Begründung des Direktoriums

Begründung des Direktoriums der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen an den Premierminister der Republik Polen Donald Tusk

Im ersten Jahrzehnt des noch jungen 21. Jahrhunderts hat sich aus der ursprünglichen Gemeinschaft der Sechs die Union der 27 entwickelt, eine Union, die das Fundament für eine dauerhafte Friedens- und Freiheitsordnung und für Stabilität und Wohlstand für zukünftige Generationen auf dem ganzen Kontinent ist. Zwei Jahrzehnte nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ist das Wirklichkeit geworden, was die 1990 verfasste gemeinsame Erklärung des Rates der Stadt Aachen und des Direktoriums der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen nur vorsichtig-hoffnungsvoll anzudeuten wagte: der umfassende Zusammenschluss Europas. Europa atmet „wieder mit beiden Lungenflügeln“. Diese schöne Metapher, mit der Papst Johannes Paul II. einmal die Wiedervereinigung Westeuropas mit seinen mittelost- und südosteuropäischen Nachbarn beschrieben hat, kennzeichnet den Reichtum, den die Union gewonnen hat.


Wenn unser Kontinent in diesem Sinne Veränderungen säkularen Ausmaßes erlebt hat, dann ist dies in ganz herausragendem Maße verbunden mit der Freiheitsliebe des polnischen Volkes. Denn gerade das polnische Volk hat sich immer wieder gegen die unnatürliche Teilung unseres Kontinents aufgelehnt. Sein unbeirrbarer Wille, seinen Platz im freien und geeinten Europa einzunehmen, gehörte zu den treibenden Kräften, die das Ende der kommunistischen Diktaturen jenseits des damaligen Eisernen Vorhangs bewirkt und die Wiedervereinigung Europas ermöglicht haben.

In Würdigung einer beeindruckenden Biografie im Dienste der Freiheit und der Demokratie und in Anerkennung seiner besonderen Verdienste um die Verständigung und Zusammenarbeit der Republik Polen mit seinen europäischen Partnern ehrt das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen im Jahre 2010 mit dem Premierminister der Republik Polen Donald Tusk einen polnischen Patrioten und großen Europäer, der vor drei Jahrzehnten gemeinsam mit zahlreichen Mitgliedern der SolidarnoÅ›?-Bewegung den Grundstein für die Wiedervereinigung Europas gelegt hat und heute in besonderer Weise für ein demokratisches und weltoffenes Polen im Kreise der europäischen Völkerfamilie steht.

Donald Tusk wurde am 22. April 1957 in Danzig geboren. Er entstammt einer alteingesessenen polnisch-kaschubischen Familie, die während der deutschen Besatzungszeit Zwangsarbeit und KZ-Haft erleiden musste. Seinen hierdurch gesundheitlich schwer angegriffenen Vater verlor er bereits im Grundschulalter. Tusk studierte Geschichte an der Universität Danzig und schloss das Studium 1980 mit einer Arbeit über den polnischen Unabhängigkeitskämpfer und Nationalhelden Marschall Jà³sef Pi?sudski ab. Nach eigenen Aussagen geprägt von der brutalen Niederschlagung der Arbeiterproteste im Winter 1970, war er bereits während seines Studiums rasch mit einer Reihe von Oppositionellen in Kontakt gekommen. Im Zuge der großen Arbeiterstreikwelle im Sommer 1980 beteiligte er sich an der Gründung des Unabhängigen Polnischen Studentenverbandes und schloss sich der SolidarnoÅ›?-Bewegung an. Nach seinem Studienabschluss arbeitete er als Redakteur im renommierten Verlag „Wydawnictwo Morskie“, deren Gewerkschaftsgruppe er führte. Nicht nur als regelmäßiger Autor in der Wochenzeitschrift SamorzadnoÅ›? (Selbstverwaltung), auch bei zahlreichen Protestzügen zählte Tusk zu jenen, die die öffentliche Auseinandersetzung nicht scheuten, bei den Demonstrationen vorneweg marschierten – und dies nicht selten mit körperlichen Blessuren und Verletzungen bezahlten.

