Laudatio von Lionel Jospin

Laudatio von Lionel Jospin, Premierminister der Republik Frankreich

Herr Oberbürgermeister,
Herr Premierminister,
lieber Tony Blair,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
liebe Freunde!

Aachen, die Lieblingsresidenz Karls des Großen, Hauptstadt seines Reiches, Schauplatz von Friedensverträgen, mit denen unser Kontinent gestaltet wurde, Schatzkammer großer Architektur - in ihrem Herzen die Pfalzkapelle -, eine Stadt, geschunden in zwei Weltkriegen, die ja doch vor allem ein europäisches Verhängnis waren, Aachen ist eine der Städte, in denen europäischer Geist weht!

Eingedenk dieser Vergangenheit und stolz auf die Berufung ihrer Stadt, Mittlerin zu sein über die Grenzen hinaus, haben Bürgerinnen und Bürger der Stadt Aachen im Jahre 1949 einen Preis gestiftet, um diejenigen auszuzeichnen, die sich um die Erneuerung und die Einheit Europas verdient machen. Es ist nur natürlich, dass diese Auszeichnung den Namen Karls des Großen trägt, jenes Kaisers, den die Dichter des Mittelalters als "pater Europae" feiern, von dem man hierzulande meint, er sei Deutscher, während die Schüler bei uns lernen, dass er Franzose ist. Zwar hat dieses "erste Europa", gewaltsam vereint durch 53 Feldzüge, den Tod des Kaisers nicht überlebt. Geblieben ist das Ideal eines versöhnten Kontinents.

Die Gründungsakte des Internationalen Karlspreises hebt deshalb das "Problem der europäischen Einheit" hervor. Heute, nach einem halben Jahrhundert, ist die Lösung dieses "Problems" auf gutem Wege. Wenn es auch, um unser Werk zu vollenden, noch vieler europäischer Gipfel bedarf, mehr als Karl der Große Feldzüge geführt hat, so hat doch jedermann das Gefühl, dass dieses mit friedlichen Mitteln unternommene Werk für eine beispiellos lange Zeit in die Geschichte eingehen wird.


Meine sehr verehrten Damen und Herren!

Ich verhehle nicht, dass ich sehr glücklich bin und stolz heute zusammen mit Ihnen der Verleihung eines Preises beizuwohnen, der den Weg unseres Kontinents zu immer engerer Einheit der europäischen Völker begleitet. Ich danke dem Oberbürgermeister der Stadt Aachen, Herrn Dr. Jürgen Linden, den Mitgliedern der Gesellschaft zur Verleihung des Internationalen Karlspreises und ihrem Präsidenten, Herrn Walter Eversheim, für die herzliche Aufnahme, die ich hier gefunden habe.

Alcide de Gasperi, Jean Monnet, Konrad Adenauer, Paul Henri Spaak, George Marshall, François Mitterrand., Helmut Kohl oder auch - heute unter uns - Mme. Simone Veil, die Liste der Preisträger, die hier Jahr für Jahr durch den Karlspreis geehrt worden sind, ist zutiefst beeindruckend; sie ist lang, zu lang, als dass ich es wagen könnte, sie in extenso zu zitieren, es wurde den Rahmen dieser Rede sprengen.

Ich freue mich, dass die Wahl der Jury in diesem Jahr auf den britischen Premierminister Tony Blair gefallen ist, der sich damit an die Reihe von dreien seiner illustren Landsleute, Winston Churchill, Edward Heath und Roy Jenkins, anschließt.

Es ist Tradition, dass der Preisträger einen "Paten" wählt, um ihn bei der Preisver1eihung zu begleiten. Ich fühle mich sehr geehrt, als "Patenkind" - wenigstens für einen Tag -, Tony Blair zu haben, obwohl unser Altersunterschied es vielleicht rechtfertigen würde, dass dieser Zustand andauere. Bevor ich ihn - auch dies Tradition - beglückwünsche zu der Auszeichnung, die ihm heute zuteil wird, möchte ich ihm herzlich danken, dass er mich gewählt hat.

Meine sehr verehrten Damen und Herren!

Dass der Karlspreis am heutigen Tage Tony Blair überreicht wird, erfüllt mich mit großer Freude.

