Rede von Edward Heath

Rede von Edward Heath

Vor mehr als 25 Jahren kam ich zum ersten Mal als Student aus Oxford in diese altehrwürdige Stadt. Die Hauptstadt des Reichs Karls des Großen. Ich kann mich noch gut an den Lärm und die Betriebsamkeit erinnern, die damals und bei späteren Besuchen vor dem Krieg auf dem Bahnhof dieser Grenzstadt herrschten.

Ich kann mich auf noch lebhaft an die Erregung erinnern, mit der man durch dieses westliche Tor nach Deutschland fuhr. Es war damals ganz natürlich für uns, wenn wir auch noch so arm waren, wie es Studenten normalerweise sind, den Kanal zu überqueren und Mittel und Wege zu finden, um Europa zu erforschen. Denn Europa war immer noch der Mittelpunkt der Welt; die Mehrheit der großen Mächte stammten von diesem Kontinent. Es war tatsächlich der Brennpunkt des internationalen Geschehens; doch schnell zogen die Wolken des Krieges über ihm auf. Die Reise war für uns auch aus dem Grund ganz natürlich, weil die Jugend Europas vor dem gleichen Hintergrund aufwuchs: Wir wußten, daß der politische Kampf, der damals ausgetragen wurde, jeden einzelnen von uns berührte und uns sogar persönlich in eine Katastrophe hineinziehen konnte. Dennoch, obgleich erbitterte Gegner einiger der politischen Regime, erforschten wir die Länder Europas mit dem ganzen Vertrauen und Idealismus der Jugend.

Als ich das nächste Mal nach Aachen kam, trug die Stadt überall die Spuren der Zerstörung, denn sie hatte durch den Krieg stark gelitten. Zwischen jenen beiden Besuchen wuchs meine Überzeugung, daß Europa nie wieder gestattet werden dürfe, seinem eigenen Leben und Erbe auf diese Weise Schaden zuzufügen. Viele meiner Landsleute und Millionen Menschen in ganz Europa teilten diese Überzeugung. Heute, an diesem denkwürdigen Tag, finde ich eine andere Stadt vor: wiederaufgebaut, mit verjüngtem Leben und neuer Vitalität und das blühende Zentrum dieses historischen Gebiets. Für viele wird sie die Entwicklung des europäischen Lebens symbolisieren: von den Haßgefühlen und Gegensätzen der dreißiger Jahre über den Hader und die Vernichtung der vierziger Jahre bis zur Versöhnung und dem friedlichen Wiederaufbau der fünfziger Jahre und der Zukunft, die vor uns liegt. Für mich zeigt diese Entwicklung eindeutig, wie viele - wenn auch nicht alle - der früheren Ideale so vieler Menschen meiner Generation bereits verwirklicht worden sind.

Heute, Herr Oberbürgermeister, haben Sie und Ihre Mitbürger mir eine große Ehre erwiesen. Wenn ich an die überragenden Persönlichkeiten der modernen europäischen und der Weltgeschichte denke, die vor mir an dieser Stelle gestanden haben, erkenne ich, wie wahrhaft groß diese Ehre ist. Ich bin aufrichtig dankbar. Es ist ein Privileg, an diesem Himmelfahrtstag hier zu sein und den Preis aus Ihren Händen entgegenzunehmen. Was es aber für mich persönlich zu einer besonderen Freude macht, ist, mich hier im Kreis so vieler Freunde zu finden: unter ihnen einige, die diesen Preis erhalten haben, und andere, die so eng mit uns während der Brüsseler Verhandlungen zusammenarbeiteten. Es ist mir eine große Freude, Vizekanzler Erhard begrüßen zu dürfen, der soeben aus Genf gekommen ist, wo er sich so energisch und so erfolgreich für eine Einigung innerhalb der GATT-Verhandlungen eingesetzt hat, und auch Herrn Minister Scheel hier heute unter uns zu sehen.

Jeder meiner Vorgänger hat seinen eigenen hervorragenden Beitrag zur gemeinsamen Sache der europäischen Einheit geleistet. Vielleicht darf ich eine Reihe von ihnen besonders erwähnen.

