Laudatio von François Mitterrand, Präsident der Französischen Republik und Karlspreisträger des Jahres 1988

Laudatio von François Mitterrand, Präsident der Französischen Republik und Karlspreisträger des Jahres 1988

Ich freue mich sehr, daß ich mich vor diesem außergewöhnlichen Publikum und auf diesem Stück deutschen Bodens – der, erlauben Sie mir, das zu sagen, wenn man von Aachen und von Kaiser Karl dem Großen spricht, auch ein bißchen unser Boden ist – an Václav Havel wenden kann, der heute den Karlspreis erhält.

Sie, Václav Havel, sind ein Mann des Mutes, und nicht des geringsten Mutes, sondern des Mutes der Wahrheit durch Wort und Tat. Sie haben einen beispielhaften Kampf geführt, und durch diesen Kampf hat Ihr Land die Freiheit wiedererlangt.

Auch wenn "die Macht der Ohnmächtigen" – der Begriff stammt von Ihnen – Sie in einem der wichtigsten Augenblicke der Geschichte dieses Landes in die höchste Verantwortung für die Tschechoslowakei gehoben hat, so kann doch niemand den Schriftsteller und Philosophen in Ihnen vergessen.

Mit Ihren Schriften und Ihrem Beispiel haben Sie den Lauf der Dinge in Ihrem Land, aber auch in Europa beeinflußt. Und Sie haben uns geholfen, die Welt und die Zeit, in der wir leben, zu verstehen. Von der schmerzlichen Erfahrung der Tschechoslowakei ausgehend, haben Sie die Ambivalenz des Wortes aufgezeigt, das zugleich täuschend und befreiend ist, und die Macht der Wörter, der Wörter, die Taten sind. Bei Ihnen sind szenisches und literarisches Werk sowie philosophische und politische Überlegung miteinander verknüpft. Als Initiator und Zeuge einer für Europa entscheidenden Revolte, gegen Unterdrückung, Angst und Lüge haben Sie die Moral als Führerin erwählt, als Führerin in der Politik, der Wissenschaft und der Wirtschaft.

Ist es nicht eine Tradition Ihres Landes, daß der Schriftsteller – wie Sie gesagt haben – "das Gewissen seiner Nation" sein soll und ihre Erneuerung möglich macht? So konnten Sie – dessen "einzige Schule das Leben ist" – die "sanfte Revolution" von 1989 in Bewegung zu setzen. Eine Bemerkung am Rande über die entscheidende Rolle des Theaters beim Erwachen der Nation: Bühnenarbeiter, Regisseur, Schriftsteller, Verleger, Studenten, das immer breitere Publikum, Ihr Publikum, schließlich das ganze Volk sind mit Ihnen die entschlossenen, friedlichen und würdigen Begründer des hoffentlich nicht umkehrbaren Wandels in Ihrem Land geworden.

Deshalb ist der Karlspreis durch Sie auch eine Würdigung all derer, die diesen Kampf mit ihrer Freiheit und ihrem Leben bezahlt haben. Ich will nur zwei Namen nennen: Jan Palach und Ja Patocka. Von denen, die überlebt haben, sind einige hier unter uns. Alle haben sich die Hoffnung bewahrt und letztlich bewiesen, daß keine Mauer, kein System langfristig dem starken Wunsch, der Macht der Freiheit widersteht. Das kommt aus dem Innersten des Menschen, es ist etwas Undefinierbares, das mancher Seele oder Geist nennen mag und das die Dinge erklärt. Ich zitiere Sie noch einmal: "Jeder, der keine Angst hatte, der nicht im alltägliche Leben log und der nicht fürchtete, seine Kinder in der gleichen Weise zu erziehen, hat dazu beigetragen."

Über Sie und Ihre Begleiter hinaus erfährt heute auch die Tschechische und Slowakische Föderative Republik eine besondere Würdigung. Eine Würdigung ihrer Geschichte, eine Würdigung ihrer von Jan Hus übernommenen Devise – "Die Wahrheit wird siegen" -, eine Würdigung der Rolle Ihres Landes in Europa.

