Präsidenten der Deutschen Bundesbank Hans Tietmeyer an der Vorbereitung der Euro-Einführung im Zuge der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion entscheidend beteiligt. Seine formelle Bestätigung im Gouverneursamt 1999 war denn auch reine Formsache. Bereits ein Jahr zuvor hatten sich die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten informell darauf verständigt, dass der Franzose zu einem noch nicht näher konkretisierten Zeitpunkt die Nachfolge des ersten EZB-Präsidenten Wim Duisenberg antreten sollte. Nachdem dieser seinen Rücktritt angekündigt hatte, wurde Trichet im Juni 2003 offiziell nominiert. Am 1. November desselben Jahres trat er seine achtjährige Amtszeit als Präsident der Europäischen Zentralbank an.

In seiner Zeit an der Spitze der Banque de France bereits als „Ayatollah du franc fort“ oder als „Klon“ der Bundesbank gescholten, erwies sich Trichet in der Folge als Garant für die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank; so im Jahr 2004, als er dem Druck der deutschen und der französischen Regierung, die Zinsen zu senken, widerstand, und im Dezember 2005, als er gegen den Willen von zehn Regierungen in der Euro-Zone den Leitzins erhöhte. Früher als alle anderen Zentralbanken hatte die EZB Anfang August 2007 – kurz bevor die US-Immobilienblase platzte – die Entstehung der weltweiten Krise erkannt. In der Folge stellte sie den Geldmärkten in außerordentlichem Umfang zusätzliche Liquidität zur Verfügung, um die Finanzstabilität zu sichern. Mit Leitzinssenkungen auf ein historisch niedriges Niveau wirkte sie dem Abschwung entgegen und trug mit ihren sofortigen geldpolitischen Reaktionen gerade in der Zeit unmittelbar nach der Lehman-Insolvenz, als die finanzpolitischen Gegen- und Stützungsmaßnahmen noch nicht angelaufen waren, entscheidend dazu bei, die Abwärtsdynamik in Finanzsystem und Realwirtschaft zu bremsen und schließlich zu stoppen.

„Es ist kein Zufall, dass während der Turbulenzen der vergangenen Jahre in der Fachwelt in erster Linie die EZB ihre Reputation steigern konnte, während die Fed und vor allem auch die hilflos wirkende Bank of England an Ansehen eingebüßt haben. Die EZB verfügt über eine pragmatische, keinerlei Dogma verpflichtete, aber doch zuverlässige geldpolitische Konzeption“ (FAZ, 15.1.2010).

Trotz seines Grundsatzes, eine dauerhafte Vermischung von Geld- und Finanzpolitik verhindern zu wollen, bewies Trichet ein hohes Maß an Pragmatismus auch, als es Anfang Mai darum ging, die EZB am aufgespannten Schutzschirm für den Euro zu beteiligen. Gegen scharfe Kritik setzte er den Kauf von Staatsanleihen aus Krisenländern der Eurozone durch die EZB durch. Vorwürfen, auf politischen Druck hin einen Tabubruch begangenen zu haben, entgegnete der Franzose selbstbewusst: „Es wurde keine Linie überschritten. Unsere Linie ist die Preisstabilität, und unsere Glaubwürdigkeit beruht auf dem Erreichen dieses Ziels. […] Wir kaufen Staatsanleihen nicht, um Geld in die Märkte zu leiten – anders als andere Zentralbanken. Wir machen etwas anderes: Unser Kurs der Geldpolitik bleibt unverändert. Deshalb schöpfen wir die gesamte zugeführte Liquidität wieder ab“ (FAZ, 22.5.2010).