Wenn ich zuerst von Sir Winston Churchill spreche, dann nicht allein, weil er ein Staatsmann von europäischem und Weltformat ist, und auch nicht, weil er mein Landsmann ist und ich während seiner Zeit als Premierminister Kabinettsmitglied war, sondern weil ich einige seiner Worte zitieren möchte, die er 1946 in Zürich sprach. Vor kurzem hörte ich mir eine Aufnahme seiner Rede an, die unlängst entdeckt worden war. Laut und deutlich ertönten folgende eindrucksvolle Worte:

"Der erste Schritt bei der Wiederherstellung der europäischen Familie muß eine Partnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland sein."
Und dann rief er in seinem berühmten Schlußappell Europa zur Einigung auf.

Rückblickend können wir heute vielleicht besser als damals den Mut und Weitblick dieses großen Mannes würdigen, der diesen Appell an die Welt richtete, nachdem der Krieg kaum mehr als ein Jahr zu Ende war. Sein Werk wurde vom gegenwärtigen britischen Premierminister Harold Macmillan fortgeführt. Ihm fiel es zu, einer Regierung vorzustehen, die mit der Unterstützung des Parlaments die Verhandlungen in Brüssel aufnahm. Sein Name wird stets mit dem verbunden sein, was man überall in der Welt als eine historische Entscheidung anerkannt hat.

Bundeskanzler Adenauer, dem Begründer der modernen deutschen Demokratie und einem weiteren Manne, den Sie geehrt haben, fiel es zu, Schöpfer der Annäherung zwischen dem französischen und dem deutschen Volk zu werden. Jeder aufrichtige Europäer muß dies als einen der größten Einzelbeiträge zum künftigen Frieden und Wohlstand unseres Kontinents anerkennen. Die deutsch-französische Freundschaft ist eine wesentliche Voraussetzung für die Einigung Europas auf demokratischer Grundlage und im Geist gleicher Rechte für alle Mitglieder. Wir in Großbritannien begrüßen daher den deutsch-französischen Vertrag. Die Präambel zu dem deutschen Ratifizierungsgesetz stellt klar, daß dies kein Exklusiv-Verhältnis ist. Und das ist recht so. Denn das gute Einvernehmen in Europa kann sich nur auf Partnerschaft und nicht auf Exklusivität gründen. Wir in Großbritannien wünschen eine enge Freundschaft und Zusammenarbeit mit diesen beiden großen Ländern ebenso wie mit den anderen Mitgliedern der europäischen Familie. Doch Zusammenarbeit darf keine einseitige Angelegenheit sein. Großbritannien bietet sie heute allen seien Kollegen in Europa an. Es ist bedauerlich, wenn das Echo unvollständig ist.

Lassen Sie mich auch einigen jener Männer in Europa Tribut zollen, die in den letzten drei Jahren so eng mit uns zusammengearbeitet haben: Jean Monnet, dem wir alle in Europa Dank schulden, nicht nur für seine schöpferische Arbeit als Gründer europäischer Institutionen, sondern auch für die konstruktiven Gedanken, die er der Entwicklung der Gemeinschaften widmet, und für die unermüdliche Energie, mit der er uns die Vision von einem größeren Europa ständig vor Augen hält. Paul Henri Spaak, den wir kürzlich anläßlich des Staatsbesuchs des belgischen Königspaares mit so großer Freude in London begrüßt haben, und der ständig seine Entschlossenheit unter Beweis stellt, die Ziele der Verträge von Paris und Rom zu verwirklichen. Und schließlich meinem unmittelbaren Vorgänger an dieser Stelle, Professor Walter Hallstein, dem Präsidenten der EWG-Kommission, der zu unserer Freude in dieser Woche für einige Tage nach London kommen wird. Wir beide haben uns in den letzten zwei Jahren gut kennengelernt. Wenn die Kommission das Gewissen der Gemeinschaft ist, dann ist er zweifellos der Hüter des Gewissens der Gemeinschaft. Sein Amt repräsentiert den europäischen Gedanken in seiner modernsten und wirksamsten Form - er ist die Verkörperung des "esprit communautaire".

