Laudatio von Mário Soares

Laudatio von Mário Soares, Präsident der Republik Portugal

Meine Damen und Herren,

es ist für mich eine große Freude und eine Ehre, zur Feier aus Anlaß der Verleihung des Karlspreises an Herrn Jacques Delors eingeladen worden zu sein, um bei dieser Gelegenheit einige Worte des Lobes über den Preisträger zu sagen, und dies in Anwesenheit des Herrn Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, einer großen moralischen und politischen Persönlichkeit, die ich so sehr bewundere.

In diesem sinnbildlichen Jahr 1992, das Jacques Delors als ein Jahr der großen europäischen Herausforderung bezeichnet hat, konnte es für einen Preis mit so großer Tradition und einem so hohen internationalen Ansehen keine treffendere und glücklichere Wahl geben. Ich laufe daher Gefahr, mit meinen Worten überflüssige oder gar banale Dinge auszusprechen, sind doch die Rechtfertigung, die passende Gelegenheit und der Verdienst für diese hohe Auszeichnung so offensichtlich.

Jacques Delors führt ein sehr kohärentes Leben. Obwohl ein Pragmatiker, ist er gleichzeitig ein Mann tiefer Überzeugungen, der edlen Worten und Idealen, die er nie verleugnet hat, fest verbunden ist. Als jugendlicher Militant einer Gewerkschaftsbewegung christlicher Prägung, treibende Kraft in politischen Vereinigungen, Inspirator der ,,neuen Gesellschaft?, begeisterter Anhänger der sozialen Harmonisierung, Minister für Wirtschaft und Finanzen der ersten sozialistischen Regierung unter François Mitterrand, derzeit Präsident der Kommission der Europäischen Gemeinschaften - der persönliche und politische Werdegang von Jacques Delors folgt einer unleugbaren inneren Logik. Man muß kein Prophet sein, um für ihn in der Zukunft ein großes Schicksal auf nationaler Ebene vorauszusehen. Aber gerade in seiner Eigenschaft als europäischer Staatsbürger, als erster Förderer des großen Projektes der Europäischen Einheit haben seine Persönlichkeit und sein Werk ohne Übertreibung ein solches Ausmaß erlangt, daß es durchaus legitim ist, ihn heute auf eine Stufe mit den "Gründungsvätern" der Europäischen Gemeinschaft zu stellen.

Im übrigen führt die Verleihung des Karlspreises, die Jacques Delors von nun an mit Monnet und De Gasperi, mit Churchill, Adenauer, Schuman und Spaak teilt – um nur einige Namen von Pionieren des großen europäischen Abenteuers zu nennen – verdientermaßen zu einer Gleichstellung mit ihnen, und in diesem Sinne, bedeutet sie eine endgültige Weihe.

Wir müssen anerkennen, daß Jacques Delors seine erste Amtszeit als Präsident der Kommission in einem äußerst schwierigen Zeitraum begonnen hat, als die Gemeinschaft sich noch kaum von den aufeinander folgenden Krisen der siebziger Jahre erholt hatte, sich in bitteren und unendlichen internen Querelen erschöpfte, die sich auf einen Kampf um den Haushalt konzentrierten, der die grundsätzlichen Entscheidungen lähmte und das europäische Projekt auf das Ausmaß einer Freihandelszone zu reduzieren drohte, wenn auch versehen mit den möglichen Schutzmaßnahmen und verbotenen Gebieten. Es war die Zeit der Euro-Sklerose, die frühzeitig in einem Euro-Pessimismus zum Ausdruck kam und die eine Gemeinschaft auf dem Weg der Selbstblockade erahnen ließ, krank, unsicher, verbraucht, weil sie nie wirklich existiert hatte.

