Rede von Dr. Ludwig Erhard, Bundesministers für Wirtschaft und Vizekanzler

Rede von Dr. Ludwig Erhard, Bundesministers für Wirtschaft und Vizekanzler

Herr Oberbürgermeister, meine Herren Präsidenten, Minister, Mitglieder der Europäischen Exekutiven, Exzellenzen, Magnifizenzen, meine Damen und Herren, Herr Lordsiegelbewahrer, verehrter Freund und Kollege Sir Edward Heath!

Gewiß erwarten Sie, daß ich meine große und aufrichtige Freude über die Verleihung des Karlspreises an den Lordsiegelbewahrer Sir Edward Heath ausdrücke. Mit Recht, aber bitte glauben Sie mir, daß ich dies nicht nur sage, sondern daß ich mit starker innerer Beteiligung zu Ihnen spreche, und daß diese festliche Stunde mir weit mehr bedeutet als lediglich die Aufgabe, eine Restrede zu halten. Ich empfinde es vielmehr als Auszeichnung, die Glückwünsche der Bundesregierung überbringen zu können und meine eigenen Glückwünsche hinzufügen zu können. Edward Heath erhielt soeben den Karlspreis 1963 für die höchste Leistung im Dienst der Verständigung und der internationalen Zusammenarbeit in Europa. Das Direktorium hätte, so meine ich, keine bessere und glücklichere Wahl treffen können. Es hat schon von Anfang an einen sicheren Maßstab für Persönlichkeit und Leistung bezeugt, als es am Himmelfahrtstag 1950 den Preis zum ersten Mal an den Grafen Coudenhove-Kalergi verlieh.
Wenn ich die Reihe der Preisträger überblicke, so ist in der Tat eine eindrucksvolle Schar bedeutender Europäer unter dem Siegel Karls des Großen vereinigt worden. Es sind die großen Schrittmacher eines noch nicht voll geeinten Europas und ihre Werke, die hier vor uns stehen: Vom Begründer der Paneuropa-Bewegung über den Anreger des Europarats, den geistigen Vater der OEEC, führende Köpfe der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft bis hin zu Ihnen, lieber Kollege Heath, als dem Verkörperer der Idee eines erweiterten Europas, aufbauend auf der Grundlage der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft.

So scheint es mir zu betonen wert, daß das Direktorium stets weltoffen und frei von Vorurteilen aller Art seine Entscheidungen traf. Ich glaube, daß diese souveräne Selbständigkeit in der Wahl der Preisträger aus der Atmosphäre dieser Stadt, aus seiner Geschichte und dem eigentlichen Wesen Aachens erwächst. Wie sollte man engherzig sein in einer Stadt, die an der Grenze dreier Länder und dreier Sprachgebiete liegt? Ebenso wichtig für diese Weite des Blickes aber ist die große Vergangenheit Aachens und dieses lebendige Bewußtsein in den Herzen seiner Bürger von heute.

Es ist sicherlich kein Zufall, daß zwei Völker den großen Kaiser, der hier Residenz hielt und immer wieder hierhin zurückkehrte, als ihren Kaiser betrachten. Die Zeit, in der man sich darüber stritt, wem dieser Kaiser denn eigentlich gehöre, liegt hinter uns. Der alte Streit ?Karl der Große oder Charlemagne?? – so lautete noch vor rund 30 Jahren ein Buchtitel – ist wesenlos und gegenstandslos geworden. Was könnte dies deutlicher zeigen als der im Deutschen Bundestag heute vor einer Woche ratifizierte Vertrag zwischen der Bundesrepublik und Frankreich – oder, wenn ich es juristisch unscharf aber historisch exakter sagen darf: Die Versöhnung zwischen dem deutschen und dem französischen Volk. Daß sich dieser Vertrag gegen niemand richtet, daß er keiner Blockbildung dient, sondern zu einer bewegenden Kraft der europäischen Einigung werden soll, dringt allmählich immer tiefer in das Bewußtsein der Weltöffentlichkeit ein. Wie es die Präambel zu dem deutschen Ratifikationsgesetz besagt, ist der Vertrag nur im Rahmen der großen multilateralen Vertragswerke – seien sie atlantischer oder europäischer Art – zu wirken bestimmt.

Ich glaube, daß dieser Hinweis gerade in der Stadt Karls des Großen wichtig ist und eng zum Thema dieser Feier gehört.