Ihre freundlichen Worte, Herr Oberbürgermeister, haben mich tief bewegt, und ich weiß die Anerkennung, die Vizekanzler Professor Erhard und der Präsident der EWG-Kommission, Professor Hallstein, mir mit dem ihnen eigenen Großmut gezollt haben, sehr zu schätzen. Mein Dank gehört aber nicht nur all denen, die heute hier gesprochen haben, sondern auch dem Direktorium des Internationalen Karlspreises und den Bürgern der Stadt Aachen, die hinter ihnen stehen.

Aber in meinen Augen ist diese Ehrung mehr als eine nur mich persönlich betreffende Angelegenheit. Für mich ist es eine große Ermutigung, daß Sie gerade den jetzigen Zeitpunkt gewählt haben, um meinem Land diese Ehre zu erweisen. Sie haben damit bekundet, daß Großbritannien in der Entwicklung einer engeren und umfassenderen Einheit in Europa eine wichtige Rolle zu spielen hat. Zwar trifft es zu, daß Großbritannien dem Europa Karls des Großen nicht angehörte, obgleich englische Gelehrte und Priester viel dazu beitrugen und hier in Aachen eine bedeutende Rolle am Hofe Karls des Großen spielten - ja, zu seiner Zeit bestand auf dem Kontinent größere politische Einheit als auf der Insel, die damals noch in eine Vielzahl winziger Königreiche aufgespalten war. Aber wir in Großbritannien sind seine Miterben. In meiner Erklärung, die ich bei der Eröffnung der EWG-Verhandlungen am 10. Oktober 1961 in Paris abgab, sagte ich folgendes:
"Wenn wir sagen, daß wir der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beizutreten wünschen, dann meinen wir damit, daß wir volle, aufrichtige und aktive Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft in ihrem weitesten Sinne werden und gemeinsam mit Ihnen am Bau eines neuen Europa mitarbeiten wollen."

Mit der Verleihung dieses Preises haben auch Sie diesen Wunsch bekräftigt.

Auch die Arbeit der britischen Delegation als Ganzes, die Freundschaft zwischen Kollegen und das auf gegenseitiger Achtung basierende Vertrauen zwischen Delegationen findet durch den heutigen Tag internationale Anerkennung. Freundschaft und Vertrauen allein können noch keine Lösung schaffen, aber sie können bei Verhandlungen unschätzbare Hilfen sein.

Die Verhandlungen waren zweifellos einzigartig - nicht nur hinsichtlich ihres Umfangs und ihrer Schwierigkeiten, sondern auch in Bezug auf ihre Struktur. Sie basierte darauf, daß die sieben Regierungen zusammen mit der Europäischen Wirtschaftskommission um den Konferenztisch versammelt waren und daß auch die Regierungen der "Sechs" als eine Gemeinschaft sprachen. Gestatten Sie, daß meine Gedanken hier einen Augenblick verweilen. Bei den langen und unregelmäßigen Stunden harter Arbeit, oft bis tief in die Nacht und unterbrochen von Zeiten scheinbarer Untätigkeit. Das ist wohlbekannt. Aber damit war es nicht abgetan. Es gab geistige Duelle, als jeder strittige Punkt ausführlich erörtert wurde, wobei sich oft deutliche Unterschiede in der Bildungstradition und geistigen Schulung zeigten; dadurch entstand der Gegensatz zwischen dem pragmatischen und dem systematischen Vorgehen, obwohl dessen ungeachtet beide Methoden innerhalb der Gemeinschaft fruchtbar miteinander verschmolzen werden konnten. Das harte Verhandeln im Konferenzsaal wurde abgelöst durch freundschaftlichen und geselligen Gedankenaustausch bei Tisch. Das ständige Auf-die-Probe-Stellen der Einfallskraft bei der Suche nach Lösungen, die gemeinsame Befriedigung, wenn in einer speziellen Frage Übereinstimmung erzielt worden war, die flüchtigen Augenblicke des Humors - all dies trug fast 18 Monate zum Verhandlungsleben in Brüssel bei und verdient hohes Lob.

