Rede von Karl Carstens

Rede von Karl Carstens

Herr Oberbürgermeister der Stadt Aachen,
Majestäten,
Herr Bundeskanzler,
Exzellenzen,
meine Herren des Direktoriums,
meine Damen und Herren!


Dankbar und tief bewegt nehme ich den Karlspreis an.

Ich fühle mich hoch geehrt, daß ich als 26. Preisträger in eine Reihe gestellt werde mit Persönlichkeiten, die ihr Leben, ihre Kraft und ihre Leidenschaft dem großen Werk der europäischen Einigung gewidmet haben. Ich freue ich, daß die früheren Träger des Karlspreises, Professor Brugmans, Mr. Heath und mein Amtsvorgänger, Herr Scheel, heute hier anwesend sind.

Besonders möchte ich zweier früherer Preisträger gedenken. Vor dreißig Jahren - 1954 - erhielt Konrad Adenauer den Karlspreis, dessen Mitarbeiter ich war, und vor zwanzig Jahren Antonio Segni, mit dem mich eine enge Freundschaft verband.

Mein Dank gilt Ihnen, Herr Oberbürgermeister, der Stadt Aachen und dem Direktorium des Internationalen Karlspreises. Ihnen, Majestät, danke ich für die ehrenvolle und freundliche Würdigung meines eigenen Beitrages zu jenem Ziel, das alle Träger des Karlspreises vereint:
ein einiges Europa in Freiheit und Frieden zu schaffen. Sie selbst, Majestät, haben in Ihrem Land viel zu diesem Ziel beigetragen.

Ich danke auch Ihnen, Herr Bundeskanzler, für Ihre Worte, die erneut gezeigt haben, daß die Bundesrepublik Deutschland mit Entschlossenheit und mit schöpferischer Kraft die wirtschaftliche und politische Einigung Europas anstrebt.

Diese Politik reicht mehr als dreißig Jahre zurück. Die hinter uns liegende Wegstrecke ist beachtlich. Im Jahre 1954, als Konrad Adenauer den Karlspreis empfing, wurde ich zum ersten Vertreter der Bundesrepublik Deutschland beim Europarat ernannt. Ich möchte an jenes Jahr erinnern. Die Bundesrepublik Deutschland hatte noch nicht ihre volle Souveränität erlangt. Zwischen Deutschland und Frankreich stand die ungelöste Saarfrage. Wer damals in Europa reisen wollte, brauchte nicht nur einen Paß, sondern auch ein Visum. Die Personenkontrollen an den Grenzen waren oftmals langwierig. Der Handel in Europa war durch nationale Zölle gehemmt. Die noch unter den Kriegsfolgen leidende Wirtschaft unseres Kontinents konnte sich in nationaler Enge nur langsam entfalten. Wir sollten uns auch daran erinnern, daß jenes Jahr für Europa ein schweres Jahr war. Am 30. August 1954 scheiterte das Konzept einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft und damit auch der Satzungsentwurf für eine Europäische Politische Gemeinschaft.

Der europäische Einigungsprozeß hatte einen ersten schweren Rückschlag erlitten. Aber eines hatten die führenden Männer jener Stunde - Adenauer, Monnet, Schuman, Martino, Spaak - nicht auch nur einen Augenblick lang verloren: ihren Mut, ihren Einfallsreichtum und den Willen, weiter zu machen. Sie ließen sich nicht beirren. Sie haben vieles erreicht.
Auf uns und auf die, die uns folgen, kommt es an, das begonnene Werk trotz aller Schwierigkeiten fortzuführen und zu vollenden. Dabei müssen wir sehen, daß in unseren Ländern inzwischen eine neue Generation herangewachsen ist, eine Generation, deren Engagement für die europäische Sache nicht mehr aus der bitteren Erfahrung europäischer Bruderkriege und der darauf beruhenden Einsicht erwächst, und die daher in bezug auf den europäischen Fortschritt anspruchsvoller geworden ist.

Ihre Erfahrung beruht auf dem heutigen Europa der Gemeinschaft: einem Europa nicht der feindlichen Trennung, sondern der Verbrüderung, wie sie sich in Tausenden von Städtepartnerschaften, in Millionen von Besuchen widerspiegelt. Die Gemeinschaft der Freundschaft, des Friedens, der Freiheit und des wirtschaftlichen Erfolges: das ist das Europa der jungen Generation.

Und ich frage Sie: ist das nicht ein Erfolg? Ist das nicht der größte Erfolg unseres Mühens der letzten drei Jahrzehnte?

