Laudatio von Dr. Hendrik Brugmans, Karlspreisträger des Jahres 1951

Laudatio von Dr. Hendrik Brugmans, Karlspreisträger des Jahres 1951

Es ist weder meine Absicht noch meine Aufgabe, den Lebenslauf unseres heutigen Preisträgers zu skizzieren. Dies geschah soeben vom Oberbürgermeister, und wer eine gedruckte Biobibliographie braucht, den verweisen wir auf einen Aufsatz von Herrn Erhard Krieger, erschienen in der ersten Nummer der Zeitschrift "Europa Publikation". Mit dagegen ist es auferlegt, in dreimal drei Schlagwörtern den Menschen Madariaga zu würdigen, so wie ich ihn persönlich kennengelernt habe.

Dieser Mann war in seinem Leben: Techniker, Diplomat und Schriftsteller. Es kennzeichnen ihn insbesondere: Brillanz, Weitsicht und Vitalität. Der Überzeugung nach ist er dazu noch: Europäischer Weltbürger, Liberaler und Föderalist. Das alles aber nicht abwechselnd, sondern zu gleicher Zeit. Deshalb nenne ich ihn den vorläufig letzten Renaissancisten, einen "homo universale".

Als guter Techniker, der seine Studien als Ingenieur an zwei Pariser "grandes écoles" abschloß, liebt er Sachlichkeit und Präzision. Gewiß hat er als Eisenbahner gewußt, daß Lokomotiven in ihrem "design" schön sein können und deshalb sein sollen. Aber die erste Notwendigkeit besteht doch darin, daß der Reisende einen Höchstgrad an Sicherheit bekommt. Im gleichen Sinne liebt Madariaga zwar die bestechende, paradoxe Formulierung – Hauptsache bleibt aber für ihn, daß der Sinn deutlich wird. Auch literarisch muß man ja vor allen Dingen Unfälle vermeiden, und ein mißverstandener Satz ist solch ein Unfall. Die überraschende Form wächst also organisch aus der funktionellen Klarheit, weil die wiedergegebene Wirklichkeit eben paradox ist.

Wenn Don Salvador zum Beispiel in seinem Buche "Français, Anglais, Espagnols" feststellt, daß ein französischer Knotenpunkt "bifurcation" heißt, indem man in England von einer "junction" spricht, da weiß man: hier meldet sich der frühere Eisenbahner zu Wort, aber dem Kulturphilosophen und Psychologen kommt das mächtig zugute.

Ein Diplomat? Wahrscheinlich hat es selten einen weniger "diplomatischen" Diplomaten gegeben als er es war – wenigstens, wenn man das Wort im landläufigen Sinne auffaßt. Als spanischer Botschafter in den Jahren der Republik hat er es als seine Aufgabe betrachtet, mehr Verständnis zwischen den Völkern zu wecken und damit seine eher in Genf begonnene Verständigungsarbeit fortzusetzen. Denn als er Spanien im Völkerbund vertrat – und er machte es mit um so größerem persönlichen Einsatz als "Madrid" andere, weniger wichtige Sachen zu tun hatte, so daß man ihm eine beträchtliche Bewegungsfreiheit gab – auch da blieb er, was er gewesen war, nämlich "das Gewissen der Weltorganisation".

Ich sagte: Schriftsteller. Ich hätte auch sagen können: Denker oder Gelehrter. Aber seine hervorragenden Eigenschaften fließen doch in dieser Tatsache zusammen: Madariaga hat immer mit der Feder in der Hand gelebt.

Er hat Romane geschrieben. Historische, die das Problem der Koexistenz zwischen den Rassen im spanisch gewordenen, aber aztekisch gebliebenen Mexiko behandeln. Historische Analysen, auch streng wissenschaftlich und provokatorisch, die sich aber als Romane lesen lassen. Dann satirische Erzählungen, im Geiste Voltaires. Hier denke ich an die Sitzung der archäologischen Akademie in "The Sacred Giraffe", wo eine Forscherin die Klassenstruktur Europas auf Grund der von ihr gefundenen Brillen und Brillenmonturen untersucht. Sie kommt dabei zu der durchaus logischen Schlußfolgerung, daß die Monokels von den allerärmsten Lumpenproletariern getragen wurden, da diese sich den Luxus von Montur und zwei Gläsern gewiß nicht leisten konnten ...

