Rede des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen, Kurt Malangré

Rede des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen, Kurt Malangré

Festliche Versammlung!

"Vom Kampf um die Herstellung der europäischen Einheit gilt dasselbe wie von dem die Welt beherrschenden Ringen um die Erhaltung und Sicherheit unserer freiheitlichen Lebensordnung überhaupt. Dieser Kampf um die Einheit unseres Kontinentes erfordert den persönlichen Einsatz jedes einzelnen und den Mut, jeden Morgen, wenn ein neuer Tag beginnt, seinen wechselnden Herausforderungen zu begegnen."

Dies ist ein Zitat aus der Rede, die am 17. Juni 1961 der damalige Staatssekretär des Auswärtigen Amtes gehalten hat, den ich heute an erster Stelle in Ihrer aller Namen hier bei uns mit aller Herzlichkeit und Dankbarkeit begrüßen darf, den jetzigen Bundespräsidenten Herrn Professor Dr. Karl Carstens.

Wir freuen uns darüber, mit ihm auch seine Frau Gemahlin, Frau Dr. Veronika Carstens, willkommen heißen zu dürfen, die auf so kluge und liebenswürdig diskrete Weise ihrem Herrn Gemahl zur Seite gestanden und damit auch der Bundesrepublik und uns allen einen großen und überzeugenden Dienst erwiesen hat.

Wir grüßen die Karlspreisträger früherer Jahre:

Den Karlspreisträger 1951, den damaligen Rektor des Europa-Kollegs, Herrn Professor Dr. Hendrik Brugmans,

den Karlspreisträger 1963, den vormaligen Premierminister Großbritanniens und Britischen Lordsiegelbewahrer, The Right Hon. Edward Heath, M.B.E., M.P.,

den Karlspreisträger 1977, den vormaligen Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland und jetzigen Präsidenten des Deutschen Rates der Europäischen Bewegung und der Europa-Union, Herrn Walter Scheel,

den Karlspreisträger 1979, den damaligen Präsidenten des Europäischen Parlaments und langjährigen Außenminister Italiens, Herrn Emilio Colombo,

den Karlspreisträger 1982, Seine Majestät König Juan Carlos I von Spanien.

Wir sind glücklich darüber, mit ihm auch Ihre Majestät Königin Sophia auf das Herzlichste willkommen heißen zu dürfen.

Die erneute Anwesenheit Ihrer Majestäten wissen wir als eine große unserer Stadt erwiesene Ehre wohl zu schätzen, ist ein Zeichen besonderer Hochachtung gegenüber dem diesjährigen Preisträger und unterstreicht gleichzeitig die Bedeutung unseres gemeinsamen Themas, das lautet:

Die Einigung Europas

Ich grüße den Doyan des Diplomatischen Corps, den Herrn Apostolischen Nuntius, Erzbischof Dr. del Mestri und die Herren Botschafter Italiens, Portugals, Dänemarks, Venezuelas, Griechenlands, Ecuadors, der Niederlande, Uruguays, Belgiens, Spaniens, Frankreichs, Luxemburgs, der Dominikanischen Republik und Irlands.

Unser Gruß gilt dem Ministerpräsidenten Luxemburgs, Herrn Pierre Werner,

dem Vize-Ministerpräsidenten der Niederlande, Herrn van Aardenne

und für die Spanische Regierung, dem Minister für Erziehung und Wissenschaft, Herrn Maravall.

Ich heiße willkommen den Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Herrn Dr. Helmut Kohl,

Herrn Bundeswirtschaftsminister Dr. Graf Lambsdorff,

Herrn Staatsminister Dr. Jenninger

Sowie die Herren Staatssekretäre Boenisch, Lautenschlager, Neusel, und Vogel

und den Chef des Protokolls, Herrn Botschafter Graf von Finckenstein.

Wir freuen uns über die Anwesenheit zahlreicher Abgeordneten des Europäischen Parlamentes, an ihrer Spitze, des Herrn Vizepräsidenten Estgen

und unter ihnen des langjährigen Ministerpräsidenten Schleswig-Holsteins und Präsidenten des Deutschen Bundestages, Herrn von Hassel

und der Präsidentin der Europäischen Frauenunion, Frau Schleicher.

Wir grüßen
den Präsidenten der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, Herrn Dr. Ahrens,
den Präsidenten der Europäischen Investitionsbank, Herrn Le Portz,
für den Europäischen Gerichtshof, Herrn Professor Everling,
für die Kommission der Europäischen Gemeinschaft, Herrn Kommissar Dr. Narjes,
und den Präsidenten des Rates der deutschsprachigen Gemeinschaft, Herrn Betsch.