Wie Delors im ,,Nouveau Concert Européen? darlegt, hatte er erkannt, daß der Kampf, den es zu stoppen galt, den unerläßlichen Bruch mit dem Konformismus der vorhergehenden Dekade erforderte und die geschickten Dosierungen an dramatischen Augenblicken, die immer die schöpferischsten Momente der Gemeinschaft kennzeichneten. Er hat sich von Jean Monnet inspirieren lassen, um ,,den Wechsel zu organisieren?, wie er zu sagen pflegte. Und wie jener setzte er sich ein Ziel und einen Zeitplan fest. Er hatte eine leicht verständliche, mobilisierende Idee, die schnell von den Bürgern und den sozialen Kräften aufgegriffen wurde. In weniger als einem Jahr wurde "1992" zu einem Mythos und die Schaffung eines Wirtschaftsraumes ohne Grenzen zwischen den Zwölf wurde zu einem festen Bestandteil, um den Widersprüchen dieses Nicht-Gemeinsamen Marktes ein Ende zu setzen, denn dies war die Gemeinschaft so lange Zeit gewesen, trotz des Geistes und der Buchstaben der Gründungsverträge.

Jacques Delors entwickelte einen ehrgeizigen Plan für Europa, indem es ihm zunächst das Überleben und dann die Wiedergeburt vorschlug, als Alternative zum melancholischen Niedergang, den viele für sicher hielten. Und wie selten in der Vergangenheit geschehen, hat die Gesellschaft die Verantwortung für die Beschleunigung des Wechsels übernommen, indem sie die Wirkungen vorwegnahm und die verfahrenen Situationen multiplizierte. So schwer es den halsstarrigen Kritikern fallen mag, die Eurokratie war damals weit davon entfernt, ein sich selbst unterhaltendes, bürokratisches Gebilde zu sein, sondern gab den Ängsten, Sorgen und Interessen eines weitläufigen Spektrums an Wirtschafts-, sozialen und politischen Kräften, die für den Wiederaufbau der globalen Wettbewerbsfähigkeit Europas gegenüber Japan und den Vereinigten Staaten mobilisiert wurden, Form und Inhalt.

Delors und seine Mannschaft verwarfen jedoch de große Illusion, lediglich einen Markt vorzuschlagen. Sie kümmern sich darum, nicht nur Verbraucher, sondern Staatsbürger vorzufinden. Sie präsentierten Hunderte von Maßnahmen, aber auch eine Methode und einen demokratisch legitimierten institutionellen Mechanismus, um seine schnelle Billigung zu ermöglichen. Sie wollten die Bedingungen schaffen, damit das gemeinschaftliche Europa nicht nur einen Handelsblock darstellen sollte, sondern eine strategische Einheit mit eigenem Gewicht und genügend Autonomie. Und von diesem Geist wurde der entscheidende Schritt geleitet, verkörpert in der Europäischen Einheitsakte, der ersten großen Reform der Römischen Verträge und wesentliche Grundlage für die geschickte Politik der miteinander verknüpften Vorgänge, die zur Unterzeichnung der Verträge von Maastricht führten und den Traum von der europäischen Einheit, der bis vor kurzem noch unmöglich schien, näherrücken ließ.

Obwohl das Projekt 1992 erst soeben angelaufen ist, verdient der wichtige Anstoß Anerkennung, der von ihm und seiner Entwicklung für das gemeinschaftliche Europa ausging und der letzterem dazu verhalf, seine Fähigkeit zu politischer Initiative und wirtschaftlicher Erneuerung wiederzugewinnen, an die vor nur fünf Jahren kaum jemand zu glauben wagte, da Europa in interne Auseinandersetzungen verstrickt war und sich darum bemühte, die starre industrielle Struktur zu wahren oder abzubauen. Glücklicherweise sind die dringendsten Angelegenheiten heute andere geworden: Zweifellos sind sie komplexer, sicherlich aber auch reizvoller, dazu angetan, die Zukunft zu planen und den schwierigen Herausforderungen zu begegnen, vor die wir durch den Zusammenbruch der alten bipolaren Ordnung gestellt sind. Der neue Elan der Gemeinschaft und seine voraussehbaren Folgen können im übrigen nicht getrennt von dem Grundgedanken der Perestroika und dem daraus folgenden Zerfall der kommunistischen Welt gesehen werden, durch die dem 45 Jahre alten System des Gleichgewichts der Kräfte ein Ende gesetzt wurde.