Gewiß blicken wir heute über die Grenzen des Reiches Karls des Großen hinaus. Ein gleiches hat auch das Direktorium des Karlspreises getan, d. h. es hat sich dabei nicht auf Europäer – geschweige denn auf Kontinentaleuropäer – beschränkt. Ich denke besonders daran, daß es vor vier Jahren den Amerikaner George C. Marshall ausgezeichnet hat – und dies mit vollem Recht, denn seine Tat gewordene Idee hat nach dem Kriege entscheidend zur Zusammenführung und Wiedererstarkung des zerschlagenen Europas beigetragen. Hierin dürfen wir zugleich ein Symbol dafür erblicken, daß wir das werdende Europa nicht als weltpolitische ?dritte Kraft? in sich begreifen, sondern als die eine aber starke Säule, auf der eine atlantische Partnerschaft beruht.

Nun aber wollen wir unsere Gedanken dem heute Ausgezeichneten zuwenden. Edward Heath ist für die breite kontinentaleuropäische Öffentlichkeit ein Begriff geworden, als er 1961 die Leitung der britischen Delegation in den Beitrittsverhandlungen mit der EWG übernommen hat. Seine Arbeit und seine Persönlichkeit gewannen von Tag zu Tag an Anerkennung und Sympathie, die durch die gescheiterten Verhandlungen nicht kleiner, sondern womöglich noch größer geworden sind.

Edward Heath war bei Beginn der Beitrittsverhandlungen kein Neuling auf dem Gebiete der europäischen Einigung. Ich meine damit nicht, daß er schon ein Jahr vorher, nämlich im Juli 1960 bei seiner Ernennung zum Lordsiegelbewahrer, im Foreign Office mit allen europäischen Fragen betraut wurde. Vielmehr denke ich daran, daß er, wie der Herr Oberbürgermeister hervorgehoben hat, im Unterhaus bereits zehn Jahre vorher, nämlich im Jahre 1950, als kurz zuvor gewählter Abgeordneter seine sogenannte Jungfernrede über den Schumannplan hielt. An der Hinwendung Englands zum Kontinent hat er seinen wichtigen Anteil – jener Wendung, die Walter Hallstein, der vorige Karlspreisträger, eine ?Kopernikanische Wendung? genannt hat. Trotzdem hat die öffentliche Meinung recht, wenn die Edward Heath?s bis heute wichtigste Leistung, seinen schöpferischen Beitrag für das neue größere Europa, in seiner Verhandlungsführung in Brüssel erblickt. Wer ihn dort erlebt hat – und ich habe dieses Glück gehabt – kennt ihn als den unermüdlichen vorbildlichen Verhandler, voller Sachkenntnis bis ins kleinste Detail, mit unerschöpflichem Einfallsreichtum, von natürlicher Freundlichkeit und Herzlichkeit, wachsam und im Besitz einer schier unerschöpflichen Geduld – nie gereizt, nie um ein hilfreiches Wort verlegen und unbeirrbar in der Verfolgung seines großen Zieles, das auch das unsere ist: ein geeintes Europa aller freien Länder unseres Kontinents.

Es lag gewiß nicht an ihm, daß die Verhandlungen gescheitert sind, und wenn es Edward Heath auch bis heute noch nicht vergönnt ist, zu den Vollendern Europas zu gehören, so gehört er doch unbestreitbar zu den großen Schrittmachern Europas. Wir wollen es ihm und uns allen wünschen, daß die Disharmonie, die ihn als Freund der Musik und auch als ausübenden Musiker besonders schmerzlich getroffen haben muß, sich eines Tages in eine neue Harmonie einmündet.

