Rede von Dr. Richard von Weizsäcker, Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland

Rede von Dr. Richard von Weizsäcker, Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland

"Wüßte ich etwas, das zwar nützlich für mich sein könnte, aber schädlich für meine Familie, so würde ich es mir aus dem Kopf schlagen. Wüßte ich etwas, das zwar nützlich für meine Familie sein könnte, aber schädlich für meine Nation, so würde ich mich bemühen, es zu vergessen. Und wüßte ich etwas, das zwar meiner Nation nützlich sein könnte, aber schädlich für Europa und die Menschheit, so würde ich es als ein Verbrechen ansehen."

Über 250 Jahre sind diese Worte alt. Sie stammen von Montesquieu, dem Manne, dem Europa so viel von seiner politischen Kultur verdankt.

Und wie stehen wir heute dazu? Blicken wir mit unseren Gedanken in die umgekehrte Richtung? Vernachlässigen wir die Anliegen der Menschheit und Europas zugunsten der Nation, die Handlungsfähigkeit der Nation zugunsten der gesellschaftlichen Gruppen oder gar die Lebensweise der engeren menschlichen Gemeinschaften zugunsten des Individuums mit seinen ganz persönlichen Forderungen?

Es geht nicht um abstrakte Fragen. Montesquieu ist aktuell wie eh und je. Seine Mahnungen betreffen uns unmittelbar, als Europäer und Demokraten, als Norweger und Deutsche, als Mitbürger und Privatpersonen.

Müssen die europäischen Ideale der Freiheit nach dem Ende des kalten Krieges einem Klima der Renationalisierung unseligen Angedenkens weichen? Zieht erneut, wie im späten 19. Jahrhundert, unter den Völkern Europas Eifersucht ein, jene Leidenschaft, die mit Eifer sucht, was Leiden schafft? Sind wir schon dabei, die Geschichte zu vergessen, mit der Gefahr, daß sie sich wiederholt?

Müssen andererseits die lebenswichtigen Aufgaben, für die wir neben der globalen und der europäischen Zusammenarbeit nach wie vor Provinzialismus weichen? Verkennen wir, daß es doch keine bayerische Verteidigungspolitik geben kann, keine bretonische Handelspolitik, keine schottische Währungspolitik, keine lombardische Energiepolitik, auch wenn die reiche kulturelle Identität und die eigenständige Entwicklung dieser und anderer wunderbarer und unverwechselbarer Regionen Europas nach Kräften gefördert zu werden verdient?

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war Europa vierzig Jahre lang in zwei Lager gespalten. Allzuviel von seinen Ressourcen mußte in diesen Konflikt auf dem eigenen engen Kontinent investiert werden. Dann, als der kalte Krieg zu seinem Ende kam, ging eine tiefe Erleichterung durch alle europäischen Völker. Recht und Würde des Menschen konnten nun, so schien es, allseits geachtet und geschützt werden. Das Ziel einer europäischen Friedensordnung tat sich auf. Nach einem neuen Begriff gemeinsamer Sicherheit wurde gesucht. Sie sollte uns Europäer erlauben, unsere Talente und Mittel in produktivere und dringlichere Aufgaben zu stecken als zur Zeit der Spaltung. Man begann wieder die bekannten Worte von Ortega zu zitieren: "Machten wir heute eine Bilanz unseres geistigen Besitzes, so würde sich herausstellen, daß das meiste davon nicht unserem jeweiligen Vaterland, sondern dem gemeinsamen Fundus entstammt. In uns allen überwiegt der Europäer bei weitem den Deutschen, Spanier, Franzosen ... Vier Fünftel unserer inneren Habe sind europäisches Gemeingut." In unser Blickfeld trat ein Kapitel europäischer Geschichte, in dem wir endlich ernsthaft zusammenwachsen.

Es ist noch keine fünf Jahre her, daß sich diese Stimmung ausbreitete. Es war nicht nur Schwärmerei im Spiel, sondern auch Realismus. Die Europäische Gemeinschaft war zum Magneten für Osteuropa geworden. Sie hatte wesentlich dazu beigetragen, daß dort die Freiheitskräfte und die Reformprozesse in Gang gekommen waren.

Nun ringen wir um die Zukunft der Europäischen Union. Unterschiede und Konflikte der Interessen sind groß. Das darf niemanden überraschen. Jeder einzelne Schritt ist mühsam und bedarf großer Sorgfalt.

Entscheidend nur ist es, die große historische Perspektive nicht aus den Augen zu verlieren. Die Zusammenarbeit, die wir anstreben, hat es in der europäischen Geschichte noch nie gegeben. Der Weg zur Einigung Europas ist die erstaunlichste Entwicklung auf unserem ganzen Globus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie ist weltweit ohne Beispiel.

Um so weniger haben wir einen Grund, in unserer Stimmung von einem Extrem in das andere zu verfallen, vom Glück über das Ende des kalten Krieges im Jahre 1989 zur neuen Fragmentierung, von der gemeinsamen europäischen Hymne zum unüberwindlichen Streit im Detail.

Respekt verdient vor allem, wer sich um die höchst legitimen eigenen Belange im werdenden Europa müht und dennoch an die gemeinsame Zukunft des Kontinents zu denken vermag, auch wenn er nicht gleich alles erreicht. Wir brauchen einen zuversichtlichen langen Atem.