Der Entschluß Ihrer Stadt, Herr Oberbürgermeister, beweist ebenfalls, daß die Verhandlungen an sich, trotz ihres erfolglosen Ausgangs, in nicht geringem Maße zur Sache der europäischen Einheit beigetragen haben. Sie haben sowohl auf die Gemeinschaft als auch auf Großbritannien ihre Wirkung ausgeübt. Keiner von uns und auch nicht die anderen beteiligten europäischen Länder können jemals wieder ganz dieselben sein. Was also haben wir alle gewonnen?

Wir in Großbritannien, vor allem die jüngere Generation, haben ein Verständnis für die Natur und die Möglichkeiten der Gemeinschaft erworben, wie wir es andernfalls niemals hätten gewinnen können. Als Ergebnis machten sich Millionen von Menschen klar, daß in vielen Aspekten unseres nationalen Lebens ein Wandel erforderlich wäre, wenn Großbritannien Vollmitglied der Gemeinschaft werden würde. Ich bin überzeugt, daß sie durchaus bereit gewesen wären, diese Veränderungen vorzunehmen, und einige davon werden in der Tat bereits durchgeführt.

Auch glaube ich, daß die Gemeinschaft ebenfalls ein besseres Verständnis ihrer selbst und der Bedeutung ihrer Beziehungen zur Außenwelt gewonnen hat. Insbesondere ist sie von Grund auf mit der Natur und den Problemen des modernen Commonwealth vertraut geworden. Infolge dieser Erfahrung hat sie durch ein Fenster auf die viel größere Welt draußen geblickt und ist sich ihrer dortigen Verpflichtungen bewußt geworden. Bei näherer Betrachtung sind diese vielleicht nicht ganz so furchterregend, wie es auf den ersten Blick scheint.

Ich war mir stets zutiefst der Tatsache bewußt, daß diese Verhandlungen die Gemeinschaft zwangen, ihre außenwirtschaftlichen und zum Teil sogar ihre außenpolitischen Beziehungen sehr viel rascher zu formulieren, als sie es andernfalls möglicherweise getan hätte. Rückblickend glaube ich nicht, daß das eine gar so schlechte Sache war. Es bleibt bemerkenswert, daß wir in dieser Hinsicht auf so umfassenden Gebieten in so kurzer Zeit Einigung erzielten. Ich brauche nur die geplante Anwendung der Assoziierung gemäß Teil IV des Vertrags von Rom zu erwähnen, die Sonderabmachungen für Indien, Pakistan und Ceylon und die Verpflichtung, auf internationale Warenabkommen hinzuarbeiten und innerhalb der Gemeinschaft eine Politik der vernünftigen Preise zu verfolgen. Wenn diese Abkommen endgültig abgeschlossen und in Kraft gesetzt worden wären, so hätten sie, glaube ich, dazu geführt, daß die erweiterte Gemeinschaft die Basis des nach außen blickenden Europas geworden wäre, das wir in Großbritannien wünschen. Es ist bemerkenswert, daß viele Vorschläge jetzt erneut entweder innerhalb der Gemeinschaft oder in internationalen Organisationen erörtert werden. Sie können sich durchaus als wertvoll erweisen, trotz der Tatsache, daß Großbritannien nicht Mitglied der Gemeinschaft ist.

Natürlich ging es bei vielen dieser Vorschläge um detaillierte Handelsfragen. Eine der kompliziertesten betraf die Regelung für Textilien. Hieran ist nicht Ungewöhnliches. Der erste Handelsvertrag der englischen Geschichte wurde im Jahre 796 zwischen Karl dem Großen und König Offa von Mercia geschlossen. Unsere Exporteure hatten schon in jenen Tagen ihre Schwierigkeiten. Karl der Große beklagte sich, daß die von den englischen Webern gelieferten Mäntel für den fränkischen Geschmack zu kurz seien und so mußte dieser Mangel behoben werden. Aber zumindest waren die Handelsbeziehungen hergestellt, und ich bin froh, sagen zu können, daß die britische Ausfuhr seither im großen und ganzen ständig gestiegen ist. Aber um zu meinem Thema zurückzukehren: Soviel Zeit auch in Brüssel auf wirtschaftliche Einzelheiten verwandt wurde, der überragende Zweck der ganzen Verhandlungen, die Schaffung einer erweiterten Europäischen Gemeinschaft, blieb immer im Vordergrund unseres Trachtens.

