Rede des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen, Kurt Malangré

Rede des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen, Kurt Malangré

Festliche Versammlung!

Die Völker Europas, die ungezählten Namenlosen waren es, die das Leid und das Elend aller europäischen Kriege, den Zwist in Jahrhunderten, die Katastrophen vielfältiger Art getragen und erduldet haben. Auf dem Rücken der Völker, im Lebensschicksal der Einzelnen entluden sich die Folgen von Versagen, Schuld und Fanatismus politischer und wirtschaftlicher Konflikte, eines Jahrtausends widerstreitender Ziele.

"Die im Dunkeln sieht man nicht", sie standen auch auf dem langen Weg europäischer Auseinandersetzungen nicht im Rampenlicht des Geschehens, trugen aber mit Blut und Gut den Zoll dieses Weges bis zu jenem Abgrund von Krieg, Diktatur und Sklaverei; der heute vor 41 Jahren, am 8. Mai 1945, endete.

Die Völker Europas, die ungezählten Namenlosen aber sind es nun, die seitdem Freiheit, Frieden und Menschenwürde erleben und nun wiederum in ihrem eigenen, persönlichen Schicksal die Wohltat des gemeinsamen Weges, das Miteinander ihrer Völker, die Achtung ihrer Menschenrechte und die sich entfaltende Wohlfahrt eines geeinten Kontinents erfahren können. Sie, die Bürger Europas, verlangen daher nach dieser, auch in Zukunft Frieden und Freiheit sichernden Gemeinsamkeit ihrer Völker, nach der Fortsetzung des Weges zu ihrer Union.

In diesem Geiste rief 1960 der damalige Karlspreisträger Dr. Joseph Bech, der luxemburgische Ehrenstaatsminister und Präsident der Abgeordnetenkammer seines Landes, den hier im Saale Versammelten zu: "Träger des geeinten Europas werden und müssen die Menschen sein." Heute stehen die Menschen seines Landes, dem er ein Leben lang gedient hat, im Mittelpunkt dieser Feier, steht das Luxemburger Volk als Beispiel für die unermüdliche Trägerschaft der Einigung Europas vor uns.

Wir grüßen dieses Volk in Dankbarkeit für seinen europäischen Einsatz, der sich durch keinen Rückschlag, keine Enttäuschung beirren ließ und heißen an seiner Spitze mit herzlicher Freude sein verehrtes Staatsoberhaupt willkommen,

Seine Königliche Hoheit, Großherzog Jean von Luxemburg.

Neben ihm grüßen wir Ihre Königliche Hoheit, Großherzogin Josephine-Charlotte, I.I.K.K.H.H. Erbgroßherzog Henri und seine Frau Gemahlin Erbgroßherzogin Maria Theresia.

Herzlich begrüßen wir die Karlspreisträger früherer Jahre:

Den Karlspreisträger 1951, den damaligen Rektor des Europakollegs, Herrn Professor Dr. Hendrik Brugmans,

den Karlspreisträger 1963, den vormaligen Premierminister Großbritanniens und Britischen Lordsiegelbewahrer, The Right, Hon. Edward Heath, M.B.E., M.P.,

den Karlspreisträger 1967, den vormaligen Außenminister der Niederlande und Generalsekretär der NATO, Herrn Joseph Luns,

den Karlspreisträger 1977, den vormaligen Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Herrn Walter Scheel,

den Karlspreisträger 1984, den damaligen Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Herrn Professor Dr. Karl Carstens.

Unser besonderer Willkommensgruß gilt nun unserem jetzigen Staatsoberhaupt, dem Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Herrn Dr. Richard von Weizsäcker und seiner verehrten Frau Gemahlin, Freifrau von Weizsäcker.

Wir freuen uns über die Anwesenheit der Herren Botschafter Luxemburgs, Dänemarks, Belgiens, Spaniens, Irlands, der Gesandten Großbritanniens und Griechenlands.

Ein herzliches Willkommen sagen wir dem Präsidenten der Abgeordnetenkammer Luxemburgs, Herrn Léon Bollendorff, und den anwesenden Mitgliedern der Kammer, dem Präsidenten der Regierung Luxemburgs, Herrn Staatsminister Jacques Santer, den Herren Ehrenstaatsministern Pierre Werner und Gaston Thorn, den Herren Ministern Poos, Spautz, Juncker und Schlechter, sowie Herrn Staatssekretär Steichen.

Wir grüßen die Präsidenten des Staatsrates, Herrn Goerens, und des Obersten Gerichtshofes, Herrn Jaques, den Großherzoglichen Hofmarschall, Exzellenz Hastert, und die übrigen Mitglieder des Palastes, unter den zahlreichen hohen Persönlichkeiten aus Luxemburg, den Erzbischof Hengen, und die Bürgermeisterin von Luxemburg, Frau Wurth-Polfer.