Damit komme ich zum nächsten Merkmal: zur Brillanz – womit ja kein Flittergold gemeint sein soll. Hier muß man zitieren – und bedauern, daß man nicht viel mehr zitieren kann.

Ich nehme Madariagas letztes Buch, seine Erinnerungen, deren erster Band heute vorliegt. Auf Seite 261: "Der Tyrann ist nicht notwendigerweise ein Feind der Freiheit. Im Gegenteil, der Tyrann ist ein so glühender Freund der Freiheit, daß er mit seiner eigenen nicht genug hat und deshalb nach der eines anderen greift. Er ist ein Mann, der Freiheit über alles liebt. Er ist eine Art Don Juan der Freiheit" ... Man lächelt, aber man hat etwas zum Überdenken.

Oder folgende Charakteristiken von Staatsmännern, die er gekannt hat: Erstens Philippe Verthelot, damals der hochbegabte Generalsekretär des Quai d'Orsay: "Für ihn war Diplomatie nur eine höfliche Methode im Gebrauch der französischen Armee". Dann Arthur Henderson, der 1932 den Vorsitz der aussichtslosen Abrüstungskonferenz übernahm: "Einen netteren, freundlicheren und wohlmeinenderen Mann hatte man kaum finden können. Einen für dieses Amt weniger geeigneten auch nicht".

Und zum Schluß diese tragischen Sätze über "meinen Freund Litwinow": "Sein Spiel war damals nicht sehr durchsichtig, vielleicht auch nicht für ihn. Er mußte seinem Meister, dem schrecklichen Stalin, beweisen, daß seine Politik etwas erreichen würde ..... und er wußte, daß, wenn er keinen Erfolg hätte, .... sein politisches Leben ein Ende finden würde – und sein wirkliches Leben vielleicht auch".

Das sind vier Zitate, die sich innerhalb von zwölf Seiten eines einzigen Buches befinden.

Brillanz käme aber vorübergehender Plauderkunst nahe, wenn nicht hinter diesen Urteilen eine große, weitblickende Überzeugung stünde, die mit großer Energie, zugleich militant und geistreich, zum Ausdruck gebracht wird.

Madariaga war 27 Jahre alt, als der Erste Weltkrieg ausbrach. Obwohl Bürger eines neutralen Landes, hat er doch diese europäische Tragödie als bewußter Mann miterlebt und in seiner Seele durchlitten. Er ahnte es damals schon: sinnlos war dieser Konflikt der europäischen Selbstzerfleischung. "We blundered into the war", sagte der Britische Staatsmann, und als der Deutsche Reichskanzler gefragt wurde warum Krieg ist, seufzte er: "Wenn ich das wüßte" ... Begeisterung hat es 1914 noch genug gegeben: ein patriotischer Elan, der erst viel später abebbte, als die großen Materialschlachten anfingen: Verdun, champagne, somme, Isère.

Dann aber, im Jahre 1917, war Amerika in den Kampf eingetreten. Präsident Wilson hatte einen "Frieden durch Recht" versprochen und dazu vierzehn Punkte aufgestellt. Der Völkerbund war das Resultat geworden, als Garantie dafür, daß die Welt endlich einen "war to end war" hinter sich hatte. Der demokratische Parlamentarismus sollte in die Völkergemeinschaft hineingetragen werden und an die Stelle der Geheimdiplomatie treten. Hier war also das Rhodos, wo die Menschheit springen sollte, wenn auch die Grundlage der Neuordnung eine so ungerechte wie der Versailler Vertrag war.

Madariaga hat bei diesem "Springen" nach Kräften mitgeholfen. Aber dem hoffnungsvollen "Morgen" ist kein reifer "Mittag" gefolgt. Jeder andere wäre dabei mutlos oder zynisch geworden. Er aber sagte beim Abschluß mit einer wunderbaren typischen Madariaga-Formel: "Nicht der Bund der Völker hat versagt, sondern die Völker des Bundes". In seinen Memoiren mit dem entsprechenden Titel "Morgen ohne Mittag" hat er diese traurige Geschichte des Scheiterns erzählt, von Mandschukuo bis Danzig, über den Gran Chaco und die Wal-Wal Inzidenten in Äthiopien.