Natürlich äußerten manche in Großbritannien Zweifel an diesem Zweck. Was waren die Gründe dafür? In manchen Fällen hatten sie ihren Ursprung in Besorgnis angesichts eines Wandels, der manchmal ins Unbekannte zu führen schien. In anderen Fällen gründeten sie sich auf Anschauungen, die nicht mit den Veränderungen der modernen Welt Schritt gehalten hatten - Veränderungen im Kräftegleichgewicht, in der atomaren Strategie, der institutionellen Organisation und der menschlichen Gesellschaft. In wieder anderen Fällen beruhten die Zweifel auf der Bedrohung spezieller Interessen, obwohl fairerweise gesagt werden muß, daß diese Einwände nur sehr selten erhoben wurden.

Aber ein starker, dominierender und auf lange Sicht auch bedeutsamer Faktor war gewiß der Zweifel, der durch die instinktive Frage aufgeworfen wurde: "Wie kann ich als Staatsbürger an diesem Prozeß mitwirken, bei dem wir als Land um Mitwirkung bitten?" Dem Staatsbürger, der daran gewöhnt ist, sich seinen Kummer am Dorfbrunnen von der Seele zu reden, mit den Mitgliedern des Gemeinderats zu sprechen, an den Versammlungen für die Wahl der Vertreter seiner Grafschaft teilzunehmen und an den Unterhausabgeordneten seines Wahlkreises zu schreiben, drängte sich natürlich die Frage auf, wie er mit seinen Ansichten diejenigen beeinflussen könnte, die für so vieles verantwortlich sein würden, was ihn in der neuen Organisation angeht. In dieser Sphäre muß vielleicht bei der Entwicklung der europäischen Institutionen in der unmittelbaren Zukunft am meisten getan werden. Ich wage zu behaupten, daß eine stärkere demokratische Kontrolle notwendig ist, wenn der Staatsbürger nicht nur spüren soll, daß seinen Interessen mit einer umfassenderen europäischen Einheit gedient wird, sondern auch daß er an ihrer Entwicklung teilhat. Auch auf diesem Gebiet könnte Großbritannien einen unschätzbaren Beitrag leisten.

Was sind die Merkmale dieser europäischen Einheit? Wir sind eine geographische Einheit. Wir brauchen nicht auf die Landmasse, die Täler und die Flüsse des Pleozen und des Diluvium zurückzugehen, um dies bestätigt zu finden. Wir haben als gemeinsamen Hintergrund eine christliche Kultur und Zivilisation, die durch Karl den Großen und den Engländer Alcuin als seinem engsten Mitarbeiter neu belebt wurde. Wir haben dieselbe Industriegesellschaft, dasselbe vitale Interesse am Welthandel und jetzt zum ersten Mal dieselben strategischen Interessen. Darüber hinaus gibt es unendlich viele Unterschiede zwischen uns. Gerade die Wechselwirkung dieser verschiedenartigen Elemente vor demselben Hintergrund kann so viele dazu beitragen, zur Aktivität anzuregen und Lösungen für unsere gegenwärtigen Probleme zu finden, die sich nicht durch dumpfe Einförmigkeit, sondern durch lebendige Individualität auszeichnen.

Natürlich gibt es Differenzen zwischen uns; wenn wir aber unsere Ziele erreichen wollen, ist es ratsam, sich auf das Einigende statt auf das Trennende zu konzentrieren.

Ein weiteres Merkmal ist der Wunsch, dieses Europa sich ausweiten und seinen Einfluß in der ganzen Welt verstärken zu sehen. Heute sind seine Länder stark und prosperierend. Es ist natürlich, daß sie dies gemeinsam in ihrer Politik, in Maßnahmen zu ihrer Verteidigung und in ihren Beziehungen zu anderen Mächten zum Ausdruck bringen wollen.