Im vergangenen Jahr haben am Europäischen Schülerwettbewerb, dessen Schirmherr in der Bundesrepublik Deutschland ich bin, allein in unserem Lande 100 000 Jugendliche teilgenommen; das ist die höchste Beteiligung seit Bestehen dieses Wettbewerbs. Das zeugt nicht von mangelndem Interesse an Europa.

Spontan und ganz ohne Aufsehen, ohne besondere Maßnahmen der Regierungen, nimmt die Verflechtung und die Gemeinschaft zwischen den Bürgern unserer Länder täglich zu. Täglich verkürzt sich die psychologische Distanz: Paris oder Rom, Den Haag oder Kopenhagen, London oder Brüssel sind für einen jungen Deutschen nicht mehr Ausland im alten Sinn, sondern Teil gemeinsamer europäischer Vielfalt. Zunehmend ist nicht der Nationalstaat, sondern die Gemeinschaft der Maßstab. Ohne daß die regionale, kulturelle, sprachliche Vielfalt unserer europäischen Völker aufgegeben würde, entwickelt sich vor unseren Augen allmählich eine europäische Gesellschaft. Es ist ein Prozeß, der den Verstand, aber auch das Herz unserer europäischen Mitbürger ergriffen hat. Er kann nicht mehr rückgängig gemacht werden.

Und wenn heute bei manchen Verdruß über die aktuellen Probleme der Gemeinschaft sichtbar wird, so spiegelt sich diese Entwicklung auch darin wider. Verdruß über die Gemeinschaft zu äußern heißt nicht, die Idee der Integration abzulehnen - wer in Europa, frage ich, will denn zurück zum alten Nationalstaat? -, sondern zeigt vielmehr Unwillen darüber, daß es im Vergleich zum Erreichten und zum Gewollten zu langsam vorangeht, daß der europäische Fortschritt immer wieder an national-staatlichen Barrieren und Egoismen stehenbleibt. Dabei wird leicht übersehen, was inzwischen erreicht worden ist. Die Europäische Gemeinschaft ist heute eine der größten Wirtschaftseinheiten der Welt. Sie umfaßt einen gemeinsamen Markt von 270 Millionen Menschen. Zwar sind nicht alle Handelshemmnisse im Innern der Gemeinschaft beseitigt, aber dennoch steigt der Warenaustausch zwischen den Mitgliedstaaten stetig und sehr viel stärker als ihr Handel mit der übrigen Welt. Zahlreiche Unternehmen aus verschiedenen Mitgliedstaaten finden sich zu gemeinsamen Anstrengungen zusammen. Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und die Niederlassungsfreiheit für die freien Berufe sind noch nicht voll verwirklicht, aber auch hier sind wichtige Schritte getan.

Zwölf Millionen europäische Bürger leben und arbeiten in einem anderen EG-Mitgliedstaat als ihrem Heimatland. Die Grenzkontrollen für den Personenverkehr sind auf ein Minimum reduziert. Es besteht Paß- und Visumsfreiheit. Auch die Grenzkontrollen für Lastwagen sollen nach einem jüngsten Beschluß der Verkehrsminister wesentlich erleichtert werden. Der gemeinsame Agrarmarkt hat zu einem breitgefächerten und vielseitigen Nahrungsmittelangebot in unseren Ländern geführt. Er ist trotz aller Schwierigkeiten eine wichtige Klammer der Gemeinschaft. Die Rechtsangleichung ist durch Richtlinien des Rates und durch zahlreiche Abkommen weit fortgeschritten. Das gilt nicht nur für den landwirtschaftlichen Bereich, sondern auch für die Herstellung gewerblicher Erzeugnisse, für die Ausübung bestimmter Berufe, es gilt für das Steuerrecht und das öffentliche Auftragswesen, um nur einige Beispiele zu nennen. Europäische Rechtsakte, die Verordnungen des Rates, gehen dem gesamten innerstaatlichen Recht der Mitgliedstaaten, einschließlich ihres Verfassungsrechts, vor. Ein mit weitgehenden Kompetenzen ausgestatteter Europäischer Gerichtshof entscheidet Streitigkeiten über die Auslegung und Anwendung des Europäischen Gemeinschaftsrechts. Fundamentale Rechtsgrundsätze sind von ihm als Normen des Gemeinschaftsrechts anerkannt. Dazu zählen vor allem die Grund- und Menschenrechte. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs hat sich in allen Mitgliedstaaten durchgesetzt. Die befürchteten Schwierigkeiten anläßlich des Beitritts des Vereinigten Königreichs - also der Einbeziehung des Common Law - haben sich als geringer erwiesen als erwartet. Die Zusammenarbeit heute ist gut. Das gemeinsame europäische Recht ist die stärkste Klammer, die die Gemeinschaft zusammenhält.