Ein herzlicher Gruß gilt den anwesenden Abgeordneten des Deutschen Bundestages, namentlich dem Herrn Vizepräsidenten Westphal,

den erschienenen Mitgliedern des Landtages von Nordrhein-Westfalen, unter ihnen dem Vorsitzenden der CDU-Fraktion, Herrn Dr. Worms,

sowie in Vertretung der Landesregierung, Herrn Minister Dr. Krumsiek.

Unseren Willkommensgruß richten wir an die Herren Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in den Ländern der Gemeinschaft und in Spanien,

an die versammelten Ständigen Vertreter ihrer Regierungen bei der Europäischen Gemeinschaft und der NATO,

an den Oberbefehlshaber der Vereinigten Streitkräfte Europa-Mitte, Herrn General Chalupa,

und die zahlreichen Mitglieder des Consularischen Corps.

Wir freuen uns über die Anwesenheit des Diözesanbischofs von Aachen, Herrn Professor Dr. Klaus Hemmerle,

des Ehrenvorsitzenden der Europa-Union, Herrn Theo M. Loch,

der Herren Präsidenten und Generalsekretäre der Europäischen Bewegung und fast aller nationaler Räte,

des geschäftsführenden Präsidialmitgliedes des Deutschen Städtetages, Herrn Dr. Weinberger

und des Vorsitzenden der Landschaftsversammlung Rheinland, Herrn Oberbürgermeister Josef Kürten.

Ihnen allen, die Sie an diesem heutigen Ereignis hier im Saale oder über Rundfunk und Fernsehen teilnehmen, gilt unser herzlicher Gruß!

Verehrte Anwesende!

Wenn in wenigen Tagen der Herr Bundespräsident nach eigenem Entschluß das höchste Amt unseres Staates niederlegt, wird er sein gesamtes politisches Wirken auf beispielhafte Weise unter eine Überschrift gestellt haben:

Unter die Überschrift der Präambel zu unserer Verfassung, dem Grundgesetz, die lautet:

"Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen ... hat das Deutsche Volk beschlossen ..."

Dieser feierlichen Verpflichtung, uns allen von der Verfassung auferlegt, "in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen", hat der Herr Bundespräsident nicht nur in seinem Amte als Hüter der Verfassung mit all seinen Kräften entsprochen. Ihre Erfüllung war Inhalt seines ganzen Lebenswerkes.

Nachdem er 1954 die erste Ständige Vertretung der Bundesrepublik beim Europarat in Straßburg geleitet und dann die Europa-Abteilung des Auswärtigen Amtes übernommen hatte, schrieb 1957 ein kundiger Journalist nach Abschluß der Römischen Verträge über ihn: "Es hat seine Logik, daß auf den EWG-Spezialisten Carstens, auf den unbeirrbaren Europäer und Vertreter deutsch-französischer Bindung wohlwollend das Auge des Kanzlers Adenauer gefallen ist." - ein weiteres Verdienst also dieses unseres Karlspreisträgers von 1954.

Die auf allen Stationen seines politischen Lebens als Staatssekretär, Fraktionsvorsitzender, Bundestagspräsident, tragende Überzeugung von der Lebensnotwendigkeit der Europäischen Gemeinschaft kulminiert vielleicht in einer Formulierung seiner Rede vom 24. Oktober 1983 zur Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Dijon, in der er sagte: "Der Prozeß der europäischen Einigung ist noch nicht beendet, jedoch ist das schon bisher Erreichte eine ungeheure Leistung, die von Außenstehenden oft mehr gewürdigt wird als von den in der Gemeinschaft lebenden Menschen.

Es gibt in der Nachkriegsgeschichte kein Ereignis, welches in seiner Bedeutung die Einigung Europas in der Europäischen Gemeinschaft übertrifft.

Aber gerade deshalb, weil die Einigung Europas so kostbar, so lebensnotwendig ist, bangen wir alle um den Bestand des Erreichten, trifft uns jeder Rückschlag, haben wir kein Verständnis für die Serie gescheiterter Konferenzen, für die selbstgebaute Falle eines Einstimmigkeitsprinzips, für die Unfähigkeit der Ministerräte auch nur noch Aufräumungsarbeiten zu erledigen, Kompromisse in Randfragen zu finden, geschweige denn zukunftsgestaltende Entscheidungen zu treffen.