Jene, die am härtesten für die Ausrottung der Elemente des Nationalismus gearbeitet haben, von denen Europa in der Vergangenheit so oft zerrissen wurde, setzen sich heute mit dem größten Enthusiasmus dafür ein, daß Europa seine eigene Persönlichkeit entfaltet. Europa hält die Zeit wieder für gekommen, daß man ihm voll Rechnung tragen muß.

Aber wir werden von der Geschichte nicht nur nach dem Erfolg beurteilt, mit dem wir eine engere Einheit in Europa erreichen, sondern auch nach den Beziehungen, die wir in Europa zu der übrigen Welt herzustellen vermögen.

Für Karl den Großen konnte die Einheit Europas ein Endziel sein, weil Europa für ihn die Welt war. Für uns kann sie nur das Mittel zum Ziel sein. Unser Ziel muß es sein, daß Europa weiterhin eine führende Rolle in einer Welt spielt, in der es nicht mehr das einzige Macht- und Einflußzentrum ist. Für die Zukunft sehen wir uns also zwei Fragen gegenüber. Erstens, soll die Gemeinschaft um neue Mitglieder erweitert werden, soll es eine größere Einheit in Europa geben?

Ich war mir von jeher der Probleme bewußt, die sich für die Organisation und Verwaltung der Gemeinschaft durch die Aufnahme von drei oder vier neuen Mitgliedern ergeben. Aber diese Probleme sind, wie ich glaube, zu überwinden.

Um die Frage auf eine andere Weise zu stellen: Sollen die derzeitigen wirtschaftlichen Spaltungen und die damit verbundenen Gefahren für die politische Einheit und Sicherheit des Kontinents beseitigt werden? Oder sollen sie mit automatisch zunehmender Diskriminierung größer werden?

Solange die Aussicht auf einen erweiterten europäischen Markt bestand, wurden die Folgen dieser Spaltungen gemildert. Wenn alle Hoffnungen schwinden, werden die Auswirkungen dieser Differenzen wieder in verstärktem Maße spürbar werden.

Können die Länder Europas in Zukunft auf politischem und militärischem Gebiet gemeinsam handeln, wenn es wirtschaftlich in zwei Gruppen gespalten bleibt? Es besteht die Gefahr, daß sie auf lange Sicht vielleicht nicht dazu in der Lage sein werden. Welche Lehre wir alle daraus zu ziehen haben, ist klar.

Bei der zweiten Frage geht es darum, wie Europa seien Beziehungen zur Außenwelt, insbesondere zu den Vereinigten Staaten, gestalten soll. Die hier auftretenden Schwierigkeiten charakterisieren die Probleme, die sich aus der ständigen Anpassung der Kräfte in der modernen Welt ergeben. Die Vereinigten Staaten gingen aus dem Krieg als eine der beiden großen Weltmächte hervor. Sie retteten Westeuropa vor der sowjetischen Herrschaft, und auch heute noch tragen sie beträchtlich zu seiner Sicherheit bei. Dennoch sehen hier einige eine Ursache für Reibungen und Kontroversen. Einem starken und selbstbewußten Europa muß es doch möglich sein, die Unterstützung, die es noch von anderen erhält, großmütig anzuerkennen und gleichzeitig jenen seine Hilfe zukommen zu lassen, die ihrer am meisten bedürfen.

Die Verleihung dieses Preises an General Marshall im Jahre 1959 hat bewiesen, daß Ihr Volk, Herr Oberbürgermeister, die fortgesetzte Hilfe der Vereinigten Staaten und die Bedeutung der atlantischen Partnerschaft für uns alle zu würdigen wußte.

Wir hier sind uns alle bewußt, daß es europäische Eigenschaften gibt, die wir fördern sollten, weil sie uns die Pflicht auferlegen, in internationalen Gremien zu sprechen und das Recht geben, dort gehört zu werden. Welches sind diese Eigenschaften?

Erstens sind wir heute von der Notwendigkeit überzeugt, daß wir in unseren Beziehungen zueinander Toleranz üben müssen. In unserem innerstaatlichen Leben sind Toleranz der Mehrheit gegenüber der Minderheit und die Bereitschaft der Minderheit, sich dem Willen der Mehrheit zu fügen, das eigentliche Fundament der demokratischen parlamentarischen Regierung - eines Systems, von dem die Engländer behaupten können, es erfunden zu haben.