Manche Beobachter werteten die Verhandlungen über den Schutzschirm gar unter umgekehrten Vorzeichen: „Nicht Trichet wurde von den Regierungschefs unter Druck gesetzt, sondern er setzte sie unter Handlungsdruck und füllte so ein Vakuum aus. Aus Mr. Euro wurde auf einmal Mr. Europa“ (Berliner Morgenpost, 20.6.2010)

Jedenfalls scheut der EZB-Präsident nicht davor zurück, den Handlungsbedarf in den Mitgliedsländern offen anzumahnen: „Was die Finanzpolitik anbelangt, so besteht ohne Zweifel die Notwendigkeit, das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Fähigkeit der Regierungen zur Rückkehr zu tragfähigen öffentlichen Finanzen zu stärken […] und so auf mittlere Sicht ein nachhaltiges Wachstum zu stützen. Hierfür ist es unabdingbar, dass die Länder glaubwürdige mehrjährige Konsolidierungspläne erstellen und die vorgesehenen Konsolidierungsmaßnahmen vollständig umsetzen. […] Die sofortige Umsetzung weitreichender Strukturreformen ist unabdingbar, um die Aussichten für ein höheres nachhaltiges Wachstum zu verbessern. Umfangreiche Reformen sind insbesondere in jenen Ländern erforderlich, die in der Vergangenheit Wettbewerbsverluste hinnehmen mussten oder zurzeit von hohen Haushalts- und Außenhandelsdefiziten betroffen sind.“ (EZB-Pressekonferenz, 4.11.2010)

Für Trichet ist es insbesondere die Fiskalpolitik einiger Länder, die angepackt werden muss. Die Verfassung vieler öffentlicher Haushalte ist desolat. Unter diesen Bedingungen verfolgt Trichet eine Geldpolitik, die den Euro hart hält und so Vertrauen bei den Bürgern und Anlegern schafft. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt ist für ihn ein Herzstück der Währungsunion.

Der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt, einer der Väter des Europäischen Währungssystems, urteilte noch kürzlich: „Von allen europäischen Instanzen ist bisher allein die Europäische Zentralbank unter Jean-Claude Trichet makellos“ (Die Zeit, 12.5.2010).

„Trichet ist ein Mann der Tat, der Verhandlungen, der Diplomatie. Er hat keine Berührungsängste und scheut sich nicht, neue Wege zu gehen, wenn es der Problemlösung dient. Drei Jahrzehnte kämpft er schon gegen Unruhen an den Finanzmärkten. […] Eine Lehre hat der Karrierebeamte aus den großen Krisen der Vergangenheit gezogen: Wenn die Märkte in Aufruhr sind, lassen sie sich nur durch schnelles und entschlossenes Handeln beruhigen“ (Die Zeit, 12.5.2010). In einer Zeit, in der die Europäische Union vor Herausforderungen historischen Ausmaßes steht, hat Jean-Claude Trichet genau dies getan: durch überlegtes, schnelles und entschlossenes Handeln inmitten einer zunehmend instabilen Atmosphäre auf den Weltmärkten beruhigt und Vertrauen geschaffen. Vielleicht sagte deshalb der US-amerikanische Finanzminister Geithner am Rande des diesjährigen G20-Gipfels über den EZB-Präsidenten: „Wenn ich hier in die Runde schaue, dann ist er der Gigant.“

Die Politik der Europäischen Zentralbank ist ein Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft. Sie fördert damit europaweit ein wirtschaftliches Wachstum und eine Stabilität, die dem Vertrag von Lissabon entsprechen.

Mit dem Präsidenten der Europäischen Zentralbank, Dr. h.c. Jean-Claude Trichet, ehrt das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen im Jahr 2011 einen europäischen Staatsdiener, der sich in schwieriger Zeit um den Zusammenhalt der Währungsunion, die Stabilität des Euro und den Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit Europas herausragende Verdienste erworben hat.

Mit der Preisverleihung fordert das Karlspreisdirektorium die europäische Politik auf, sich an die Verwirklichung einer Politischen Union heranzuwagen, die die Wirtschafts-, Finanz- und Haushaltspolitik im Euroraum wirksam koordiniert.