Sie haben beim Schreiben und Kämpfen, in Ihrem Land, für Ihr Land, auch Überlegungen angestellt über den Sinn des menschlichen Elends, über das Absurde, mit dem der Mensch "des wissenschaftlichen und technischen Zeitalters" konfrontiert ist, über den Prozeß der Entpersönlichung und die Anonymität der Macht. Seitdem hat Ihr Aufruf, "die persönliche Erfahrung des Menschen als individuelles Kriterium für die Dinge zu rehabilitieren", Allgemeingültigkeit erlangt. Aus der Tiefe Ihres Gefängnisses haben Sie im Namen der individuellen Verantwortung, der Würde des Menschen, ein auch kritisches Urteil über die westlichen Gesellschaften abgegeben, über die Konsumkultur und noch viele andere Dinge. Das Motiv der Warnung, in der ich den Leitfaden Ihres Werkes sehe, richtet sich ebenso an uns, den Westen, wie an die ganze gegenwärtige Menschheit, die durch vielerlei Krisen bedroht ist: wirtschaftliche, ökologische, soziale, moralische, kulturelle ...

Zivilcourage, Toleranz, gewaltloser, aber notwendiger Widerstand werden dem Menschen vielleicht die Möglichkeit öffnen, sich so wiederzufinden, wie er vor sich selbst und vor der Geschichte sein soll.

An der Nahtstelle des geteilten Europa haben Sie die Diskussion eröffnet über den Platz des Menschen in seiner eigenen Gesellschaft, die die Geschichte des europäischen Bewußtseins genau bestimmt. Diese Art, an der Einheit unseres Kontinents zu arbeiten, ist vielleicht die beste. Und genau darum geht es: Der Karlspreis geht an Václav Havel, an Sie als Europäer und darüber hinaus an alle Bürger Europas.

Sie haben uns daran erinnert, daß dieses Europa nicht ohne die kulturelle Dimension, und vielleicht mehr noch nicht ohne die ethische, verwirklicht werden kann. Ausgehend von den Menschenrechten, deren Achtung jede europäische Einigkeit begründen muß, schlagen Sie ganz allgemein eine Ethik der Verantwortung vor und nicht, ich zitiere, des "stolzen Menschen", der der tragische Ursprung von Paradoxen und Konflikten ist. Es ist vielleicht ganz einfach die Ethik des Humanismus im eigentlichen Sinn.

Haben Sie nicht vor einigen Jahren einen Preis bekommen, der den Namen Erasmus trug und der somit Ihren Namen mit dem des Gelehrten aus Rotterdam in Verbindung brachte? Ist es verwunderlich, daß bei Ausgang eines ideologischen Krieges, der fast das ganze Jahrhundert dauerte und der den alten Religionskriegen in nicht nachsteht, wir an die immer noch lebendigen Ursprünge unserer gemeinsamen Identität zurückkehren müssen?

Sie waren noch nicht Präsident der Republik als Sie geschrieben haben: "Wir können uns gemeinsam bemühen, ein demokratisches Europa aufzubauen, ein Europa der Einheit in der Vielfalt." Ausgehend von Ihrer eigenen Situation haben Sie das "Gefühl, ausgeschlossen zu sein, die Erfahrung, nicht dazu zu gehören" beschrieben, Worte, die auch auf den Teil Europas angewendet werden könnten, "wo lange die Zeit stillstand und die Geschichte unterbrochen" war. Aber Sie wissen auch, daß "man weit über den Horizont hinausschauen muß, um aus der Isolierung herauszukommen". Also haben Sie weit geschaut, und trotz der Trennung haben Sie die geistigen Bindungen zwischen Europäern gefestigt, aufrechterhalten, erneuert. Ich habe folgende Geschichte bereits erzählt: Ich erinnere mich an eine kleine Kirche im Bourbonnais, die ich besichtigt habe und auf der geschrieben stand: "Die Mauern der Trennung reichen nicht bis in den Himmel."

In Prag und dank Prag ist der dünne Faden des gleichen Denkens, der uns auf dem ganzen Kontinent verbindet, nicht gerissen; diese Verleihung des Karlspreises ist ein Beweis dafür.

Und in diesem Bewußtsein, meine Damen und Herren, haben viele von uns im November 1990 in Paris am KSZE-Gipfel – der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa – teilgenommen. Sie waren dort, ich war dort, noch viele andere waren bei diesem Ereignis dabei, auf das ganz Europa schon lange gewartet hatte, aber das die fernere, jedoch unmittelbare Aktualität vorübergehend überlagert hat.