Höchste Achtung zollen möchte ich der jüngsten Debatte im Europaparlament über die Erweiterung der Europäischen Union um die nordischen Länder und Österreich. Dieses Parlament mit seinen noch immer zu geringen demokratischen Befugnissen hat gerade dadurch an Autorität gewonnen wie vielleicht bisher noch nie, daß es sich zu der Größe durchrang, die geschichtlichen Prioritäten richtig zu erkennen, ohne sich vom Gedanken an den noch unzureichenden eigenen parlamentarischen Nutzen daran hindern zu lassen.

Die Verhandlungen über die Erweiterung waren, wie wir alle wissen, schwer genug. Aber gerade dort, wo sie am zähesten verliefen, nämlich im Falle von Norwegen, war das Verhalten der Beteiligten, zumal der Norweger selbst, besonders eindrucksvoll.

Danken möchte ich der Stadt Aachen, daß sie durch ihren Karlspreis heute Norwegen und seine Ministerpräsidentin auszeichnet. Denn die Norweger legen für den europäischen Namen Ehre in der Welt ein. Ihre politische Kultur ist geprägt von Solidarität und Verantwortung. Sie wissen, daß die Menschen in großen, aber auch in kleinen Lebensgemeinschaften aufeinander angewiesen sind. Die Förderung fernab liegender kleinerer Gemeinden, wie Norwegen sie betreibt, ist ohne Beispiel. Sie definieren ihre Nation nicht durch Abgrenzung gegen andere. Es ist ein Land mit tief verwurzelter Demokratie, mit politischer Fairness und einer hochentwickelten Sozialordnung. Und alle machen mit. Die vorbildlich aktive, heitere und faire, allen Teilnehmern, auch bei den Paraolympics, geltende Zustimmung ihrer Mitbürgerinnen und Mitbürger unlängst in Lillehammer war einfach wunderbar.

Gro Harlem Brundtland ist Europäerin im Sinne Montesquieus. Wir haben es in der Laudatio von Ministerpräsident Lubbers gehört. Sie engagiert sich überzeugend für die Schwachen in der südlichen Hemisphäre. Deshalb spürt jeder die Glaubwürdigkeit ihres Eintretens auch für die Fischer im nördlichen Norwegen. Sie denkt an die Welt und die Umwelt, wie es nur wenige Regierungschefs tun. Um so überzeugender wirkt ihr Eintreten für die Belange ihrer eigenen Nation. Sie ist ein Vorbild für das Europa, das wir schaffen wollen.

Gerade komme ich von Beratungen über die Reform der Vereinten Nationen zur dringend notwendigen Stärkung ihrer Handlungsfähigkeit zurück. Dort, in der Völkergemeinschaft der UNO, hat heute kaum ein europäischer Name einen so guten Klang wie der von Frau Brundtland. Deshalb sind wir stolz auf die neue Trägerin unseres europäischen Karlspreises.

Nun geht die Geschichte der europäischen Einigung auf ihrem recht holprigen Weg weiter. Jede Erweiterung hat ihren Einfluß auf die Vertiefung. Die Vertiefung, die wir uns von der sogenannten Norderweiterung erhoffen, liegt im Sinne der Stärkung der Demokratie und der zivilen Gesellschaft in Europa. In der Zukunft dürfen wir die beitrittswilligen Länder Mittel- und Osteuropas nicht enttäuschen. Lassen Sie mich einen anderen Träger des Karlspreises zitieren, Václav Havel: Das Schicksal des Westens entscheidet sich im Osten. Wenn der Westen nicht den Schlüssel zur demokratischen Entwicklung des Ostens findet, wird er letztlich den Schlüssel zur Lösung seiner eigenen Probleme verlieren. Der Eintritt der nordischen Staaten mit ihrem großen, historischen Blick in die Europäische Union würde von unschätzbarem Wert sein für die Schaffung des größeren Europa. Wir Deutschen treten mit Überzeugung für die Einbeziehung unserer mittel- und osteuropäischen Nachbarn in die Union ein, weil wir die Präambel der Römer Verträge ernst nehmen, in der nicht von Westeuropa, sondern von ganz Europa die Rede ist. Keine Demokratie darf ausgeschlossen bleiben, die sich zu dieser politischen Kultur Europas zählt. Auf dem Wege unserer Westpolitik und in der Zusammenarbeit mit unseren westlichen Partnern wollen wir dafür werben.

Das alles ist auch die Grundlage für die europäische Mitverantwortung in der Welt. Die norwegische Ministerpräsidentin hat sie uns in der Nord-Süd-Kommission vorgelebt. Die Solidarität, für die sie eintritt, ist nicht geteilt, die Werte, für die sie streitet, sind nicht danach relativiert, ob es um Norweger oder Angolaner, um Christen, Muslime, um Konfuzianer oder um Hindus geht. Getreu der Devise Montesquieus behält ihre norwegische Politik stets den europäischen und darüber hinaus den globalen Maßstab des "genre humain" im Blick. Es ist diese politische Kultur Europas, die Sie, liebe Frau Brundtland, stärken. Es ist das notwendige und legitime Recht Ihres Volkes, sich den Schritt in die Union gut zu überlegen, ihn ausführlich zu debattieren und demokratisch darüber zu entscheiden. Aber Sie sollen wissen, daß Sie uns willkommen sind, Sie sollen wissen, warum Europa Sie braucht.