Rede von Hans-Dietrich Genscher, Bundesministers des Auswärtigen und Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland

Rede von Hans-Dietrich Genscher, Bundesministers des Auswärtigen und Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland

Sehr verehrter Herr Präsident Colombo,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

wir feiern heute einen bedeutenden Staatsmann Italiens und Europas.

Wir ehren einen Mann, der am Aufbau des demokratischen Italien nach dem Zweiten Weltkrieg maßgeblichen Anteil hat – als Abgeordneter in der Verfassunggebenden Versammlung, als Abgeordneter im Römischen Parlament, als langjähriger Finanzminister und als Ministerpräsident.

Wir ehren einen Mann, der Europa mitgestaltete, der dieses Europa immer zuerst als demokratische Gemeinschaft verstand, deren großes Ziel die Verwirklichung der Menschenrechte ist. Wir ehren den Menschen Emilio Colombo: den aufrechten Demokraten, den Humanisten in der besten Tradition Italiens und Europas. Es hat seine tiefe Rechtfertigung, daß das Europäische Parlament Emilio Colombo zu seinem Präsidenten wählte, daß in seiner Amtszeit ein Fortschritt gelang, von dem wir hoffen, daß er als einer der entscheidenden Schritte in die Geschichte der europäischen Einigung eingehen wird: ich meine die Entscheidung für die direkte Wahl des Europäischen Parlaments.

Wir handeln im Sinne von Emilio Colombo, wenn wir diese Stunde der Ehrung für ihn nutzen, uns auf das besinnen, was Europa für uns bedeutet. Wir erweisen zugleich mit einer solchen Besinnung Italien unsere Referenz, das zur Formung dieses europäischen Charakters so vieles beigetragen hat.

Es ist die Idee vom Wert des Individuums, die Europa zu Europa gemacht hat. Diese Idee entfesselte die schöpferische Initiative des einzelnen mit allen Gefahren der Schrankenlosigkeit, der Hybris, die schon die Griechen der Antike als die eigentliche mit ihrer Kultur anerkannten. Von dieser Idee inspiriert verwandelten die Europäer die Welt, verwandelten sie durch Wissenschaft und Technik auch die materiellen Bedingungen menschlichen Daseins.

Und von dieser Idee ausgehend schufen die Europäer eine neuartige politische Form für das Zusammenleben in Staat und Gesellschaft. Sie verneinten die Vorstellung, daß die Gesellschaft Vorrang vor dem einzelnen hat, daß der einzelne nichts als ein namenloses Rädchen ist. Sie brachen mit allen Vorstellungen, für die die Gesellschaft aus einer herrschenden Minderheit und der großen Masse rechtloser Untertanen besteht. Sie machten es vielmehr zur Aufgabe der politischen Gemeinschaft, eine Ordnung des Zusammenlebens herzustellen, in der der einzelne sich entsprechend seiner Neigungen und Begabungen entfalten kann.

Freiheit, Demokratie – aber Demokratie, in der der Mehrheitswille durch die Schranken der unveräußerlichen Menschenrechte gebunden ist – Gleichheit als Rechtsgleichheit und Chancengleichheit, das Streben nach sozialer Gerechtigkeit, Pluralität und Toleranz das wurden die Grundbegriffe, die Europa konstituierten. Sie sind die gemeinsamen Werte, die die Europäische Gemeinschaft zur Gemeinschaft machen. Sie sind das Band zu den außerhalb der Gemeinschaft stehenden Demokratien Europas. Und sie sind auch das Band zu jenen Europäern, die heute unter einer aufgezwungenen Ideologie leben müssen.

Die offene europäische Gesellschaft – und wir können bei dieser Betrachtung der Grundwerte Amerika als Sproß vom Baume Europas ansehen -, die offene europäische Gesellschaft ist nach wie vor das Zentrum der Kreativität in der Welt. Sie ist die Gesellschaft, die sich dem Wandel am besten anpassen kann, die sich ihm friedlich, ohne Revolution, ohne Gewalt anpassen kann.