Willkommen sind uns für die Regierung der Bundesrepublik Deutschland die Herren Bundesminister Dr. Riesenhuber, Staatsminister Vogel, Staatssekretär Prof. Schreckenberger, der Chef des Bundespräsidialamtes, Herr Staatssekretär Dr. Blech, und der Chef des Protokolls, Herr Botschafter Graf von der Schulenburg.

Wir grüßen die anwesenden Damen und Herren Abgeordneten des Europäischen Parlamentes, an ihrer Spitze Herr Vizepräsidenten Alber und unter ihnen alle Luxemburgischen Mitglieder, die Damen und Herren des Deutschen Bundestages und des Landtages von Nordrhein-Westfalen, insbesondere Herrn Landtagspräsidenten Denzer,

und für die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen, den stellvertretenden Ministerpräsidenten und Finanzminister, Herrn Dr. Posser, Herrn Innenminister Dr. Schnoor und Herrn Staatssekretär Dr. Leister.

Unser herzlicher Gruß gilt den Repräsentanten Europäischer Institutionen,

für die Kommission der Europäischen Gemeinschaften, den Herren Vizepräsidenten Christophersen und Narjes Herrn Kommissar Mosar, dem Präsidenten der Europäischen Investitionsbank, Herrn Bröder,

für den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft, Herrn Generalanwalt Dr. Karl Otto Lenz, sowie dem Generalsekretär des Europäischen Parlaments, Herrn Vinci.

Wir freuen uns über die Anwesenheit des Präsidenten des Rates der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens, Herrn Ortmann und der Herren Minister Fagno, Lejoly und Maraite, des Präsidenten des Landtages von Rheinland-Pfalz, Herrn Dr. Volkert.

Unseren Willkommensgruß richten wir an die anwesenden Ständigen Vertreter ihrer Regierungen bei der Europäischen Gemeinschaft und der NATO,

an die Herren Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in den Ländern der Gemeinschaft,

an den Oberbefehlshaber der Vereinigten Streitkräfte Europa-Mitte, Herrn General Chalupa,

und die zahlreichen Mitglieder des Consularischen Corps.

Wir freuen uns über die Anwesenheit des Diözesanbischofs von Aachen Herrn Professor Dr. Klaus Hemmerle,

des Ehrenvorsitzenden der Europa-Union, Herrn Theo M. Loch,

des Präsidenten des Luxemburgischen Rates der Europäischen Bewegung, Herrn Lutz,

und der übrigen Präsidenten und Generalsekretäre

und des Vorsitzenden der Landschaftsversammlung Rheinland, Herrn. Dr. Wilhelm.

Ihnen allen, die Sie an diesem heutigen Ereignis teilnehmen, insbesondere allen Luxemburgern hier im Saale, denen, die leider hier keinen Platz mehr finden konnten, nach Aachen gekommen sind, und auf dem hiesigen Marktplatz oder die zu Hause über Rundfunk und Fernsehen bei uns sind, gilt unser herzlicher Gruß!

Verehrte Anwesende!

Luxemburg, das kleinste Land unserer europäischen Gemeinschaft, dieses so schöne und sympathische, im Zentrum des Kontinents gelegene Land, spiegelt in seinem Schicksal die Höhen und Tiefen der Geschichte ganz Europas, aber auch dessen kulturelle und geistige Kraft, dessen wirtschaftliche Dynamik und Fähigkeit zur Regeneration wider.

Viele von uns haben es noch erlebt, wie dieses Land in seiner jüngsten Geschichte zweimal die Wirkungslosigkeit seiner Neutralität erleiden mußte und 1914 und 1940 durch Deutsche Gewalttaten in Unfreiheit und größtes Elend gestürzt wurde.

Seitdem hat sich Luxemburg mit aller Kraft dem Bündnis der freien Völker Europas, ihrer Einigung, ihrer Gemeinschaft gewidmet und in unterbrochener Kontinuität unter allen, auch parteipolitisch wechselnden Regierungen, der Union unserer Länder den Weg bereitet.

Namen wie Joseph Bech, Pierre Werner, Gaston Thorn, Jaques Santer, sind Namen von beispielhafter europäischer Bedeutung, Wertzeichen des unermüdlichen Strebens nach der Zusammenfügung unserer Länder. Von dem Entschluß der Luxemburgischen Regierung an, noch im Exil in London am 5. September 1944 mit Belgien und den Niederlanden den Benelux-Vertrag zu schließen, bis zum Luxemburger Gipfel im Dezember vergangenen Jahres ist dieses Generalthema Luxemburgs unüberhörbar, die Zukunft und Wohlfahrt des Landes zu gründen in der dynamisch gestalterischen Idee der Einheit des Kontinentes.