Gerade deshalb, weil wir um die bewiesenen großen Möglichkeiten und Chancen der Gemeinschaft wissen, ist unsere Enttäuschung gegenüber denen so stark, die da meinen, sie dürften in kleinlicher nationaler Interessenschacherei die erprobte Kraft einer Gemeinschaft von 270 Millionen Europäern verkommen lassen. Gerade deshalb, weil wir den friedenerhaltenden Segen eines vereinten Kontinentes seit 40 Jahren erleben, können wir keine Verschleuderung dieses Gutes dulden.

Weil wir die Abhängigkeit unserer Arbeitsplätze vom Funktionieren unseres gemeinsamen großen Binnenmarktes kennen - allein in der Bundesrepublik sind es über 2.300.000 Arbeitsplätze und damit Menschenschicksale, die von der Existenz des freien europäischen Marktes leben - gerade deshalb müssen wir empfindlich auf europaschädlichen Provinzialismus und zukunftslose Revierförstereien reagieren. Deswegen auch empfinden wir die Kluft zwischen vollmundigen europäischen Festreden und den ausbleibenden Taten ihrer Verfasser als unerträglich.

Ja, wir folgen dem Herrn Bundespräsidenten, wenn er uns am 20. Januar dieses Jahres in seiner Ansprache zum 150. Gründungstag des Deutschen Zollvereins zurief: "Die Herausforderung ist groß, aber sie lohnt jeden Einsatz, denn die Einigung bleibt für Europa lebensnotwendig. Jedoch nun müssen Wille und Tat hinzukommen."

Ja, Wille und Tat, das Erreichte zu erhalten und das, was darüber hinaus ferner zu erhalten ist, auch zu erreichen: Nämlich die Gemeinschaft auszubauen, in gemeinsamer Forschungs- und Entwicklungspolitik in den Zukunftstechnologien die Herausforderung anzunehmen, Weltmarktanteile zurückzugewinnen und Arbeitsplätze zu schaffen, unsere gemeinsam in Gefahr und Schaden gebrachte Umwelt durch allein wirksame gemeinsame Anstrengungen wieder zu sanieren, durch gemeinsamen Willen und gemeinsame Tat unsere von außen bedrohte Sicherheit zu wahren, nach außen mit einer Stimme zu sprechen, unsere Wirtschaftskraft nicht zu zersplittern, sondern die gegründete Währungsunion auch zu vollenden und den Energiebedarf der Gemeinschaftsländer auch als Gemeinschaft zu decken, und endlich den Beitritt Spaniens und Portugals zu vollziehen, ohne den die Europäische Gemeinschaft ein Torso bleibt.

Das alles sind doch keine Utopien, sondern realistische Chancen, hätten wir nur den gestalterischen Mut der Gründer und ihr Vertrauen zueinander, das inzwischen zum listigen Wettbewerb des Taktierens schrumpfte, im Ritual von Konferenzen, deren Dauer im umgekehrten Verhältnis zu ihrem sachlichen Erfolg zu stehen pflegt. Es ist nicht erlaubt, so fortzufahren und die Möglichkeiten zu vertun!

Jetzt noch sind wir die wohl größte Wirtschaftsmacht der Erde und erwirtschaften in gemeinsamer Anstrengung jährlich das höchste Bruttosozialprodukt. Wie lange noch?

Jetzt noch liefern wir Jahr für Jahr für 12 Milliarden Hilfsgüter und Nahrungsmittel den Entwicklungsländern, den Not und Hunger leidenden Völkern.

Damit sind wir zum größten Nothelfer der Erde geworden. Wenn wir versagen und selbst durch eigenes Verschulden zurückfallen, was sollen wir denen antworten, die noch auf uns angewiesen sind, um aus Hunger und Elend herauszufinden?

Was denn sollen wir unseren Kindern sagen, wenn sie uns einmal fragen, wieso wir die Umwelt nicht geschützt, sondern zerstört haben?

Können wir uns etwa damit entschuldigen, daß 1984 unsere Minister getagt aber in wochenlangem Tauziehen nicht anderes zustande gebracht haben, als den Beschluß, alle umweltschützenden Entschließungen des Europäischen Parlamentes um ein Jahrzehnt hinauszuschieben und daß in diesem Jahrzehnt eben irreparable Schäden großen Ausmaßes entstanden seien?

Das ist nicht der Wille der Bürger Europas! Genausowenig, wie es ihr Wille ist, immer noch durch Binnengrenzen voreinander abgeschottet zu werden. Aber freilich kann die Kritik nicht das letzte Wort sein und werden wir dem Herrn Bundespräsidenten auch darin folgen, wenn er in der Rede vom 18. Januar dieses Jahres angesichts der Krise sagte: "Jetzt zu resignieren oder sich zurückzuziehen, wäre falsch. Es gilt zu überlegen, was nun getan werden kann, was zum bisherigen wirtschaftlichen Erfolg hinzukommen muß, um diesen zu festigen und um ihm ein dauerhaftes politisches Fundament zu geben."