Nach Verhängung des Kriegsrechts zum Jahresende 1981 und dem Verbot der SolidarnoÅ›? war der gerade einmal 24-jährige Journalist denn auch ohne jede Chance, einen staatlichen Arbeitsplatz zu erhalten. Sieben Jahre lang verdingte er sich nachfolgend als einfacher Arbeiter in der privaten Genossenschaft „Swietlik“, die von ihm gleich gesinnten Regimekritikern betrieben wurde. Nebenher setzte er seine politisch-journalistischen Aktivitäten im Untergrund fort.

Nach Aufhebung des Kriegrechts wurde Tusk 1989 stellvertretender Chefredakteur der angesehenen „Gazeta Gdanska“. Er verließ die SolidarnoÅ›?-Bewegung und gründete mit den prominenten Liberalen Jan Krzysztof Bielecki und Janusz Lewandowski den „Liberal-Demokratischen Kongress“ (KLD), der sich vor allem für Marktwirtschaft und Privatisierung und für den schnellstmöglichen Beitritt Polens zur EU einsetzte.

Zwischenzeitlich zum Vorsitzenden des KLD aufgestiegen, konnte Tusk 1991 erstmals als Abgeordneter in den Sejm einziehen, verlor sein Mandat aber nur zwei Jahre später bei den im Zuge des Sturzes der Regierung von Hanna Suchocka notwendig gewordenen vorgezogenen Neuwahlen. Nach der deutlichen Wahlniederlage fusionierte der KLD mit der Demokratischen Union zur Freiheitsunion (UW), die Tusk im April 1994 zu ihrem stellvertretenden Vorsitzenden wählte. Drei Jahre darauf konnte er für die Woiwodschaft Danzig einen Sitz im Senat erringen, wo er zum stellvertretenden Senatspräsidenten gewählt wurde.

Zu Beginn des Jahres 2001 zählte Tusk zu den Mitbegründern der „Bürgerplattform“ (PO), für die er im September desselben Jahres abermals in den Sejm gewählt wurde. Als dessen Vizepräsident und als Vorsitzender der PO (ab April 2003) avancierte Tusk in der Folgezeit zu einem der einflussreichsten (Oppositions-)Politiker Polens und galt als einer der aussichtsreichsten Kandidaten für die Präsidentschaftswahl im Herbst 2005. Nach hartem Wahlkampf musste er sich jedoch seinem konservativen Widersacher Lech Kaczynski geschlagen geben.

Tusk übernahm den Fraktionsvorsitz der PO und bereitete seine Kandidatur um das Amt des Regierungschefs vor. Nachdem der Sejm im September 2007 seine Selbstauflösung beschlossen hatte, forderte Tusk als Oppositionsführer den Bruder seines vormaligen Kontrahenten, Jaros?aw Kaczynski, heraus. Hatten noch Anfang Oktober nur wenige politische Beobachter mit einem Wechsel im Amt des Premierministers gerechnet, brachte ein fast schon zur Legende gewordenes TV-Duell am 12. Oktober die Wende. Tusks Botschaft an diesem Freitagabend: Ich werde das Land so regieren, dass es den Anforderungen des 21. Jahrhunderts endlich gewachsen ist.

Warfen ihm seine Gegner bisweilen eine geradezu unpatriotische Nähe zu den deutschen Nachbarn vor, konterte er souverän, natürlich sei er prodeutsch – aber auch protschechisch, proslawisch und sogar prorussisch, denn anders als Kaczynski setze er in der Außen- und Europapolitik auf Kooperation und nicht auf Konfrontation.