Meine Damen und Herren, Freiheit, Gleichberechtigung aller, Pluralität – diese die Europäische Gemeinschaft konstituierenden Prinzipien sind auch die Prinzipien, die Europas Verhältnis zu anderen Staaten leiten. Mit diesen Prinzipien tritt die Europäische Gemeinschaft ein für eine neue Weltordnung. Die Ordnung der Vergangenheit war: Vorherrschaft der einen und Unterordnung der anderen. Zukunft haben allein das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, Gleichberechtigung und partnerschaftliche Zusammenarbeit. Und nur einen solche Ordnung kann in unserer komplexen Welt von über 150 souveränen Staaten funktionsfähig sein.

Für eine Ordnung, die diese Prinzipien verwirklicht, gibt die Europäische Gemeinschaft selbst das Beispiel. Sie ist eine Gemeinschaft, in der alle Staaten, unabhängig von ihrer Größe, an der Gestaltung der gemeinsamen Zukunft gleichberechtigt mitwirken. Die Gemeinschaft lebt Partnerschaft vor.

Sie gibt zugleich das erfolgreiche Beispiel, wie durch regionalen Zusammenschluß Frieden, innere und äußere Freiheit und wirtschaftliches Wachstum gesichert werden können. Sie ist ihrem Wesen nach ein Zusammenschluß europäischer Demokratien, sie steht allen Demokratien Europas offen.

Die Gemeinschaft versteht sich aber nicht als Block gegen unsere östlichen europäischen Nachbarn. Wir suchen vielmehr die friedliche und enge Zusammenarbeit mit ihnen. Unser Streben, die Europäische Gemeinschaft zur Europäischen Union weiterzuentwickeln, und unser Streben nach Entspannung und Zusammenarbeit mit dem Osten stehen nicht im Widerspruch oder in Konkurrenz zueinander, sie ergänzen sich vielmehr. Beides gehört zu unserer europäischen Friedenspolitik.

Europa ist für uns nicht nur Westeuropa. Warschau, Prag und Budapest – um nur diese zu nennen – sind europäische Städte, wie Magdeburg und Dresden deutsche Städte sind. Wir sehen auch die Überwindung der deutschen Teilung nicht als ein europäisches Hindernis, sondern als eine europäische Aufgabe. Wir sind überzeugt, daß die Geschichte mit der bestehenden Trennung unseres Volkes nicht das letzte Wort gesprochen hat.

"Auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wieder erlangt" – so haben wir unser Ziel im Brief zur deutschen Einheit formuliert, so haben wir diesem Ziel einen europäischen Rahmen und einen europäischen Charakter gegeben. Die deutsche Nation, gleichberechtigt und vereint in einer europäischen Friedensordnung, das also meinen wir, wenn wir von Wiedervereinigung sprechen. Es gibt deshalb auch keinen Grund, auf dieses Wort in unserem Sprachgebrauch zu verzichten.

Frieden und partnerschaftliche Zusammenarbeit, dies sind auch die Ziele, die die Europäische Gemeinschaft in ihrer Politik gegenüber den Ländern der Dritten Welt leiten. Wir achten ihre Unabhängigkeit und ihr Recht auf Selbstbestimmung. Das Bekenntnis zur Pluralität, das die innere Ordnung der Mitgliedstaaten und das die Struktur der Gemeinschaft bestimmt, gilt auch für unser Verhältnis zu den Ländern der Dritten Welt. Wir wollen zur Entwicklung einer Weltordnung beitragen, in der alle Staaten ihre politischen, wirtschaftliche und kulturellen Lebensformen in freier Selbstbestimmung gestalten und in der sie in gleichberechtigter Partnerschaft bei der Lösung der gemeinsamen Aufgaben zusammenarbeiten. Das Ansehen, das die Europäische Gemeinschaft in der Dritten Welt genießt, beruht auf der Glaubhaftigkeit ihres Angebots partnerschaftlicher Zusammenarbeit und auf dem Vorbild, das sie selbst für eine solche Partnerschaft gibt.

Meine Damen und Herren, Europa ist zuallererst ein geistiger Begriff. Es wird nicht primär konstituiert durch die geographische Nachbarschaft oder durch die gemeinsamen Interessen. Vielmehr, was uns zu Europäern macht, was die Europäische Gemeinschaft zu einer Gemeinschaft macht – dies ist die geistige Gemeinsamkeit, die Gemeinsamkeit der Werte.