Zunächst wegen der freundschaftlichen und vertrauensvollen Beziehung, die uns verbindet. Es hat eine Zeit lang Kommentare gegeben, die sich darin versuchten, uns in jeder Hinsicht gegeneinander zu stellen, sich aber dann - ohne Furcht vor dem Widerspruch - darin gefielen, unsere Gemeinsamkeiten auszubreiten. Die Wahrheit ist einfacher. Wir sind beide Sozialdemokraten. Beide sind wir engagiert auf der Suche nach der Modernität, getreu unseren gemeinsamen Werten, die jeder von uns auf seine Weise mit Leben erfüllt. Beide sind wir zutiefst unseren Nationen verhaftet, aber auch der Schaffung eines starken und vereinten Europa.

Und schließlich, lieber Tony Blair, - ich darf das sagen -, sind wir gute Freunde. Bei vielen Gelegenheiten, sei es offiziellen Anlässen oder mehr informellen Treffen, wenn ich Sie in Sedgefield besuchte oder Sie zu mir nach Cintegabelle kamen, haben wir eine starke und freundschaftliche Beziehung aufgebaut, hier bei einem Glas Bier, dort beim Wein. Da hat dann der Citoyen français versucht Englisch zu sprechen, während Her Majesty's subject auf Französisch antwortete, und beide haben wir uns über unsere sprachlichen Ungeschicklichkeiten amüsiert. Das ist unsere Art, die Entente cordiale fortzusetzen.

Ich empfinde auch Freude darüber, dass heute morgen unter dem Zeichen der Einheit ein Deutscher, ein Engländer und ein Franzose versammelt sind. Auch wenn Europa lange Zeit sogenannte "Erbfeinde" in den Kampf geschickt hat, so sind doch heute diese vermeintlichen "Gesetze" der Erbfeindschaft durch eine Kraft höherer Ordnung überwunden, durch den politischen Willen, mit dem es gelungen ist, in freier Entscheidung Einheit unter den Nationen zu schaffen, durch die Vision eines in sich versöhnten befriedeten Kontinents, wo Krieg zwischen den Nationen, die sich so sehr bekämpft haben, undenkbar geworden ist. Seit dem Elyseevertrag von 1963 mit den Unterschriften von Konrad Adenauer und General de Gaulle sind Deutschland und Frankreich ein so eng wie nur denkbar vereintes Paar, zusammengeschweißt durch einen nie nachlassenden politischen Willen, gestützt durch wachsenden wirtschaftlichen Austausch, gestärkt durch immer engere kulturelle Beziehungen. Auch heute, mit Bundeskanzler Gerhard Schröder, empfinden wir dies ebenso tief.

Doch hat diese Verbindung, so stark sie auch sein möge, nichts Exklusives. Frankreich teilt mit Großbritannien nicht nur die gemeinsame Erinnerung an eine alte, durchaus von gegenseitiger Bewunderung erfüllte Rivalität, sondern auch die Verbundenheit in traditioneller Freundschaft und das Bewußtsein einer wirklichen Schicksalsgemeinschaft. Deshalb habe ich die französisch””britischen Initiativen auf so wesentlichen Gebieten wie der Verteidigungspolitik in Saint-Malo, und der Außenpolitik, in Rambouillet, voll unterstützt. Und mir liegt daran, lieber Tony Blair, Ihnen in einem Augenblick, wo die Stadt London von einem so verabscheuungswürdigen Akt des Terrorismus betroffen worden ist, mein tiefstes Mitgefühl zum Ausdruck zu bringen. Ich tue dies eingedenk der Verbundenheit unserer Länder und der gegenseitigen Zuneigung unserer Völker.

Abgesehen von der Freude, "Pate" für Tony Blair sein zu dürfen, empfinde ich Genugtuung darüber, dass dieser Preis ehrlich verdient ist. Unter den hohen Persönlichkeiten dieser Festversammlung werden sich viele mit mir daran erinnern, wie diffizil in diesem halben Jahrhundert die Beziehungen zwischen den Staaten des Kontinents mit ihrem Streben nach Einheit und andererseits Großbritannien waren, wo man gelegentlich mit insularem Stolz und einem Sinn für Proportionen, der dem Land zueigen ist, die Tausende von Kilometern des Atlantischen Ozeans als "Brücke", die bescheidenen 32 Kilometer des Ärmelkanals dagegen als unüberbrückbaren "Graben" betrachtet hat.

"Wait and see", diese durch und durch britische Lebensregel gibt, glaube ich, recht gut die Haltung des Vereinigten Königreichs gegenüber Europa wieder. l6 Jahre liegen zwischen der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und dem Beitritt Großbritanniens; 11 Jahre vergingen, bis Großbritannien sich dem Europäischen Währungssystem anschloss; 6 Jahre - und nur 6 Jahre trennen die Abfassung der Sozialcharta und ihre Unterzeichnung durch Großbritannien. Wenn die Abstände sich verkürzen, dann, lieber Tony Blair, ist dies Ihnen zu verdanken!