Vor allem waren die Europäer schuldig, da sie, als sie noch der zentrale Kontinent waren, es nicht fertig brachten, sich über ihre kleinlichen oder sogar relativ wichtigen Einzelinteressen hinwegzusetzen. Wir haben das teuer bezahlt, denn alle Konzessionen, die man nicht machen wollte, als es noch Zeit war, scheinen winzig im Vergleich zu den Millionen Toten und Krüppeln des Zweiten Weltkrieges. Man möchte hoffen, daß heute etwas mehr Weitsicht herrscht. Man weiß es aber nicht. Jedenfalls brauchen wir mehr als je die illusionslose Vitalität eines Madariaga und seine instinktsichere Kampflust.

Im Hinblick auf diese Vorgeschichte wird es keinen wundern, daß wir ihn – Mai 1948 – beim Haager Europa-Kongreß antreffen, als Vorsitzenden der Kulturellen Kommission. Er wußte: "the root is man", und wenn der Europäische Zusammenschluß einen Sinn hat, dann liegt er in einem befreienden Kultur-Bewußtsein. Er kennt die Europäer, wie sie wegen der Vielfalt ihrer nationalen Bäume die Realität des Waldes vergessen. Er selbst aber hat zuviel außerhalb Europas gereist und gewohnt, um nicht von dieser höheren Warte aus die Gesamtheit entdeckt zu haben.

Dieser leidenschaftliche spanische Patriot, der in seinem "Porträt Europas" seine ganze Freude an der Verschiedenheit unserer Nationen und Regionen zum Ausdruck bringt, kennt auch die gemeinsamen Wurzeln unseres Kulturkreises – das heißt: unserer Gemeinschaft von Gemeinschaften. Die Freuden des geistigen Zusammengehörens hat er voll und ganz genossen, von Salamanca bis Krakau und von Stockholm bis Messina. Aber auch die Einheit unserer Tragik hat er durchlebt – von der Knechtung Osteuropas bis zum Ulsterschen Bürgerkrieg. Als die Westeuropäer ihr "Suez-Abenteuer" begingen, indem die Russen in Ungarn einmarschierten, wurde in Madariaga der Dichter wach und er schrieb, siebzig Jahre alt, ein Jugendgedicht, das mit diesen Versen anfängt:

Ardiente en la noche sono mi sangre de veinte anos,
so con la nina de ojos de fuego, con sus senos inhiestos,
su vientre tenso de vida futura;
sono con Buda humiliado, con Pest mancillado
por la bota del vil negrero ...

Ein französischer Künstler, Georges Mathieu, hat vor kurzem ein Buch veröffentlicht mit dem sehr europäischen Titel: "de la révolte à la renaissance". Das ist auch Madariaga aus dem Herzen gesprochen: für ihn gibt es keine Wiedergeburt ohne die leidenschaftliche Revolte gegen Unrecht und Unfreiheit, wo auch immer sie sich spüren lassen. In diesem Sinne nennt er sich einen Liberalen, "un libéral révolutionnaire", wie der Untertitel eines seiner Bücher lautet.

Aber noch ein anderer Titel kommt uns hier ins Gedächtnis: "Rettet die Freiheit!", eine Auswahl aus seinen Kampfschriften. Und, wahrhaftig, die Freiheit hat es nötiger als je, "gerettet" zu werden aus dem Morast aller wie auch immer gearteten Konformismen, Schablonen und Vorurteilen, ob konservativ oder maoistisch. Denn nicht nur von außen her wird die Freiheit bedroht. In unserem eigenen Herzen und Geist muß sie täglich zurückerobert werden, in einer Welt von Platitüden und der Feigheit. Da steht Madariaga, aufrecht und aufrichtig, sokratisch in seiner beißenden Ironie, unbarmherzig, wenn es gilt, Tyrannen anzuklagen und ihre Helfershelfer zu entlarven. Unabhängiges Denken und kompromißloses Handeln, noch "links" oder "rechts", wo auch nur die Freiheit angetastet wird – das sind die Waffen dieses militanten Liberalen ... der übrigens für den sogenannten "liberalen" Kapitalismus nicht die geringste Schwäche zeigt.

