Rede des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen, Dr. Albert Maas

Rede des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen, Dr. Albert Maas

Meine Damen und Herren!

Wieder sind Sie in diesem Saale, den die ganze Welt kennt, versammelt, zahlreicher noch als im Vorjahre, um der zweiten PreisVerleihung des Internationalen Karlspreises der Stadt Aachen beizuwohnen. Sie alle sind gekommen, um für Europa zu zeugen, für die Verwirklichung der europäischen Einigung! Sie tun es, weil sie glauben, daß die Verwirklichung dieser Idee die große Hoffnung unserer Zeit ist; und wir Aachener sind gekommen mit besonderer Inbrunst, getrieben von heißer Liebe zu unserer Stadt, der nach jedem Kriege die Grenzen näher auf den Leib rücken, die Grenzen, die zudem unübersteiglicher geworden sind denn je, diese Grenzen, die sich forterben von Geschlecht zu Geschlecht wie eine ewige Krankheit.

Der Internationale Karlspreis der Stadt Aachen wird jährlich verliehen für die beste Leistung im Dienste der Verständigung und der internationalen Zusammenarbeit im europäischen Raum. Sein Ziel ist die Verwirklichung der Vereinigten Staaten von Europa, durch den sich jährlich wiederholenden Appell an die öffentliche Meinung und nach der Proklamierung der Vereinigten Staaten von Europa die Förderung intensiver, geistiger und wirtschaftlicher Zusammenarbeit.

Wir haben im Vorjahre den ersten und bedeutendsten Bannerträger der Europaidee, den Grafen Coudenhove-Kalergi ausgezeichnet, und wir werden weiterhin jedes Jahr hervorragende Kämpfer und Werber dieser Idee auszeichnen: Große Propagandisten, Wissenschaftler, aktive Politiker und Staatsmänner, die zu dem großen Ziel beigetragen, oder ein wichtiges Teilziel in Angriff genommen haben. Wir haben zu Anfang dieses Jahres - hinausgehend über die jährliche Verleihung des Preises - in Paris den Witwen zweier hochverdienter Europäer, den Witwen Marc Sangnier und Edouard Mounier als posthume Ehrung die Medaille des Karlspreises verehrt und in Paris eine dankbare Aufnahme gefunden. Es sind uns Kandidaten für den Karlspreis aus jedem Volke willkommen, aus jeder Konfession, aus jeder politischen Richtung, aus jedem Stande, wenn sie nur auf das gemeinsame Ziel ausgerichtet sind und für die Erreichung dieses Zieles etwas geleistet haben. Wir sind uns bewußt, daß Europa erbaut werden muß zu einem wohnlichen Hause, in dessen großen oder kleinen Räumen sich alle Europäer wohl fühlen können, die guten Willens sind.

Die Stadt Aachen kann allerdings Europa nicht selbst schaffen; wir können nur rufen und fordern. Und diese Stadt, die geschichtlich schon einmal der Mittelpunkt Europas gewesen ist, ist prädestiniert zu rufen. Die Stadt, die trotz ihres stolzen deutschen Volkstums immer offen war für Europa, die Stadt, die die europäischen Völker kennen, mochten sie nun zu ihren Heiligtümern pilgern durch die Jahrhunderte bis auf dieses Jahr wieder, oder an ihren Quellen Heilung suchen, die Stadt, deren 1000jähriger Dom wie ein von Gott hingesetztes Gleichnis des ersehnten einigen Europa dasteht!

Und so werden wir weiter rufen, Jahr um Jahr, die Verwirklichung müssen wir aber Gott und den wirklichen politischen Mächten überlassen. Aber jedes Jahr werden wir auch Umschau halten, ob wir dem Ziel nähergekommen sind. Wir werden uns dabei erinnern, daß eine der wichtigsten politischen Tugenden die Geduld ist, und daß das europäische Problem, um das wir uns mühen, das größte und schwierigste ist, das jemals der menschlichen Staatskunst gestellt worden ist. Sind wir nun vorwärts gekommen im vergangenen Jahre? Wenn ich diese Frage aufwerfe, so stehen drei Dinge im Vordergrund: Der vom Grafen Coudenhove-Kalergi im Vorjahre hier propagierte Plan des sofortigen Zusammenschlusses der sechs Staaten, in denen eine Mehrheit für den europäischen Zusammenschluß vorhanden ist: Deutschland, Frankreich, Italien und die Benelux-Staaten, hat noch nicht verwirklicht werden können. Das Interesse hat sich in Straßburg dem neuen Plan zugewandt, von einzelnen Institutionen her einen überstaatlich europäischen Zusammenschluß allmählich herbeizuführen. Und das haben die sechs Staaten gemacht. Als Ergebnis haben wir den Schuman-Plan bekommen. Man wird es verstehen, wenn ich an diesem Tage, an dem die Stadt Aachen ihre Stimme erhebt, an dem Tage, der die europäische Bewegung erneut vorwärts stoßen soll, trotz der in Deutschland noch herrschenden zwiespältigen Beurteilung, Ihnen kurz und klar meine Meinung sage:

Der Schuman-Plan ist das erste große und bedeutsame Ergebnis der Europabewegung. Ich halte ihn für ein weltpolitisches Ereignis, der eine entscheidende Wende in den Beziehungen der europäischen Völker bedeutet. Er ist ihr erstes großes Zueinander und Miteinander in einer neuen Atmosphäre, von der wir hoffen, daß nach den wirtschaftlichen Dingen auch die politischen eine friedliche Regelung finden werden. Unser alter Kontinent hat bewiesen, daß er noch fähig ist zu neuer schöpferischer Tat!

Wir grüßen unseren Bundeskanzler Dr. Adenauer, der ein großes Werk getan hat. Wir grüßen auch den französischen Außenminister Robert Schuman, dessen Name mit diesem Plan verbunden als einer der großen Baumeister des neuen Europäischen Bundesstaates in die Geschichte eingehen wird.

Und wie urteilt man draußen: Aus der Fülle der Äußerungen nur zwei Stimmen: Die New York Times nennt den Plan "das kühnste und konstruktivste Projekt europäischer Staatskunst zur Förderung der Einigung dieses Kontinents". Der unbedingte Europäer, der Franzose André Philip, nennt ihn den "Kristallisationskern einer europäischen Regierung". Und darauf kommt es uns an!

Jedenfalls ist zum ersten Male von allen Beteiligten auf staatliche Hoheitsrechte im Interesse einer höheren Einheit verzichtet und damit ein Stück Europa geschaffen worden. Ganz zweifellos wird dieser Plan sehr große Opfer von uns fordern. Aber wann ist jemals die Verwirklichung einer großen Idee ohne Opfer möglich gewesen? Europa wird uns nicht geschenkt werden. Seien wir uns klar darüber, daß auch nach der Verwirklichung der europäischen Idee vieles schwer zu tragen sein wird. Nach dem Worte eines Weisen gibt es in der glücklichsten Ehe Dinge, die nur mit Gott zu tragen sind; und so wird es auch im kommenden Europa Dinge geben, die wirklich nur mit Gott zu tragen sind. Ich darf wohl sagen, daß die unbedingten Europäer in Deutschland, zu denen wir uns rechnen, nichts sehnlicher wünschen, als daß dieser große, geschichtliche Entschluß des Schuman-Planes zuletzt doch ein einigendes "Ja" in unserem Volke finden wird. Man sagt den Staatsmännern und Politikern nach, daß ihr Blick zu sehr nach rückwärts gerichtet sei, daß sie zu sehr darauf starren, was ihnen genommen wird, daß sie aber zu wenig Phantasie besitzen, um sich vorzustellen, was die Verwirklichung des geeinigten Europa seinen Völkern an neuen Möglichkeiten bringen wird.

Die andere Frage, die die Gemüter bewegt, und die mit dem Europaplan im Zusammenhang steht, ist die Frage der europäischen Verteidigung. Auch hierüber nur weniger Worte. Es entspricht dem tiefen Friedenssehnen der Menschheit, daß diese jetzt geplante und in Angriff genommene gemeinsame Verteidigung niemals ihre Brauchbarkeit in der Wirklichkeit zu erproben gezwungen werde. Wir wollen mit unserer Verteidigungsfähigkeit nur eines erreichen, wir wollen nicht überfallen werden! Wir wollen ein friedliches und blühendes europäisches Gemeinwesen schaffen und nicht dabei gestört werden. "Es wird so lange Kriege geben", hat ein großer Gelehrter unserer Tage gesagt, "als es souveräne Staaten geben wird." Nun, wir können die souveränen Staaten in der Welt nicht abschaffen. Das Problem des Weltstaates wird erst in Jahrhunderten seine Lösung finden können. Aber die Abschaffung der vollen Souveränität, der europäischen Staaten, die ist möglich. Und wenn wir an ihre Stelle den gemeinsamen europäischen Bundesstaat setzen, dann schaffen wir die beste, die im Augenblick auch allein mögliche Friedenssicherung für die europäischen Völker! Mögen dann fern in der Türkei oder Mongolei die Völker noch weiter aufeinander schlagen.