Von ihr sagte 1960 Joseph Bech hier im Saale: "Die europäische Idee erobert die Herzen unserer Völker."

Luxemburg hat aus der Not, der kleinste Partner in der Gemeinschaft zu sein, die Tugend der europäischen Dimension gemacht und oft genug die größeren Weggefährten in ihrem kleinlichen, mißtrauischen Provinzialismus durch Weitblick und Entschlossenheit beschämt.

Auf Luxemburger Boden, im Rathaus der Stadt, reiften die Pläne für den Abschluß der Pariser Verträge. Unter der Führung Jean Monnets, des Karlspreisträgers von 1953, nahm die Montanunion ein Jahr zuvor Sitz in Luxemburg, als erste europäische Gemeinschaftsleistung und Gründung des gemeinsamen Marktes für Kohle und Stahl.

Wir sind im Aachener Raum allerdings stolz darauf, eine solche Gemeinschaft für Kohle und Stahl schon seit Jahrzehnten vorher, seit Beginn unseres Jahrhunderts mit Luxemburg praktiziert zu haben. Seit nun 75 Jahren arbeiten die Arbed Stahlwerke, das größte Unternehmen Luxemburgs und der hiesige Eschweiler Bergwerksverein, unser größter Arbeitgeber, vertrauensvoll und freundschaftlich zusammen. 14.000 Menschen in unserer Region finden Arbeit, weil die hiesige Steinkohle Luxemburgs Stahlschmelze versorgt. Auch Gemeinschaft für Kohle und Stahl ist keine nebulöse Institution menschenferner Giganten, sondern lebendige und persönliche Existenzfrage vieler Einzelner, Lebensschicksal unserer Mitmenschen.

Daher spielen zum heutigen Festtage des Luxemburger Volkes vor uns auf dem Marktplatz die Bergleute aus unserem Revier ihren Freunden aus Luxemburg auf und danken musikalisch und danken für Dreiviertel Jahrhundert treuer Partnerschaft. Luxemburg war und ist vorbildlicher Gastgeber und Schrittmacher des Einigungswerkes auch in den anderen Gemeinschaftsinstitutionen. Von seinem Boden aus schafft und wahrt der Europäische Gerichtshof den einheitlichen europäischen Rechtsraum, entwickeln der Europäische Währungsfond und die Investitionsbank ihre Dynamik, die hoffentlich bald den Zaudereien in den nationalen Notenbanken den Schritt in die europäische Währungseinheit abringt.

In Luxemburg residiert das Sekretariat des Europäischen Parlamentes, das nicht nachlassen wird, seine Rechte zu verlangen und es in unseren Demokratien für absurd und widernatürlich zu halten, wenn die europäischen Gesetze und Rechtsnormen weiterhin von Ministerialbürokraten und nicht vom gewählten Gesetzgeber des Volkes, seinem Parlament, erarbeitet werden.

Und schließlich sind unter der Präsidentschaft von Staatsminister Santer im Dezember vorigen Jahres auf der Luxemburger Gipfelkonferenz zwar längst nicht alle dringend anstehenden, aber doch dank auch der Verhandlungsführung des Gastgebers einige wichtige Fortschritte besonders für die Kompetenzen des Parlaments und für die vollständige Schaffung des europäischen Binnenmarktes bis Dezember 1992 zustandegekommen.

Wir fordern die Erfüllung dieser Beschlüsse ein. Die nun mit Spanien und Portugal 320 Millionen Europäer verlangen von ihren gewählten Staatsführern, daß sie ihre Versprechungen einhalten, daß sie ihre Pflicht tun, daß sie Gegenwart und Zukunft sichern und gestalten.

Immer, wenn die Völker der Gemeinschaft unmittelbar befragt wurden, haben sie sich für einander, für ihren Zusammenschluß und gegen jede provinzielle Blutarmut nationaler Rückfälle ausgesprochen. So 1972 in Frankreich, und so 1986 in Dänemark. Wir 320 Millionen Europäer wollen uns im Drama unseres Schicksals nicht länger mit der Statistenrolle abfinden. Wir wollen, daß Frieden, Freiheit und Menschenwürde auf unserem Kontinent erhalten bleiben und daß sich gegenüber allen Diktaturen auf unserer Erde die Entschlußkraft freier Menschen als gestaltungsstärker und hoffnungsvoller gegenüber dem Machtanspruch totalitärer Systeme erweist.