Nachdem Deutschland vereint und die Sowjetunion verschwunden ist, haben sich die Voraussetzungen, die vor mehr als drei Jahrzehnten Anlaß zur Gründung der Gemeinschaft gaben, grundlegend geändert. Geändert hat sich jedoch nicht ihre Daseinsberechtigung als Kern einer Zusammenfassung von Vorstellungen und Interessen der europäischen Völker und als Struktur der multilateralen politischen Harmonisierung; allerdings hat sie durch das Abkommen von Maastricht und durch die neue Verantwortung, die aus der zunehmenden Unordnung in der Welt resultiert, eine neue Zielrichtung erhalten.

Trotz des Falls der Berliner Mauer - und aller Veränderungen, die dieser bedeutet - bleibt die Gemeinschaft der einzige stabile politische Bezugspunkt auf unserem Kontinent: sie behält unverändert ihre enorme Anziehungskraft wie es eine Reihe von Beitrittsanträgen zum Ausdruck bringt, die die Erweiterung als politische Frage ersten Ranges wieder auf die Tagesordnung gebracht haben. Erweiterung, Vertiefung der Institutionen, Bemühen um Konvergenz, Überwindung des bestehenden demokratischen Defizits, dies alles ist die Synthese der enormen politischen, wirtschaftlich-sozialen, kulturellen und institutionellen Herausforderung, die die Gemeinschaft mutig zu meistern hat, um sich den Herausforderungen am Ende dieses Jahrtausends stellen zu können und mit Glaubwürdigkeit und Festigkeit das angestrebte Ziel einer Europäischen Union zu erreichen, die von Völkern und Bürgern akzeptiert wird, demokratisch legitimiert ist und die Identität der Nationen respektiert.

Meine Damen und Herren,

es ist nicht mehr als recht und billig – ohne die Beiträge anderer großer europäischer Politiker geringzuschätzen – Jacques Delors eine entscheidende persönliche Verantwortung und eine ausdauernden Unternehmungsgeist zuzugestehen im Zusammenhang mit dem Prozeß einer wirklichen Wandlung des europäischen Ideals, die in den letzten Jahren vonstatten gegangen ist.

Die Pragmatischsten unter uns werden den Mann und sein Werk an den Ergebnissen messen und auf seine ungewöhnliche Intelligenz, seine tiefe Kenntnis der Dossiers der Gemeinschaft, seine Beständigkeit, sein unverkennbares Talent als Unterhändler hinweisen. Dies sind Attribute, die ich an Jacques Delors ohne Zweifel bewundere. Aber ich gestehe, daß es in diesem besonderen Augenblick, den die Welt erlebt, für mich wichtiger ist, in der reichen und vielfältigen Persönlichkeit von Jacques Delors sein Festhalten an den großen, die Menschen befreienden Idealen und die Kraft seiner großzügigen Überzeugungen hervorzuheben. Denn nur mit Überzeugungen und im Glauben an das Menschliche kann man in dieser unsicheren Welt die notwendigen Veränderungen planen und durchführen, und damit das Wagnis eingehen, die Geschichte zu beeinflussen.

In einer Zeit, in der selbst das Überleben des Menschen in unserem angegriffenen und verworrenen Planeten auf dem Spiel steht, in einer Zeit, in der so viele Ideale ihren Wert zu verlieren und die politischen Unterschiede zu verschwinden scheinen, in der die Utopien im Namen einer namen- und gedächtnislosen Technokratie als Karikatur erscheinen, ist es tröstlich, jemandem Ehre zu bezeugen, der beschlossen hat, sein Leben in den Dienst einer edlen Sache zu stellen und der fähig war, diese Schritt für Schritt, demokratisch und einvernehmlich auszugestalten.

Dieser von Symbolismus erfüllte Festakt hat noch einen Vorzug:

Er ist nicht nur die abschließende Anerkennung für die getane Arbeit - ein umfassendes Werk. Der Preis ist auch eine Auszeichnung für die wiedergewonnene Hoffnung auf das europäische Projekt und - in diesem Sinne - für alles, was wir uns von der unerschöpflichen und weitsichtigen Aktivität von Jacques Delors für die nächsten Jahre im Hinblick auf den von seinen humanistischen Idealen der Gerechtigkeit, der Solidarität, der Freiheit und des Friedens getragenen europäischen Aufbau erhoffen.