Ich betone erneut, hier in Aachen: Wir haben den Gründungstext, die Charta von Paris für ein neues Europa, noch nicht vollständig ermessen. Ist denn deutlich geworden, wie sie die Schlußakte von Helsinki von 1975, dieses provisorische, aber vielversprechende Abkommen zwischen den Beteiligten eines durch so viele Grenzen geteilten Europa, ergänzt? Damals ging alles von der Sicherheit der Staaten aus, und von den Grundsätzen, die ihre Beziehungen regeln sollten. Ausgangspunkt für die Charta sind heute der Rechtsstaat, die Demokratie, die Menschenrechte. Durch die Vollendung des Werks der Vorläufer, zu denen Sie gehören, hat Europa die gemeinsamen Werte, die es begründen, wiedergefunden.

Ich denke, Europa hatte lange nicht so viele Gründe zur Hoffnung. Aber kaum habe ich dieses Urteil gefällt, habe ich schon vorbehalte: Überall tauchen neue unbekannte oder lange vergessene Gefahren auf! Aufgrund Ihrer persönlichen Erfahrung, lieber Václav Havel, haben Sie die Ängste, die Verwirrung, die Unschlüssigkeit beschrieben, die der Gefangene nach seiner Freilassung beim Verlassen des Gefängnisses verspürt. Genauso schwanken viele Europäer auf der Schwelle in eine Welt, die sie fürchten, in dem Augenblick, wo sie in die Geschichte zurückkehren, aus ihr zurückkommen, sie wiederfinden.

Was werden wir aus unseren neuen und unseren gemeinsamen Verantwortlichkeiten machen?

"Der Friede in Europa", sagen Sie zu Recht, "ist undenkbar ohne den Frieden in seinem geographischen Herzen." Sind nicht heute, da die Tschechoslowakei nach Europa zurückkehrt, Aachen, Karl der Große und das karolingische Reich für uns Europäer eine Art Mythos, die idealisierte Erinnerung an eine wiedergefundene Einheit, Sicherheit und Harmonie nach wirren und gefährlichen Zeiten? Das muß damals sehr schwierig gewesen sein! Es wird noch immer sehr schwierig sein, aber wir haben die Erfahrung von Jahrhunderten und haben aus den Ereignissen gelernt, und wir wissen vielleicht besser, welcher Weg eingeschlagen werden muß, denn wir kennen die Wege, die wir nicht gehen dürfen.

Wie könnte man an dieser Stelle nicht von der deutsch-französischen Freundschaft sprechen, die vor 30 Jahren den Impuls für die Versöhnung zwischen den ehemaligen Feinden gegeben hat und die den Aufbau Europas vorantreibt neben vielen anderen Komponenten, anderen Teilnehmern, von denen jeder seine Kultur, seine Denkweise, seinen praktischen, wirtschaftlichen Beitrag leistet? Und wie könnte man hier – neben den Gründervätern – nicht im gleichen Geiste das Wirken der deutschen Persönlichkeiten aller Parteien würdigen und besonders in den letzten Jahren das von Bundeskanzler Kohl, der sich dafür einsetzt, daß das vereinte Deutschland ein vollkommen europäisches Deutschland ist? Ich möchte dies hier sagen, weil ich es festgestellt und erlebt habe.

Wir müssen wirklich ohne Unterlaß unsere Bemühungen fortsetzen, um eine noch stärker geeinte Gemeinschaft aufzubauen. Der Markt, in dem die Grenzen kein Hindernis mehr für den freien Verkehr von Menschen und Waren sind, wird vor unseren Augen, in wenigen Jahren, Realität. Und schon packen wir weitere Aufgaben an, die noch ehrgeiziger sind als die, die wir seit den Römischen Verträgen gemeinsam gemeistert haben; sie sind inzwischen schon Gegenstand von Verhandlungen. Die erste ist die Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion, die sich auf eine einheitliche Währung gründet – wie viele Hindernisse in diesen wenigen Wörtern! – und die den europäischen Wirtschaften ermöglicht, sich durch eine bessere Koordination gegenseitig zu stärken. Die zweite ist der Aufbau einer politischen Union, die insbesondere eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik beinhaltet und eines Tages – da können wir sicher sein – in eine eigene Verteidigungsfähigkeit münden wird. Die Währung, die Diplomatie, die Sicherheit und die dazu erforderlichen Mittel – das sind die Bestandteile der stärkeren Gemeinschaft, die Europa in Zukunft braucht.