Einige Zeit lang hat er den Vorsitz der liberalen Internationale innegehabt. Ich weiß nicht, ob er da an der richtigen Stelle war, denn ein Parteimann ist er nie gewesen. In seinem Denken steht er den jakobinischen Tendenzen des historischen Liberalismus fern. Kein Zentralist ist er und sicher kein "National-Liberaler", sondern ein integraler Föderalist, für den die Freiheit das Ziel, und die klassische Demokratie ein Mittel ist.

In seinem Buche "De l'Angoisse à la Liberté" hat er eine Skizze des politischen Zusammenlebens gegeben, worin alle Macht von unter aufkommt und die sogenannten "höheren" Behörden erst in Wirkung treten, wenn die "niedrigeren" technisch nicht mehr imstande sind, die Aufgabe wirksam zu erfüllen. Was von der Familie noch betreut werden kann, gehört ihr. Eine Gruppe von Familien bildet eine Gemeinde oder ein Stadtviertel. Provinzen, Nationen, organisierte Kontinente – sie alle sollten nicht als eine Hierarchie betrachtet werden, sondern als seine praktische Abstufung der öffentlichen Arbeitsteilung. Im Rahmen einer solchen Struktur ist man Patriot auf verschiedenen Ebenen, - Nationalist aber nirgends.

Damit könnte ich abschließen. Time is up. Aber ich empfinde das Bedürfnis, einige persönliche Worte hinzuzufügen.

Sie, lieber Freund Don Salvador, sind der Gründer-Präsident des Europa-Kollegs. Sie waren es, der die Idee hatte, und ich bin dann später auch dazugekommen. Sie haben von Brügge geträumt als einem europäischen Oxford. Ich weiß nicht, ob meine Mitarbeiter und ich Ihren Traum erfüllt haben, aber die Institution ist da. Sie hat die Flitterwochen der damaligen Europa-Mode überdauert. Sie hat jetzt einen neuen Rektor gefunden, dessen Zukunftspläne wir kennen und bejahen. Sie hat mehr als tausend junge Europäer in die Welt geschickt, nicht ausgestattet mit einer Ideologie – nichts wäre weniger "Madariaga-like" als Propaganda und Dogmatismus – aber frei von jeder nationalistischen Beengung. Man findet sie heute überall, wo Völker zusammengebracht und sachliche Lösungen für die Zusammenarbeit gefunden werden müssen.

Dieses Kolleg ist ihr Geisteskind. Es sieht ihnen ähnlich, denn es wird da unabhängig gedacht, heftig gestritten und laut gelacht. Es wird dort auch viel geliebt, und über dreißig Ehen sind aus Brügge hervorgegangen, obwohl das nicht in unseren Werbebroschüren steht. Jedenfalls haben Sie deshalb mehr Enkelkinder, als Sie vielleicht ahnen.

Es ist lange her, seit ich Sie zum ersten Male gesehen habe. Es war in einem Genfer Kaffeehaus und wir kannten uns noch nicht. Als Sie aber mit jemand anderem eintraten, habe ich einen Schock gefühlt: das ist Madariaga! Nicht nur war das die neugierige Satisfaktion, einen berühmten Mann gesehen zu haben, sondern auch die begeisternde Ahnung unserer zukünftigen gemeinsamen Arbeit: "mit diesem so lebendig plaudernden Menschen werde ich noch viel zu tun haben". Und so ist es auch gewesen. Ich betrachte dies als ein wundervolles Geschenk des Lebens.

Es steht heute nicht gut um Europa. Mehr Kuhhandel und Tauziehen als Kreativität und Zukunftsglauben. In seinen ängstlichen Stunden fragt man sich, ob nicht auch der Europäische Föderalismus, wie der Völkerbund, einen "Morgen ohne Mittag" erlebt hat. Wer aber die unzähmbare Vitalität des Madariaga kennt, - noch vor kurzem schrieb dieser jungverheiratete Greis eine Art Hochlied "para Mimi", der spürt die reichen Quellen des europäischen Lebenswillens.

In der Person von Don Salvador huldigen wir heute die ewige Jugend Europas.