Auch das Europäische Parlament ist eine solche Klammer geworden. Sein Wort hat Gewicht, seine Beiträge werden überall gehört. In vielen Fragen hat es entscheidende Anstöße gegeben und mit großer Beharrlichkeit ihre Durchsetzung im Ministerrat erreicht. Das Parlament ist damit ein starker Motor der Europäischen Gemeinschaft. In Haushaltsfragen hat es ein echtes Mitbestimmungsrecht. Nationale Unterschiede treten hinter parteipolitischen Gegensätzen zurück. Insofern ist das Europäische Parlament schon heute ein richtiges Parlament. Unsere Medien sollten noch mehr darüber berichten. Wir treten dafür ein, daß seine Kompetenzen erweitert werden, damit es die Funktionen übernehmen kann, die einem Parlament in einem demokratischen Gemeinwesen zukommen.

In wenigen Wochen werden seine Mitglieder zum zweiten Male in freier und geheimer Wahl in allen unseren Mitgliedsländern gewählt. Ich fordere nicht nur meine deutschen Landsleute auf, sondern von diesem Forum in Aachen bitte ich alle Bürger der zehn Mitgliedstaaten der Gemeinschaft, sich an dieser Wahl zu beteiligen. Setzen Sie durch Ihre Beteiligung ein Zeichen der Entschlossenheit, trotz der bestehenden Schwierigkeiten auf dem Wege der Einheit fortzuschreiten. Setzen Sie ein Zeichen, das keine Regierung übersehen kann. Machen Sie, meine deutschen und europäischen Landsleute, diese Wahl zu einer überzeugenden Demonstration des europäischen Willens zur Einheit!

Ich habe bisher von den Fortschritten im Innern der Gemeinschaft gesprochen. Ebenso wichtig sind ihre Wirkungen nach außen. Mit einem Anteil an der Weltbevölkerung von sechs Prozent beläuft sich der Anteil der Gemeinschaft an der Weltwirtschaftsleistung auf 23 Prozent, an der Weltentwicklungshilfe auf 35 Prozent und am Welthandel sogar auf 37 Prozent. Die Europäische Gemeinschaft ist damit der größte Handelspartner in der Welt überhaupt! Ihr Außenhandelsvolumen übersteigt das der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion zusammengenommen. In den meisten internationalen Wirtschaftsorganisationen - im GATT, im Internationalen Währungsfonds, in der Weltbank zum Beispiel - tritt die Europäische Gemeinschaft mit einer abgestimmten, gemeinsamen Außenwirtschaftspolitik auf. Obwohl die handelspolitischen Kompetenzen erst in den siebziger Jahren auf die Gemeinschaft übergegangen sind, ist es ihr gelungen, ein dichtes Netz von Handelsverträgen und -vereinbarungen aufzubauen. Mit 98 Staaten unterhält die Gemeinschaft diplomatische Beziehungen. Eine herausragende Stellung nimmt das Lomé-Abkommen ein, durch das mehr als 60 Entwicklungsländer aus Afrika, dem karibischen und dem pazifischen Raum mit der Europäischen Gemeinschaft verbunden sind. Diese Vereinbarung stellt mit ihren Vergünstigungen für Einfuhren aus den Entwicklungsländern, mit Stabilisierungsmaßnahmen für Rohstoffpreise, Vereinbarungen zur technischen und industriellen Zusammenarbeit und einem Europäischen Entwicklungsfonds von rund 7 Milliarden DM eines der größten Projekte der Entwicklungshilfe und Zusammenarbeit der Welt dar. Es bildet zugleich eine wichtige politische Klammer zwischen Europa und der Dritten Welt.

Aber nicht nur im außenwirtschaftlichen, auch im außenpolitischen Bereich wächst die Gemeinschaft zusammen. Das Verfahren der Europäischen Politischen Zusammenarbeit hat zu einer zunehmenden Koordinierung der Außenpolitiken der europäischen Staaten geführt. Sechsmal im Jahr treffen sich die Außenminister im Rahmen der EPZ, der Politische Ausschuß tagt monatlich. Der jeweilige Präsident des Europäischen Rates vertritt die Gemeinschaft nach außen. Inzwischen wird kein außenpolitisches Thema mehr von der Koordinierung ausgeschlossen: die ganze Welt wird erfaßt, von den Ost-West-Beziehungen, den Abrüstungsverhandlungen, dem Nahen und Mittleren Osten bis hin zu Afrika und Lateinamerika. So können wir, meine Damen und Herren, mit Genugtuung feststellen: die Europäische Gemeinschaft, unsere Gemeinschaft, genießt in der Welt hohes Ansehen; ich habe es auf meinen Auslandsreisen in Asien, in Afrika, in Amerika und in den europäischen Staaten, die nicht der Gemeinschaft angehören, immer wieder selbst erlebt.