Im übrigen war das vergangene Jahr gekennzeichnet durch eine zunehmende Unzufriedenheit mit dem Straßburger Europarat, die zu der prachtvollen Entladung der studentischen Jugend und zu ihrem gemeinsamen Aufbruch nach Straßburg geführt hat. Drängende Völker und zögernde Regierungen kennzeichnen die Stunde! Vom Europa-Paß ist es stiller geworden. Es werden weiter nach wochenlanger Überlegung mit Vorsicht nationale Pässe ausgestellt und nach wie vor müssen wir über ungeheure Gebirge klettern, wenn wir unsere Nachbarn besuchen wollen. Das geistige Trägheitsgesetz scheint kühne Entschlüsse in den Außenministerien nicht aufkommen zu lassen.

Nun, so rückt doch wenigstens den Jugendpaß heraus, Ihr Herren! Laßt die Jugend die geistigen Schätze Europas erwandern, laßt sie wandern zu den Schätzen der spanischen Malerei, laßt sie wandern zu den gotischen Kathedralen Frankreichs, laßt sie wandern zu dem Wunderland Italien und zum ewigen Rom, laßt sie wandern zu den Schätzen der kultursatten Niederlande und alle nationalistische Verbildung und Einbildung wird von ihr abfallen wie welkes Laub von den Bäumen! Macht die Wunderwelt der Alpen zu einem großen Ferienlager und Treffpunkt der europäischen Jugend! Laßt sie gemeinsam die hohen Gipfel ersteigen, wo der Hauch der Grüfte sie nicht mehr erreicht, wo ihre Gedanken groß und weit werden, wo sie sich gegenseitig kennen und schätzen lernt und wir werden es erleben: Der europäische Gedanke wird wachsen! Die Jugend, die noch glauben kann, die muß Europa schaffen!

Die Verwirklichung der Europaidee kann nicht verschoben werden auf eine spätere Zeit! Die Geschichte der kleinen Nationalstaaten ist zu Ende und die Stunde des Weltstaates ist noch nicht gekommen. Die Gegenwart ist beherrscht von den amerikanischen und russischen Großimperien. Neue Imperien sind im Werden, im chinesischen, im indischen und im südamerikanischen Raum. Der Vorsprung des großen Raumes, des größeren wirtschaftlichen Potentials, der wird ihnen bleiben. Eine wirtschaftliche Erholung und ein wirtschaftlicher Konkurrenzkampf mit den Großimperien ist bei der Kleinwelt der historischen europäischen Staaten unmöglich. Wir erleben im Augenblick das Ende des kolonialen Zeitalters; die asiatischen Völker sind erwacht und sie fordern ihre Eigenstaatlichkeit. Ungeheure Wandlungen bahnen sich an, was zögern wir noch? Die 1000jährige Vorherrschaft Europas ist dahin und sie wird nicht wiederkehren!

Was zaudern wir noch? Wir dürfen nicht warten bis die Erinnerung an den zweiten furchtbaren Weltkrieg zu verblassen beginnt! Jetzt muß gehandelt werden! Der Größe des Unglücks, das hinter uns liegt, muß die Größe einer neuen Erkenntnis und eines neuen Wollens entsprechen. Wir leben in einer harten, aber doch auch in einer großen Zeit. Von Bismarck stammt das Wort, daß der Politiker Gottes Schritte in der Weltgeschichte hören, daß er da zugreifen und einen Zipfel seines Mantels erfassen müsse.

Nach den Erfahrungen, die wir mit dem Deutschen Bund des Wiener Kongresses von 1815 gemacht haben, der nicht verhindern konnte, daß seine zwei Hauptmitglieder 50 Jahre später wieder miteinander Krieg führten, wollen wir auch keinen wackeligen Europäischen Bund, sondern einen festgefügten Europäischen Bundesstaat.

Die Größe der Aufgabe, die Länge des Weges schreckt uns nicht. Es denken und arbeiten an der Verwirklichung Europa viele Menschen so oder so. Wer auch immer heute davon spricht, Europa zu einigen, der läuft nicht mehr Gefahr, als "armer Irrer" zu erscheinen. Höchstens wird man ihm sagen, er möge den Fahrplan nicht überstürzen. So gehen wir daran, die Riesenaufgabe aufzuteilen und die Teilaufgaben klar herauszustellen. Als das Direktorium der Karlspreisgesellschaft überlegte, welchem Mann der diesjährige Karlspreis zuerkennt werden sollte, da fiel der Name Hendrik Brugmans.