Aus diesem kurzen historischen Rückblick zeichnet sich eines ab: wie weit auch die Umwege sein mögen, wie schnell oder langsam das Tempo, letztlich findet Großbritannien immer den Weg nach Europa. Winston Churchill, wäre er heute unter uns, würde vielleicht seinen berühmten Ausspruch abwandeln und diese Sichtweise so zusammenfassen: "Europa ist das schlimmste der Systeme, alle anderen ausgenommen" ...

Und doch ist wohl jedem von uns aufgefallen: seit 2 Jahren sind die Umwege kürzer, ist das Tempo schneller geworden. Tony BLAIR hat es verstanden, sein Volk zu gewinnen, indem er dem Land begreiflich machte, dass es nicht "am Rande" der Europäischen Union bleiben kann. Am 24. März l998 unterstrich er bei einem Besuch in Paris nochmals, dass die Zukunft Großbritanniens darin liegt, ein "vollwertiger Partner Europas" zu sein.

Das sind Werte, die das Herz aller Europäer erfreuen. Es mag durchaus sein, dass die heutige Labour-Regierung nicht vergisst, was Palmerston l848 vor dem Unterhaus erklärte: "Wir haben weder ewige Freunde, noch beständige Feinde. Nur unsere Interessen sind ewig und beständig." Es ist aber das Verdienst von Tony Blair, eines seiner vielen Verdienste, eine Mehrheit seiner Landsleute auf einem Weg zu begleiten, wo sie sich bewußt werden, dass viele britische Interessen heute die Annäherung an die Europäische Union erfordern eine europäische Union, in der Sie Freunde, und nur Freunde haben.
Als Tony Blair am 2. Mai l997 in Nr. l0 Downing Street einzog, hat Großbritannien sich auf den Weg nach Europa begeben. Schon im Juni 1997 löste er ein im Frühjahr während des Wahlkampfes gegebenes Versprechen ein, indem er beim Amsterdamer Gipfel die hartnäckige Verweigerung der vorhergehenden britischen Regierung beendete und die Sozialcharta unterzeichnete.

Wir alle haben es geschätzt, mit wieviel Geschick die Arbeiten der Gemeinschaft unter der britischen Präsidentschaft im l. Halbjahr l998 geführt wurden. Gerade heute können die Partner Tony Blairs ermessen, welche Arbeit er bei seinen Landsleuten zugunsten einer Etappe geleistet hat, die für den Bau Europas so wesentlich ist: die gemeinsame Währung.

Aufmerksam beobachtet das Vereinigte Königreich das Schicksal der elf europäischen Staaten, die am l. Januar l999 den EURO als zukünftige gemeinsame Währung eingeführt haben. Man fragt sich, man debattiert, man zweifelt. Aber welcher unserer elf Staaten hat sich am Vorabend einer so wichtigen Entscheidung nicht Fragen gestellt, nicht debattiert und nicht - zumindest zeitweilig - Zweifel gehabt ?

Jedermann hat sich gefreut, als der britische Premierminister beim Gipfeltreffen in Cardiff im Juni l998 erklärte, die Währungsunion sei "der erste Schritt", um die Rahmenbedingungen für eine lange Periode wirtschaftlicher Expansion in Europa zu schaffen.

Wissen Sie, lieber Tony Blair, dass Ihre Inspiration anknüpft an die eines Ihrer Landsleute, der vor langer Zeit, so wie Sie heute, nach Aachen gereist ist. Als brillanter Vertreter der Kultur der Angeln wurde im Jahre 782 Alkuin, - mit seinem lateinischen Namen Albinus Flaccus - von Karl dem Großen zum Leiter der Palastschule berufen. Sein Biograph sagt von ihm: "documit multos in Britannia" – "Vielen war er ein Lehrer in Britannien". Als moderner Alkuin, mit dem Fleiß des Benediktiners, der Alkuin wohl war - obwohl die Historiker sich darüber streiten, lehren Sie Ihre Landsleute den Sinn Europas. Auch Sie eilen durch unseren Kontinent, nicht von Abtei zu Abtei, von Bistum zu Bistum, sondern von einer Hauptstadt zur anderen, um beizutragen zur Erneuerung einer Geschichts- und Kulturgemeinschaft.