Mit großem Interesse habe ich in den Veröffentlichungen zum Karlspreis gelesen, daß sich die Aachener Bürger, die 1949 diesen Preis stifteten, unter anderem auf die Gedanken des englischen Historikers Arnold Joseph Toynbee gestützt haben. Es lohnt sich wohl, diesem Gedanken ein wenig nachzugehen, gerade wenn nach Sir Winston Churchill heute zum zweiten Mal ein Brite den Karlspreis erhält. Woran dabei konkret aus der imposanten Fülle des Toynbee?schen Werks gedacht worden ist, entzieht sich meiner Kenntnis. War es die Geschichtsphilosophie vom Wachstum, Niedergang und Zerfall der Kulturen, die uns in mancher Hinsicht an Oswald Spengler erinnert? Bei aller Vorsicht, die eine nur flüchtige Bekanntschaft mit dem umfangreichen Werk dieses großen Geistes fordert, möchte ich sagen: Es kann wohl nicht daran liegen, daß Toynbee etwa ein besonders nahes oder positives Verhältnis zu Karl dem Großen hätte. Aber dennoch sehe ich einen Anknüpfungspunkt an die noch ungelöst vor uns liegende Aufgabe der europäischen Einigung. Es gibt bei Toynbee das eine große Gegensatzpaar von ?Herausforderung? und ?Antwort?, oder vielleicht sollt man auch sagen ?Aufgabe und Antwort? oder ?Anspruch und Antwort?; denn das englische Wort challenge ist für uns schwer zu übersetzen. Der Auftrag oder die Herausforderung ist das Große Europa; und auch hier glaube ich, daß man Toynbee zitieren kann, wenn er sagt: ?Je größer die Herausforderung, desto größer der Anreiz.? Wir müssen zugeben, daß wir auf diese Herausforderung noch nicht die richtige, die befreiende Antwort gefunden haben. Und wenn ich noch einmal Toynbee zitieren darf:

?Nahezu jede Herausforderung, die schließlich eine siegreiche Antwort hervorgerufen hat, erweist sich bei näherer Untersuchung als solche, die einen Antwortenden nach dem anderen gehemmt oder zerbrochen hat vor dem Augenblick, als bei der hundertsten oder tausendsten Aufforderung der Sieger schließlich im Ring erschien.?

Bei Toynbee findet sich noch ein anderes Begriffspaar, das mich ebenfalls stark beeindruckt und das mir unserer heutigen Situation angemessen scheint: Das Begriffspaar von ?Rückzug und Wiederkehr?. Mögen wir einen Rückzug erlebt haben; die Wiederkehr aber ist, ebenso gewiß, wie es sicher ist, daß wir auf die Herausforderung eine Antwort finden werden – wenn nicht heute, so morgen.

Ich weiß nicht, ob ich mit dieser wohl etwas willkürlichen Auswahl aus dem großen Werk Toynbees dem gerecht werde, was sich die Stifter des Preises dabei gedacht haben, aber ich glaube, daß es auf Edward Heath angewendet werden kann und daß ihn so gesehen mit seinem Landsmann Toynbee mehr verbindet als nur die Tatsache, daß beide ihre Ausbildung im Balliol-College in Oxford genossen haben – eine Erziehungs- und Bildungsstätte, deren Namen auch bei uns viel bedeutet – und nicht nur deshalb, weil sie in diesem Jahre genau 700 Jahre alt geworden ist.

Und wenn ich daran denke, daß Toynbee nicht nur Historiker, sondern auch Philosoph ist und daß auch Edward Heath nicht nur Staatswissenschaft und Volkswirtschaft, sondern auch Philosophie studiert hat, so lassen sie mich einen inneren Zusammenhang darin erblicken, daß das Karlspreisdirektorium sich auf Toynbee als einen seiner Anreger beruft und Edward Heath den Preis verliehen hat.

Ihre Arbeit und Leistung, verehrter Freund und Kollege, sind nicht vergeblich gewesen, auch wenn Ihnen der äußere Erfolg noch versagt geblieben ist. Sie haben es verstanden, in Ihrem Land und auf dem europäischen Kontinent das Gefühl der Gemeinsamkeit, der Verbundenheit und der wechselseitigen Abhängigkeit deutlich zu machen, zu vertiefen, ja ich möchte sagen, zu verwurzeln. Denn Sie haben diese europäische Gemeinsamkeit vorgelebt! Daraus erklärt sich auch die Überzeugungskraft, die von Ihnen ausstrahlt. Ich fühle mich Ihnen, dem gemeinsamen Ziel und dem gemeinsamen Bemühen – auch rein persönlich – eng verbunden. So manches gemeinsame Gespräch hat das gegenseitige Verstehen und Vertrauen immer mehr erhärtet. Wir beide sprechen – wenn auch englisch und deutsch – aus Haltung und Gesinnung heraus eine gleiche Sprache. So lassen Sie mich Ihnen denn noch einmal meinen herzlichen Glückwunsch sagen zu der Ihnen verdientermaßen erwiesenen Ehrung. Möge Ihnen und uns allen eine gemeinsame Weiterarbeit vergönnt sein und – so Gott will – auch der Erfolg.