Auf internationaler Ebene sind Toleranz und Kompromißbereitschaft die Grundalge von Partnerschaft und Zusammenarbeit. Auch hier ist Europa, besonders in den letzten 15 Jahren, der Schrittmacher gewesen.

Wir haben endlich einsehen gelernt, daß Feindschaft zwischen Rassen, Glaubensbekenntnissen und Staaten nur zu Chaos und Vernichtung führen kann. Auf lange Sicht macht sich Toleranz bezahlt, und dies ist die erste Lehre, die wir an die Welt weitergeben können. Um das tun zu können, müssen wir unsere demokratischen Institutionen im eigenen Land schützen und stärken und uns als gute Verbündete und loyale Freunde erweisen - sowohl in unseren Beziehungen untereinander als auch zu den außereuropäischen Nationen, mit denen wir schicksalhaft verbunden sind.

Zweitens sind wir von der Notwendigkeit überzeugt, daß die Reichen und Mächtigen den Armen und Schwachen helfen müssen. Teilweise wurzelt diese Erkenntnis im christlichen Charakter unserer Kultur.

Aber wir haben auch durch bittere Erfahrung gelernt, daß unsere Sicherheit und Prosperität nur Bestand haben kann, wenn auch andere Länder Sicherheit und Wohlstand genießen. Wir sollten gemeinsam und zusammen mit unseren transatlantischen Verbündeten, die unsere grundlegenden Interessen teilen, ständig nach Wegen suchen, die es den Entwicklungsländern ermöglichen, in wachsendem Maß an unserer Prosperität teilzuhaben. Hilfe allein genügt hier nicht. Wir müssen auch bereit sein, unsere Märkte ihren Exporten zu öffnen, selbst wenn wir in unseren eigenen Ländern manche Opfer dafür bringen müssen.

Die dritte europäische Eigenschaft besteht darin, daß wir im großen und ganzen mit der Zeit gehen. Im allgemeinen sind wir weder an doktrinäre Überzeugungen gefesselt, noch neigen wir zu plötzlichen Impulsen. Wir sind verhältnismäßig gut in der Lage, die Tatsachen des internationalen Lebens nüchtern zu betrachten und die richtigen Schlüsse aus ihnen zu ziehen, so revolutionär oder gar abstoßend sie auch sein mögen. Diese Fähigkeit, den Tatsachen ins Auge zu sehen, hat es den großen europäischen Kolonialmächten ermöglicht, ihre überseeischen Besitzungen aufzugeben und trotz mancher Schwierigkeiten und Rückschläge ihre ehemaligen Kolonien in dem kurzen Zeitraum nach dem Krieg zur Unabhängigkeit zu führen.

Ich denke hier nicht nur an die Umwandlung des Britischen Empire in das neue Commonwealth, sondern auch an das neue Verhältnis, das die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft zu ihren assoziierten überseeischen Gebieten aufbaut. Und natürlich sind die Europäischen Gemeinschaften selber das überragende Beispiel für Europas Fähigkeit, neue Lösungen für die großen Probleme unserer Zeit zu finden. Demokraten, gute Freunde und Verbündete, Pioniere auf dem Gebiet der technischen Entwicklung, Vorkämpfer für eine größere Freiheit des Handels, Neuerer in der Sphäre der internationalen Zusammenarbeit, führend bei der Lösung von Weltproblemen - so sollte die übrige Welt uns Europäer sehen.

Nur so kann Europa in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Rolle spielen, auf die es dank seines Wohlstandes, seiner Macht und seiner politischen Erfahrung einen Anspruch hat und die das sich herausbildende Gleichgewicht der Welt erfordert.

Wenn jene Europäer, deren Eigenschaften ich zu beschreiben versucht habe, zuversichtlich ihren Überzeugungen vertrauen, zu ihnen stehen und danach handeln, dann muß Europa schließlich zu jener wahren Einheit finden, die seine verdiente hohe Bestimmung ist.