Drei Antworten sind hierauf bereits gegeben worden: Zum einen danken wir es der Bundesregierung und Ihnen, Herr Bundeskanzler, persönlich, daß die Europäische Einigung wieder Schwerpunkt der Politik geworden ist, so daß zum Beispiel die jüngsten fatalen Verzögerungen der dringenden Umweltschutzmaßnahmen in der Gemeinschaft von der Bundesregierung nicht akzeptiert werden, daß inzwischen Einzelverhandlungen mit den Regierungen Luxemburgs, Belgiens und der Niederlande aufgenommen wurden, um die Personen- und Güterkontrollen an unseren Grenzen zu den Benelux-Staaten endlich weitgehend zu beseitigen und in eine Passunion unser Land mit einzubeziehen, also "Benelux" auf "Benedelux" zu erweitern und daß soeben das erste gemeinsame Forschungs- und Entwicklungsprogramm beschlossen werden konnte.

Zweitens: Immer vernehmlicher wird darüber nachgedacht, die Stagnation des Einigungsprozesses durch ein "Europa der zwei Geschwindigkeiten" oder der verschiedenen Ebenen zu überwinden, wonach die Gemeinschaftsländer, die ihre Gemeinschaft vorantreiben wollen, dies unbehindert durch ein Veto der Zauderer sollen tun können, ein Ausweg, den auch das Europäische Parlament eröffnet hat, als es am 14. Februar dieses Jahres den Verfassungsentwurf einer europäischen Union verabschiedet und damit einen mutigen und bedeutsamen Schritt getan hat. Diese europäische Verfassung ist inzwischen den nationalen Parlamenten zur Ratifizierung zugeleitet worden.

Stimmt eine Mehrheit der Parlamente in Vertretung von zwei Dritteln der Gesamtbevölkerung unserer Gemeinschaft zu, so müssen die Regierungen unverzüglich zur Inkraftsetzung der europäischen Verfassung zusammentreten. Staatspräsident Mitterrand hat heute vor einer Woche in einer beachtenswerten Rede vor dem Europäischen Parlament die Unterstützung Frankreichs zugesagt. Das Italienische Parlament und der Deutsche Bundestag haben die Behandlung des Verfassungsentwurfes bereits terminiert.

Damit wurde der entscheidende Schritt aus der jetzigen Stagnation getan. Die gewählten Vertretungen der Völker haben das Wort, die Demokratien Europas können uns nun aus dem Gestrüpp der Bürokratien lösen. Europa wird wieder eine Sache seiner Bürger. Zu Anfang durfte ich aus der Rede des Herrn Bundespräsidenten vom 17. Juni 1961 zitieren: "Der Kampf um die Einheit unseres Kontinentes erfordert den persönlichen Einsatz jedes einzelnen und den Mut, jeden Morgen, wenn ein neuer Tag beginnt, seinen wechselnden Herausforderungen zu begegnen."

Am 17. Juni dieses Jahres 1984 beginnt auch ein neuer Tag, ist Europa aufgerufen, sein Parlament zu wählen, kann und muß der Bürger sprechen. Hier darf es kein "ohne mich" geben, sondern nur die Konsequenz, zwischen Chance und Risiko die Chance, zwischen Zukunft und Krise die Zukunft, zwischen Verantwortung und Resignation die Verantwortung zu wählen.

Wer die Wahl hat, hat nicht die Qual, sondern ein Recht, eine Pflicht und die Freiheit.

Zwei Staatsoberhäupter Europas sind heute morgen hier bei uns. Sie wissen um die Wohlfahrt und Zukunft ihrer Völker in einer vitalen europäischen und handlungsbereiten Union, sie geben uns Beispiel und Hoffnung.

Verehrter Herr Bundespräsident,

als Staatsrechts- und Völkerrechtslehrer haben Sie dem Recht gedient, als Politiker der Freiheit, als Bundespräsident der Einheit, in jeder Phase Ihres Wirkens aber dem Zusammenschluß der Völker Europas zu einer starken Gemeinschaft in Einigkeit und Recht und Freiheit für die gemeinsame, hoffnungsgebende Zukunft des Kontinentes und seinen Dienst für den Frieden der Welt.

Daher hat das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises der Stadt Aachen einmütig beschlossen, Ihnen, Herr Bundespräsident, den Karlspreis für das Jahr 1984 zu verleihen.