Genau wie Sie, lieber Tony Blair, habe ich den Wunsch, dass Großbritannien in der Europäischen Union den Platz einnehmen möge, der ihm zukommt. Nicht nur, weil dies im Interesse Ihres Landes liegt, auch nicht weil dies dem Interesse Europas entspricht, sondern weil Europa den Geist und die Lebensart der Briten braucht.

Wir wollen, dass Europa ein Raum des Wachstums sei, wo expandierende Unternehmen allen Menschen Arbeit bieten, damit die Arbeitslosigkeit und das Elend abnehmen. Ich rufe auf zu Zusammenschlüssen in der Industrie, damit unsere Unternehmen, besonders britische, deutsche und französische, ihre Kräfte bündeln, neue Produkte entwickeln und dem Wettbewerb in dieser Zeit der Globalisierung entgegentreten können.

Wir wollen, dass die Europäische Union demokratischer wird. Die Rolle des Parlaments muss erheblich gestärkt werden: die parlamentarische Tradition gerade auch Ihres Landes wird in diese Richtung drängen.

Wir wollen, dass Europa die Mittel hat, um seine Verantwortung auf der internationalen Szene wahrzunehmen. Dazu kann Großbritannien, das mit seinen militärischen Kapazitäten, seiner Präsenz in der Welt und seiner diplomatischen Erfahrung wertvolle Trümpfe in der Hand hält, zusammen mit uns einen Beitrag leisten.

Wir wollen, dass Europa die Zivilisation erhält und weiterentwickelt, die es in seinem Schrein bewahrt, eine Zivilisation, die den Werken des Geistes höchste Bedeutung beimisst und die, selbst ein Werk des Geistes, ihren Reichtum aus der Vielfalt bezieht. In dieser Vielfalt ist die Kultur - sind die Kulturen - Großbritanniens eine wertvolle Facette. Diese Zivilisation gründet sich auch auf den Frieden. Meine Anerkennung gilt Ihrem Friedenswerk in Nordirland, wo Sie die Anstrengungen Ihrer Staatssekretärin Mo Mowlan unterstützen und die Versöhnung der von der Geschichte zerrissenen Gemeinschaften vorbereiten.

Aber Frieden im Inneren genügt nicht, wenn zugleich an den Grenzen unserer Union Gewalt herrscht. Tony Blair war am 3. Mai in Skopje, ich selbst am Vorabend. Wir beide sind zutiefst betroffen von der Not und Verzweiflung der Frauen und Männer im Kosovo, die das Belgrader Regime vertrieben hat. Aus den erschütternden Zeugnissen der Menschen spricht das ganze Ausmaß der Grausamkeit, der Infamie und der Barbarei, deren sich das Belgrader Regime schuldig macht. Drücken wir uns nicht vor klaren Worten: im Herzen Europas werden Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen!

Daher führen wir einen Kampf für die Zivilisation, für unsere europäische Zivilisation! Ein Kampf, in dem wir Gewalt solange anwenden werden, bis die Verhandlungen wieder beginnen können, die allein geeignet sind, zu einer langfristigen politischen Lösung zu führen.

Dann aber kommt die schwierigste Aufgabe: den Frieden zu gestalten und zu sichern, einen dauerhaften Frieden für alle Balkanländer und nicht einen örtlich begrenzten Waffenstillstand. Ein Friede, der den Völkern ihre Freiheit zurückgibt, nicht aber den Tyrannen eine Atempause verschafft. Ein Friede, der die Nationen versöhnt, nicht aber den Mächtigen Absolution erteilt.

Meine sehr verehrten Damen und Herren !

Wir ehren am heutigen Tage in Aachen, eingedenk des Wunsches, den die Bürger dieser Stadt im Jahre l949 zum Ausdruck gebracht haben, einen Staatsmann, der uns zeigt - falls es dessen noch bedurfte -, dass man zutiefst seinem Vaterland verhaftet sein und zugleich ein vereintes Europa wollen kann.

Lieber Tony Blair, lassen Sie mich in diesem Augenblick, wo Ihnen der Internationale Karlspreis überreicht werden wird, einen Wunsch aussprechen:

Mögen Sie in dieser ehrenvollen Auszeichnung die verdiente Anerkennung für Ihr Handeln sehen, zugleich aber die Aufforderung, weiterhin unserem gemeinsamen Ideal zu dienen, dem Ideal eines starken, solidarischen, vereinten, in die Zukunft gerichteten Europa!

Foto Anthony (Tony) Charles Lynton Blair

Anthony (Tony) Charles Lynton Blair