Die Gemeinschaft blickt auch nach Osten. Sie ist sich bewußt, daß eines ihrer Mitglieder, die Bundesrepublik Deutschland, Teil eines geteilten Landes ist, und sie hat die Politik der Bundesrepublik, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt, immer unterstützt.

Wir Deutschen sind dafür dankbar, ebenso wie wir für die Sonderregelung des EWG-Vertrages dankbar sind, wonach der Handel zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland von Zöllen und Abgaben freigestellt ist und die eine wichtige Klammer zwischen den beiden deutschen Staaten bildet.

Die Europäische Gemeinschaft ist auch stets zur Zusammenarbeit mit den osteuropäischen Staaten und mit der Sowjetunion bereit gewesen. Sie versteht wirtschaftliche Kooperation als Teil des Bemühens um Frieden. Sie ist sich bewußt, daß auch die osteuropäischen Staaten tief in der europäischen Kultur und Überlieferung verwurzelt sind, ja daß sie wesentlich zu dieser Kultur beigetragen haben.

Aber das positive, zum Teil glanzvolle Bild, das ich bisher von der Europäischen Gemeinschaft gezeichnet habe, hat Risse. Die Gemeinschaft befindet sich in einer Krise. Die Enttäuschung darüber, daß mehrere Gipfelkonferenzen nicht zu einer einvernehmlichen Lösung der Hauptprobleme geführt haben, ist groß. Bittere Fragen werden aufgeworfen. War es ein Fehler, die Gemeinschaft über den Kreis der sechs ursprünglichen Mitgliedstaaten hinaus zu erweitern? Würden die Sechs, wenn sie unter sich geblieben wären, vielleicht eher imstande sein, die jetzt aufgetretenen Schwierigkeiten zu überwinden?

Ich habe mich seinerzeit, als die Frage bei uns umstritten war, für die Erweiterung der Gemeinschaft, und das hieß in erster Linie für den Beitritt Großbritanniens, eingesetzt, und ich stehe auch heute noch dazu. Großbritannien gehört notwendigerweise zu Europa. Dies liegt sowohl in seinem wie im Interesse der anderen Partnerstaaten, wenn es auch gelegentlich ein schwieriger Partner sein mag. Und ebenso gehören Irland, Dänemark, und Griechenland zu Europa wie auch Spanien und Portugal, für deren Mitgliedschaft wir Deutschen mit aller Kraft eintreten, notwendigerweise dazu gehören. Wir hoffen, daß es bald auch zu einer Lösung dieser Frage kommen wird. Aber eines möchte ich an dieser Stelle mit großem Nachdruck sagen: für die Zukunft der Gemeinschaft ist eine enge Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich wesentlich. Dieses Axiom der Adenauerschen Europapolitik ist heute so richtig wie vor dreißig Jahren. Die deutsch-französische Zusammenarbeit und Freundschaft ist seither immer enger geworden, ungeachtet der Tatsache, daß sich Regierungen unterschiedlicher politischer Richtung gegenüberstanden. Ich bin glücklich darüber, daß dieser Prozeß auch in der Gegenwart weiter fortschreitet.

Ich will nicht zu den einzelnen Fragen Stellung nehmen, die die Gemeinschaft zu lösen hat und um deren Lösung sich ein weiteres Gipfeltreffen noch im Juni bemühen wird. Ich will nur ein Wort zu den institutionellen Fragen sagen. Das Europäische Parlament hat einen kühnen Vertragsentwurf verabschiedet, der die Gründung einer Europäischen Union zum Ziele hat. Dieses vom Parlament gesetzte Ziel können wir alle bejahen. Wir Deutschen tun es eindeutig.

Mit Genugtuung habe ich gelesen, daß Staatspräsident Mitterrand vor kurzem in seiner großen Rede vor dem Europäischen Parlament in Straßburg erklärt hat, Frankreich sei bereit, in Verhandlungen über das Projekt der Europäischen Union einzutreten. Wir wünschen diesen Verhandlungen, die gewiß schwierig sein werden, einen guten Erfolg. Zu bejahen ist insbesondere jeder Schritt in Richtung auf eine Erweiterung der Kompetenzen. Hier liegt der Schwerpunkt im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik. Die Einigung Europas hat ein politisches Motiv. Von Anfang an wurde damit das Ziel angestrebt, daß Europa in internationalen Fragen mit einer Stimme sprechen sollte. Deswegen ist eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik eine konsequente Forderung.