Wir beanspruchen von unseren Regierungen nicht nur die pragmatische Erledigung von Tagesgeschäften und das trickreiche Taktiren um Eintagsbeifall der Medien, sondern das Wissen und Handeln, das sich über die Stunde hinaus auf Ziele richtet, die auf Dauer die Wohlfahrt und Sicherheit unserer Völker wahrt und erst damit zum glaubwürdigen Handeln verantwortlicher Politik wird. Der europäische Jedermann verlangt dies, verlangt es für sich und seine Kinder, verlangt die Gemeinsamkeit der Anstrengung und des Schutzes der großen Gemeinschaft unserer freien Völker, verlangt, daß der Anschluß an den technologischen Fortschritt und damit an die wirtschaftliche Entwicklung nicht verpaßt wird und daß wir gemeinsam den nachfolgenden Generationen eine erlebenswerte Umwelt übergeben.

Der europäische Binnenmarkt der Freiheit und des Friedens, der Ideale und der Fähigkeiten, muß geschaffen werden. Er wird jedoch nicht geschaffen durch schlaues Feilschen und Tricksen, sondern durch mutiges Handeln.

In diesem Jahr feiern wir am 29. Juni den 100. Geburtstag von Robert Schuman, der in Luxemburg geboren wurde und aufwuchs und 1958 ebenfalls in diesem Saale den Karlspreis entgegennahm.

Mit ihm denken wir auch an die anderen Gründer unserer Gemeinschaft, die so Großes zuwege brachten, die als Staatsmänner und als Menschen so glaubwürdig handelten. Ist dagegen nicht vieles von dem, was wir heute im sogenannten Politischen Leben erfahren, klein und ohne wirkliche Perspektiven? Wir kennen die Ausrede, es sei eben alles komplizierter und komplexer und schwieriger geworden. Aber stimmt das denn? Hatten die großen Vorgänger damals wirklich weniger Sorgen, weniger nationale Probleme, nach Kriegsende, in all dem inneren und äußeren Elend, der Zerrissenheit, der blutenden Wunden unserer Völker. Hatten diese Gründer unserer Union weniger Tagessorgen als die Heutigen, die sich um Prozentsätze in Dezimalstellen hinter dem Komma streiten?

Wenn wir an Robert Schuman, Joseph Bech, Konrad Adenauer, Alcide de Gasperi u. a. denken, müssen wir damit nicht den Entschluß verbinden, in einer Renaissance der Entschlossenheit, des Weitblicks und des Vertrauens nun endlich unsere Union zu verwirklichen, die Gemeinschaft unserer Völker zu vollenden?

Niemand sollte sich dabei sorgen, die kulturelle Vielfalt könnte leiden, die Identität und Eigenart der Völker werde nivelliert. Auch hier ist Luxemburg unser Beispiel. Dieses kleine Volk ist kein Resultat aus der Retorte diplomatischer Verträge. Es ist in mehr als einem Jahrtausend zusammengewachsen zu einer Einheit, in der Romanisches und Germanisches sich begegnen und befruchten.

Das Luxemburger Volk hat seine Grenzen weit geöffnet und ist der Gastgeber vieler Nationalitäten, ohne seine ethnische, kulturelle und sprachliche Eigenart zu verlieren. Es ist der Mittler in Gegensätzen, der Mahner zu Vernunft und Toleranz, das für alle Europäer stellvertretende Beispiel, des durch keine Rückschläge und enttäuschte Hoffnungen resignierenden Europäers, das weder unerfüllte Versprechungen, noch Serien gescheiterter Gipfelkonferenzen in seinen europäischen Hoffnungen und Bestrebungen ermatten ließ.

Diesem europäischen Menschen, dem normalen Bürger, dem unbeirrten Luxemburger, soll heute gedankt werden. Er hat nicht aufgegeben. Er kennt sein Schicksal und seine Chance, und die heißt Europa, die Union unserer Völker. Und er läßt nicht nach, sie zu erstreben.

Er will Luxemburger bleiben. Aber er weiß, daß er als solcher nur Zukunft hat, wenn er auch Europäer ist. 365 Tausend Luxemburger unter 320 Millionen Europäern, um deren Menschenwürde, Wohlfahrt, Frieden und Freiheit es geht.

Aber "die Freiheit und das Himmelreich erlangen keine Halben". Luxemburger sind keine Halben. Sie lieben ganz ihr Land und ganz den alten Kontinent, in den es eingebettet ist, sie wollen dieses Europa, das so jung und voller Hoffnung sein könnte.

Daher hat das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises der Stadt Aachen einmütig beschlossen, dem Luxemburger Volk den Karlspreis für das Jahr 1986 zu verleihen, den an Eure Königliche Hoheit, das verehrte Staatsoberhaupt, zu überreichen ich die große Ehre habe.