Wir hörten vor knapp einem Jahre, daß die Stadt Brügge in Flandern mit Hilfe des belgischen Staates und der Unterstützung des Europarates in Straßburg ein Europa-Kolleg eröffnen wolle, das zu einer europäischen Universität ausgebaut werden soll. Den europäischen Gedanken vom Geistigen her zu unterbauen, eine Forschungsstätte zu schaffen für die Geschichte, die Volkswirtschaft und die Verfassung der europäischen Länder, alle Fragenkomplexe zu studieren, die für das europäische Problem wichtig sind, eine Elite der europäischen Studentenschaft zu versammeln, die der europäischen Idee sich verpflichtet fühlt, welch herrlicher Gedanke, welch vortreffliches Mittel. Und wie bedeutungsvoll wird es sein, daß sich hier das junge Europa kennenlernt und des gemeinsamen abendländischen Geisteserbes sich wieder bewußt wird. Und dieser wahrhaft großen Aufgabe will sich unser Preisträger widmen. Herr Professor Brugmans ist ein gebürtiger Niederländer aus Amsterdam, bekannt in der politischen und wissenschaftlichen Welt seiner Heimat, Professor an der Universität Utrecht und nunmehr Leiter des Europa-Kollegs in Brügge. Wir wollten mit unserer Erwählung ihm danken dafür, was er für den europäischen Gedanken getan. Wir wollten aber ganz besonders die Bedeutung der Aufgabe unterstreichen, die er sich gestellt hat! Wie wollten zugleich eine freundliche Geste machen zu unseren Nachbarn, dem belgischen und dem holländischen Volke, mit denen wir so lange Zeit in freundnachbarlichem Verkehr gestanden haben, bis der Nationalsozialismus diese Freundschaft vernichtete und unseren Nachbarn so bitteres Leid antat. Ich bin sicher, daß ich für alle Aachener sprechen darf, wenn ich sage, daß wir sehnlichst wünschen, daß dieser freundnachbarliche Verkehr bald wieder die alte Häufigkeit und Herzlichkeit erreicht! Wir bitten unsere Nachbarn auch zu bedenken, daß diejenigen, die heute in dem werdenden neuen Deutschland in vorderster Linie stehen, an dem Leid unschuldig sind, das ihnen angetan wurde und daß sie es nicht verhindern konnten.

Wir hoffen, daß unsere bescheidene Geste in unseren Nachbarländern verstanden werden wird!

Hochverehrter Herr Professor!

Sie haben eine Aufgabe übernommen, um die Sie viele beneiden werden. Wir beneiden die Stadt Brügge, dieses Märchen aus dem Mittelalter, um diese hohe Schule. Wir freuen uns über den trefflichen Entschluß, diese Schule in Flandern zu erbauen in dem an Umfang zwar kleinen, aber an kultureller Bedeutung so großen Vlamenlande, dessen Art und Bevölkerung uns so nahe verwandt ist, dessen große Maler Rubens und Pieter Breugel in jedem deutschen Hause hängen. Und seine Dichter? Welcher deutsche Junge hat nicht den "Löwen von Flandern" gelesen, und viele von uns kennen den Guido Gezelle und Felix Timmermans. In diesem Lande, dessen Kultur einen so hohen Rang hat und die so weithin ausgestrahlt ist, hier werden die geistigen Fundamente gelegt für das neue Europa, hier werden die Architekten gebildet, die das europäische Haus bauen sollen. Wir wünschen Ihnen, Herr Professor, den Segen des größten Baumeisters, ohne den kein Haus gebaut werden kann!

Mögen unsere Hoffnungen sich verwirklichen, die von Ihrem Werke eine überaus wichtige Förderung der europäischen Idee erwarten. Möge Ihr Glaube unerschütterlich bleiben und Ihr Wille stark!

So darf ich Ihnen denn nunmehr die Medaille des Karlspreises überreichen.

Darf ich Sie nunmehr namens der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises, namens dieser glänzenden Versammlung und namens der ganzen Stadt Aachen zu dieser Ehrung auf das herzlichste beglückwünschen! Möge es Ihnen nicht ergehen wie dem Moses im alten Testament, der am Ende seines Lebens nach 30jähriger Wüstenwanderung das Land seiner Verheißung nicht mehr betreten, sondern nur von ferne schauen durfte, sondern möge es Ihnen vergönnt sein, das Land Ihrer und unserer Sehnsucht, das Land Europa, nicht nur von ferne zu sehen, sondern es auch zu erleben und zu betreten!

Foto Hendrik Brugmans

Hendrik Brugmans