Aus dem Bewußtsein dieser Gemeinsamkeit kam 1945 die Begeisterung des Aufbruchs zu Europa. Wir müssen heute schmerzlich feststellen, daß vieles von dieser Begeisterung verloren ging. Der Hauptgrund ist wohl, daß das Bewußtsein unserer geistigen Einheit zurücktrat hinter eine Konzentration auf wirtschaftliche Fragen, daß der Eindruck entstand, die Einigung Europas sei eine ökonomische und eine technokratische Aufgabe. Ja, man glaubte dabei sogar, listig zu sein. Man erkannte, daß unter den Bedingungen der heutigen Welt der einzelne europäische Staat politisch wie wirtschaftlich zu klein ist, um seine Lebensinteressen wahren zu können.

Man setzte daher auf die Sachzwänge, um die Einigung voranzutreiben. Die Analyse war richtig - die Schlußfolgerung falsch. Sachzwänge, und seien sie noch so stark, können uns nicht die Wertentscheidung für Europa abnehmen. In der Politik geschehen Dinge nicht schon deshalb, weil sie notwendig sind; wäre es so, wir könnten die Lenkung der Staaten gleich dem Computer überlassen.

Politische Verantwortung erfordert, das Notwendige auch möglich zu machen. Die Sachzwänge spielen sicher eine wichtige Rolle. Aber die entscheidende Kraft des Einigungsprozesses ist die innere Kraft, die der Wille zur Freiheit verleiht. Sie ist die allen europäischen Nationen gemeinsame Idee von dem, was Europa seinem Wesen nach ist und sein will.

Wer die europäische Einigung versteht als Aufbau einer europäischen Technokratie zur Schaffung einer effizienten Großraumwirtschaft und zur Sicherung des materiellen Wohlstands, der verschüttet die Quelle, aus der die eigentliche Kraft für die europäische Einigung kommt: Dem Wissen um die Schicksalsgemeinschaft von Staaten, die gemeinsam für Freiheit und Würde der Menschen eintreten.

Gestützt auf dieses europäische Bewußtsein müssen die politisch Verantwortlichen die von ihnen für die Zukunft Europas als notwendig erkannten Entscheidungen auch treffen und sie durchsetzen.

Das freie Europa steht vor großen Herausforderungen. Wir müssen angesichts einer wachsenden militärischen Überlegenheit des Warschauer Pakts in Europa das Gleichgewicht und damit den Frieden sichern.

Dies ist nur möglich zusammen mit den Demokratien Nordamerikas im Rahmen des Nordatlantischen Bündnisses. Aber die europäischen Bündnispartner müssen zur gemeinsamen Verteidigung ihren vollen Beitrag leisten. Das ist auch die beste Garantie, die sich die Europäer für das europäische Engagement der Vereinigten Staaten selbst geben können.

Wer verteidigt werden will, muß sich auch selbst verteidigen wollen. Sicherheit bekommt man nicht geschenkt, und man kann sie auch nicht kaufen. Nicht geringer sind die Herausforderungen auf wirtschaftlichem Gebiet. Wirtschaftliche Stabilität und wirtschaftliches Wachstum erfordern eine ausreichende und sichere Energieversorgung. Auch hier kann sich niemand seiner Verantwortung entziehen; niemand kann sich auf den anderen und dessen Verantwortung herausreden.

Meine Damen und Herren, die Aufgabe, die Dynamik der Europa-Idee zurückzugewinnen, zeigt die besondere Rolle des Europäischen Parlaments innerhalb der europäischen Institutionen. Deshalb ist die erste direkte Wahl des Europäischen Parlaments von so großer Bedeutung. Zum ersten Mal wird das Europäische Parlament aus Abgeordneten bestehen, die europäischer und nicht nur nationaler Fragen wegen gewählt wurden.

Bisher erlebten die Menschen die Europäische Gemeinschaft vor allem als Verhandlungsmaschinerie der Regierungen und als Bürokratie. Nun wird die Europa-Debatte wieder Debatte in einer breiten Öffentlichkeit. Das direkt gewählte Parlament kann zu einem starken Motor der europäischen Entwicklung werden.

Es wird die Frage gestellt: Wie soll das Europäische Parlament zum Motor der Einigung werden, wenn es keine wirklichen Kompetenzen hat? Niemand sollte den Einfluß unterschätzen, den das Europäische Parlament schon bisher auf die Entwicklung Europas hatte. Das Parlament kontrolliert die Europäische Kommission. Es nimmt Stellung zu allen wichtigen Vorschlägen der Kommission. Es kann die Kommission abberufen.