Allerdings möchte ich zwei Überlegungen hinzufügen:
Erstens: Wer in internationalen Fragen mitsprechen und mitbestimmen will, muß auch bereit sein, die Verantwortung in solchen Fragen mitzutragen. Sind die Europäer dazu wirklich bereit? Und die zweite Bemerkung, die eng mit der ersten zusammenhängt: Heute gibt es für die europäische Sicherheitspolitik keinen anderen Rahmen als das Nordatlantische Bündnis. Wohl ist es wünschenswert, daß Europa innerhalb dies Bündnisses ein stärkeres Gewicht erhält, aber das Bündnis selbst ist unverzichtbar. Ein von Amerika abgesetztes Europa kann und soll es nach unserer Auffassung nicht geben. Europäischer Einfluß und europäisches Gewicht sollen vielmehr in Zusammenarbeit mit unseren amerikanischen Partnern dem Frieden und dem Wohle aller dienen. Weitere Schwerpunkte für eine Erweiterung der Aufgaben der Europäischen Gemeinschaft sollten die moderne Technik, die Raumfahrt, die Informatik, die Biotechnik und der Umweltschutz sein. Wenn wir auf diesen Gebieten erfolgreich sind, schaffen wir zugleich neue wettbewerbsfähige Arbeitsplätze und lindern das uns besonders bedrängende Problem der Arbeitslosigkeit.

Große Bedeutung kommt schließlich den Vorschlägen zu, die sich mit einer Änderung des Finanzmechanismus der Gemeinschaft befassen. Hier liegt die wohl größte Schwierigkeit in der gegenwärtigen Krise. Der Finanzausgleich zwischen den Mitgliedstaaten ist unbefriedigend. Das ganze Finanzsystem wird durch den übermäßigen Anteil, den die Agrarausgaben erfordern, verzerrt. Weniger reiche Länder müssen an relativ reichere Länder Beiträge zahlen, weil die letzteren auf dem Wege über die gemeinsame Agrarpolitik außerordentliche Einkünfte beanspruchen können. Diese Regelung bedarf dringend der Reform.

Aber so wichtig alle diese institutionellen und materiellen Fragen sind, entscheidend ist etwas anderes: entscheidend ist der Geist, der in den Verhandlungen über die europäischen Fragen herrscht. Es kommt darauf an, ob Regierungen, Beamte, Parlamentarier, ob die Völker, die in der Europäischen Gemeinschaft zusammengeschlossen sind, erkennen, daß die europäische Einigung ein Ziel ist, das Opfer rechtfertigt. Wenn Regierungen und Politiker und wenn die Völker davon nicht überzeugt sind, ist alles Mühen in den Gipfelkonferenzen und in anderen Gremien umsonst. Sind sie aber davon überzeugt, dann wird es möglich sein, Lösungen für die Fragen, die noch im Streit sind, zu finden.

Schließen möchte ich mit einem Appell. Das Europa, welches wir bauen, ist mehr als ein Institut zur Intensivierung des wirtschaftlichen Austausches. Unsere Gemeinschaft ist zuerst und vor allem ein Zusammenschluß von Staaten, die gemeinsam ihre als grundlegend erkannten Werte in einer unsicheren Welt schützen und in einer ungewissen Zukunft weiterentwickeln wollen und das nicht als eine abstrakte Idee, sondern zum Wohle des einzelnen Bürgers. Wir wollen mehr als ein Europa, in dem Zusammenarbeit nur mühsam über bürokratische Prozesse und Formelkompromisse zustande kommt.

Wir wollen ein Europa, das die Menschen begeistern kann durch die ihm innewohnende Idee der Freiheit, der Brüderlichkeit, der Gerechtigkeit und des Friedens, durch seine wirtschaftliche Leistungskraft, durch seine Wissenschaft, seine Literatur und seine Kunst.

Auf dem Wege zu diesem Ziel sind wir vor 35 Jahren aufgebrochen. Wir haben eine bedeutende Strecke zurückgelegt. Mit Energie, Phantasie und Entschlossenheit müssen wir jetzt die Krise überwinden und auf dem begonnenen Wege in eine gemeinsame Zukunft voranschreiten.