Meine Damen und Herren, es liegt bei uns Europäern, die wir uns unserer Zugehörigkeit zu ein und derselben Zivilisation bewußt sind, dieses Schicksal in die Hand zu nehmen und unserem Kontinent die Ausdrucksformen zu geben, die er braucht. Bei meinem Besuch in Prag im September 1990 habe ich meine Idee dargelegt, über die wir, Václav Havel und ich, seither mehrfach gesprochen haben, die Idee einer neuen Organisation, einer zusätzlichen Organisation, die keine andere ersetzen soll, welche dem Dialog, dem Austausch dienen soll, damit wir wieder lernen, bei Vorhaben aller Art zusammenzuarbeiten. Dieses Projekt, das wir Europäische Konföderation getauft haben, besteht einfach darin, daß wir ermöglichen, daß die Gemeinschaft bis dahin – wenn dieser Tag kommt, was ich mir wünsche – alle europäischen Bedürfnisse und Realitäten abdeckt, eine und dieselbe Würde, ein Ort der Diskussion und Arbeitsstrukturen.

Es gibt also in Europa eine Gemeinschaft, die sich verstärkt, eine Freihandelszone sowie Staaten, die weder der einen noch der anderen angehören. Und dennoch gibt es nur ein Europa, und zwischen den Ländern, die es ausmachen, gibt es eine Reihe von Fragen gemeinsamen Interesses. Die Umwelt kennt keine Grenzen, auch nicht die Schäden, die ihre beigebracht werden. Der Ausbau des Handels setzt voraus, daß die Kommunikationsnetze verknüpft werden. Trägt die Technologie ein nationales Etikett? Sie ist Frucht der Wissenschaft, und die Wissenschaft ist Frucht des Geistes. Wie viele Beispiele müssen uns veranlassen, in gleicher Würde die dauerhafte und strukturierte Verbindung aller Länder Europas zu vollenden, ich meine aller Länder, die zum Rechtsstaat geworden sind.

Václav Havel und ich haben uns gewünscht, daß zu diesem Thema ein kollektives Nachdenken in Gang kommt, ausgehend von der Erfahrung von Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Kultur und Politik. Diese Konferenz wird bald, im Juni, in Prag stattfinden, wo – ich bemerkte es gerade schon – der zarte Faden des europäischen Gewissens auch in den schrecklichen Jahren nie gerissen ist und das wir der einer jener Pole wird, in dem alles zusammenläuft.

Am 21. Juli 1982, vor fast neuen Jahren, organisierte das Festival d'Avignon zu Ihren Ehren ein sechsstündiges Schauspiel mit dem Titel "Eine Nacht mit Václav Havel". "Mit" war in dem Fall eine gedankliche Annahme, denn sie waren weit weg und unerreichbar. Sie waren nämlich damals im Gefängnis. Aber heute ist die Absicht die gleiche, auch wenn die Bedingungen andere sind. Sie wurden demokratisch an die Spitze Ihres Landes gewählt. Der nächtlichen Andacht von damals folgt die Freude des Sich-Wiederfindens am hellen Tage.

Zum Schluß möchte ich noch von einer anderen persönlichen Erinnerung sprechen. Ich war zu einem offiziellen Besuch in Ihrem Land, noch unter dem alten Regime. Ich hatte gewünscht – das war eine Vorbedingung für diese Reise – jene zu treffen, die in der Opposition waren, Sie in erster Linie. So konnten wir eines Morgens ein kurzes gemeinsames Mahl einnehmen, mit Ihnen und einigen Ihrer Gefährten, von denen einige heute in der Regierung sind. So haben wir uns kennengelernt. Beim Abschied sagten Sie mir: "Ich habe Vorsorge getroffen. Ich bin gerade aus dem Gefängnis freigekommen. Aber ich habe immer meine Zahnbürste bei mir, denn man weiß nicht, was noch vor Einbruch der Nacht passieren kann." Und Sie hatten recht, sie kamen wieder, um Sie zu holen. Nach dem Abschied von Ihnen haben wir, meine Freunde und ich, uns von der damaligen Regierung verabschiedet, und auf dem Platz des Palais habe ich auf all die Würdenträger gezeigt, die mich begrüßt hatten und zu meiner Verabschiedung gekommen waren, und ich sagte: "Schauen Sie sie gut an. Sie werden verschwinden, wir werden sie nicht wiedersehen." Und es stimmt, sie sind verschwunden, aber Sie, Václav Havel, Sie sind da.

Ein Hoch auf Sie, ein Hoch auf den Bürger des neuen Europa! Möge die Verleihung des Karlspreises an den Präsidenten der Tschechoslowakei ein weiteres Zeichen unserer Einheit sein! Nun liegt es bei uns, sie zu vollenden; vor uns liegt eine lange und harte Arbeit. Mit Arbeitern wie Ihnen wird das Werk gelingen.