Mit über 40 Prozent der Stimmen gelang Tusk schließlich ein geradezu erdrutschartiger Sieg; im November als Premierminister vereidigt, erneuerte er gegenüber den Partnern in der Europäischen Union sein Versprechen einer Politik der freundschaftlichen Zusammenarbeit in einem Geist des gegenseitigen Vertrauens: „Wir arbeiten an einer neuen polnischen Position, die darauf hinausläuft, dass Polen ein aktiver Teil aller Veränderungen ist, die in der EU stattfinden. […] Wir müssen uns um Kompromisse bemühen und Lösungen für Probleme suchen.“

Mit Übernahme der Verantwortung für die europäische Integration durch Tusk selbst und der Berufung des international hoch geachteten vormaligen Außenministers W?adys?aw Bartoszewski zum Staatssekretär und Beauftragten für internationalen Dialog setzte der Premierminister gleich zu Beginn seiner Amtszeit weithin sichtbare Zeichen für die hohe Bedeutung, die die neue polnische Regierung der Europapolitik beimisst. In seiner ersten Regierungserklärung am 23. November 2007 kündigte er die baldige Unterzeichnung des Lissabonner Vertrags und die möglichst rasche Einführung des Euro in Polen an. „Diese Regierung wird alles tun, um sicherzustellen, dass Polen und die polnische Bevölkerung schnell bereit für den Euro sind.“ Zudem trat er für eine Verbesserung der Beziehungen zu Deutschland ein und warb in diesem Zusammenhang für die Wiederbelebung des „Weimarer Dreiecks“, einer engen Kooperation zwischen Warschau, Paris und Berlin.

Nach wochenlangen schweren Auseinandersetzungen konnte sich Tusk mit Präsident Kaczynski auf eine Ratifizierung des EU-Reformvertrages verständigen, der im April 2008 die Abgeordnetenkammer und der polnische Senat zustimmten. Als Kaczynski nach dem gescheiterten Referendum in Irland erklärte, der Vertrag sei „sinnlos“ und werde von ihm nicht unterschrieben, hielt Tusk dagegen: „Diese Äußerungen des Präsidenten sind sehr unglücklich. […] Die Ratifizierung liegt im Interesse Polens“, betonte der Premier und erinnerte unmissverständlich daran, dass das Staatsoberhaupt selbst den Vertrag von Lissabon mit ausgehandelt hatte.

Kaczynski lenkte schließlich ein und deutete seine Zustimmung an, sofern auch alle übrigen EU-Staaten den Vertrag ratifizierten. Wenige Tage nach dem positiven zweiten irischen Referendum unterzeichnete das Staatsoberhaupt die Ratifikationsurkunde schließlich am 10. Oktober 2009.

Die Notwendigkeit der partnerschaftlichen Zusammenarbeit in der EU unterstreicht Tusk, für den der Erfolg Polens „nicht vom Erfolg der Europäischen Union zu trennen ist“, auch in der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise: „Die größte Gefahr sehen wir in einer bröckelnden Solidarität innerhalb der Europäischen Union, im Anwachsen des nationalen Egoismus, im Protektionismus. […] Es darf nur eine Strategie für alle Europäer geben.“

Auf mehr Gemeinsamkeit setzt der polnische Premierminister auch in Fragen der Haushalts- und der Energiepolitik der EU. Neben der von ihm bereits seit geraumer Zeit betriebenen Politik der Ostpartnerschaft mit den östlichen Nachbarn der Union sollen diese, wie Tusk schon vor Monaten wissen ließ, im Zentrum der polnischen Ratspräsidentschaft 2011 stehen: „Wir sind das größte Land unter den neuen EU-Mitgliedern und vielleicht sogar der wichtigste Partner für die alten Haudegen der Union. Deswegen zählen viele Staaten im Zusammenhang mit unserer Präsidentschaft darauf, dass die neuen EU-Länder energisch die Initiative übernehmen und neue Impulse setzen” (zitiert nach Polskie Radio, 14.1.2009).

Mit dem Premierminister der Republik Polen Donald Tusk ehrt das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen im Jahre 2010 einen herausragenden Streiter für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte, der sich dem kommunistischen Regime niemals gebeugt hat; einen überzeugten und überzeugenden Europäer, der insbesondere die junge Generation für Europa begeistern kann, der für Verständigung, Zusammenarbeit, Solidarität und ein weltoffenes Polen steht, das fest in der Europäischen Völkerfamilie verankert und in das Herz Europas zurückgekehrt ist.