Es hat darüber hinaus bedeutende Haushaltsbefugnisse gerade in den Ausgabenbereichen, die, wie die Sozial-, die Regional- oder die Forschungspolitik für den weiteren Ausbau der Gemeinschaft von besonderer Bedeutung sind.

Schon die Tatsache der direkten Wahl wird dem Europäischen Parlament größeres politisches Gewicht und größere Autorität geben. Es muß dieses größere Gewicht nutzen, die ihm durch die Römischen Verträge gegebenen Kompetenzen voll wahrzunehmen. Und es wird dieses Gewicht, dies liegt in der Natur der Sache, auch zu nutzen versuchen, neue Kompetenzen hinzuzuerwerben. Dazu ist es erforderlich, daß jeder einzelne Mitgliedstaat der Gemeinschaft einer solchen Erweiterung der Kompetenzen, und das heißt einer Änderung der Römischen Verträge zustimmt. Dazu ist es notwendig, daß in allen Mitgliedstaaten das europäische Bewußtsein dafür reif ist.

Es liegt in der Hand des neuen Parlaments, durch seine Arbeit zu dieser Bewußtseinsbildung beizutragen. Es wird Aufgabe des Parlaments sein, bei der Formulierung der konkreten Aufgaben Europas die Stimme der Bürger zu sein, ihre Sorgen und ihre Prioritäten zur Geltung zu bringen. Es sollte Aufgabe des Parlaments sein, einen europäischen Grundrechtskatalog zu erarbeiten.

Es sollte Aufgabe des Parlaments ein, einen Verfassungsentwurf für die Europäische Union zu erarbeiten, einen Entwurf, der durch eine föderale Struktur der Vielfalt und des Reichtums der europäischen Kultur und seinen Nationen gerecht wird.

Bundespräsident Scheel sagte vor zwei Jahren an dieser Stelle: "Die Europäische Union ist die politische Form, in der das Eigene, das Besondere jeden Volkes am besten zu sich selber kommt."

Und er fügte hinzu: "Denn der Nationalstaat isoliert das Besondere der eigenen Nation, er überbetont es, er setzt die Akzente falsch".

Meine Damen und Herren, als im 19. Jahrhundert Deutschland und Italien sich zu Einheitsstaaten zusammenschlossen, stand das Thema der nationalen Einigung im Mittelpunkt nicht nur der politischen Diskussion, sondern des ganzen geistigen Lebens. Wir werden Europas Einigung nur erreichen, wenn es uns nun gelingt, die Einigung Europas zu einem Mittelpunkt unserer Debatten zu machen. Die direkte Wahl rückt das Europäische Parlament in den Blickpunkt der Öffentlichkeit.

Je größer die Wahlbeteiligung ist, um so stärker wird seine Legitimation sein. Europa braucht diese Legitimation. Dieses Europa steht für die große geschichtliche Idee von der Freiheit und Würde des Menschen. Wir verwirklichen diese Idee bei uns selbst, und wir wollen sie in die Welt ausstrahlen. Freiheit ist immer verbunden mit Risiko. Wir sind uns des Risikos bewußt, daß sich die Idee der Freiheit loslöst von der Idee der Verantwortung gegenüber dem Ganzen, daß sie zu schrankenlosem Egoismus der einzelnen und der einzelnen Gruppen entarten kann.

Wir sind uns auch bewußt, daß das Lebensziel der Selbstverwirklichung des Individuums sich geistig entleeren und zum Ziel bloßer Konsumsteigerung herabsinken kann. Es ist unsere Verantwortung für Europa und für die Welt, daß wir uns auch unter den Bedingungen der modernen Massengesellschaft als fähig erweisen, einen harmonischen Ausgleich zwischen der Freiheit des einzelnen und den Erfordernissen der Gemeinschaft herzustellen.

Europa muß zeigen, daß freie Gesellschaft und der freiheitlich-demokratische Staat nicht nur ein schönes Ideal sind, sondern daß sie auf Erden dauerhaft verwirklicht werden können.

Die Träger des Karlspreises der Stadt Aachen sind Garanten dieses Europas. Emilio Colombo, dem ich die herzlichen Glückwünsche der Bundesregierung ausspreche, reiht sich würdig in ihren Kreis ein.