Rede des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen, Dr. Jürgen Linden

Rede des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen, Dr. Jürgen Linden

Verehrte Festgäste!

Europa ist auf dem Weg zur Einheit. Die Prägestempel der Nachkriegszeit sind zerfallen - der lange geforderte und angestrebte Wandel hat ein ergreifendes Gesicht erhalten. Zu den epochemachenden Ereignissen zählt die "sanfte Revolution" der Tschechen und Slowaken.

Schon im Prager Frühling 1968 hatte sich das tschechoslowakische Volk gegen die Abhängigkeit von der Sowjetunion erhoben. Dem wurde durch Panzergewalt ein brutales Ende bereitet. Repression aber kann nirgendwo den Freiheitswillen der Menschen brechen. So mußte auch das kommunistische Regime in der Tschechoslowakei im Dezember 1989 dem Befreiungswillen des Volkes weichen. Unter den Opponenten war es vor allem der heutige Staatspräsident der CSFR, der unerbittlich und mit dem Opfer persönlichen Leidens die negativen Seiten der tschechoslowakischen Gesellschaft enthüllte und gegen die Diktatur kämpfte.

Es ist uns eine große Ehre und Freude, als diesjährigen Träger des Internationalen Karlspreises zu Aachen, den Präsidenten der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik, Herrn Václav Havel, begrüßen zu dürfen.

Pane Prezidente, jà Và s srdecne vitam v Cáchách.

(Herr Präsident, ich heiße Sie in Aachen herzlich willkommen.)

Mit ihm begrüße ich die Karlspreisträger früherer Jahre:

den Karlspreisträger 1951, den vormaligen Rektor des Europa Kollegs, Herrn Prof. Dr. Hendrik Brugmanns

den Karlspreisträger 1963, den vormaligen britischen Premierminister Sir Edward Heath

den Karlspreisträger 1967, den ehemaligen Minister für Angelegenheiten des Königsreiches der Niederlande und früheren Generalsekretär der NATO, Herrn Dr. Joseph Luns

für die Karlspreisträgerin 1969, die Kommission der Europäischen Gemeinschaften, den damaligen Vizepräsidenten Dr. Fritz Hellwig und Kommissar Dr. Hans von der Groeben

den Karlspreisträger 1979, den damaligen Präsidenten des Europäischen Parlaments, Herrn Emilio Colombo

die Karlspreisträgerin 1981, die erste Präsidentin des frei gewählten Europäischen Parlaments, Madame Simone Veil

den Karlspreisträger 1982, seine Majestät König Juan Carlos der Erste von Spanien und an seiner Seite Ihre Majestät Königin Sophia von Spanien

den Karlspreisträger 1984, den vormaligen Präsidenten der Bundesrepublik
Deutschland, Herrn Prof. Dr. Karl Carstens

für den Karlspreisträger 1986, seine Königliche Hoheit Großherzog Jean von
Luxemburg und mit ihm Ihre Königliche Hoheit Großherzogin Josephine Charlotte von Luxemburg

die Karlspreisträger 1988, den Präsidenten der Französischen Republik, Exzellenz François Mitterrand, dem ich an dieser Stelle sehr danken möchte für die große Ehre, die er uns mit der Laudatio auf den diesjährigen Preisträger erweist, und den Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Herrn Dr. Helmut Kohl

Eine ganz besondere Freude bereitet uns mit seinen Anwesenheit der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, Herr Dr. Richard von Weizsäcker

Wir grüßen herzlich in unserer Mitte die Präsidentin des Deutschen Bundestages, Frau Prof. Dr. Rita Süssmuth.

Willkommen heißen wir auch den Generalsekretär der NATO, Herrn Dr. Manfred Wörner, sowie die Botschafter der Länder Luxemburg, Frankreich, Irland, der Niederlande, Dänemark, Italien, Portugal, Zypern, Österreich, Griechenland, der Tschechoslowakei und Spanien.

Wir begrüßen herzlich in der Delegation des heutigen Preisträgers den Ministerpräsidenten der Tschechischen Republik, Herrn Dr. Petr Pithart, sowie den Ministerpräsidenten der Slowakischen Republik, Herrn Dr. Jan Carnogursky.

Aus der Delegation des französischen Staatspräsidenten grüße ich den französischen Außenminister Dumas und die Ministerin für Europäische Angelegenheiten Guigou.

Willkommen heißen wir auch den Präsidenten des italienischen Senats, Herrn Prof. Giovanni Spadolini.

Wir freuen uns über die Anwesenheit der Bundesminister Herr Dr. Blüm und Frau Dr. Adam Schwaetzer.

Herzlich begrüße ich den Ministerpräsidenten unseres Landes Nordrhein-Westfalen, Herrn Dr. Johannes Rau sowie die Landesministerinnen Brunn und Brusis.

Grüßen möchte ich auch den Erzbischof von Prag, die Vertreter der Kirchen und viele weitere, namhafte Persönlichkeiten, die uns durch ihre Anwesenheit ehren. Ihnen allen, die Sie an diesem heutigen Ereignis hier im Krönungssaal oder an Radio und Fernsehen teilnehmen, gilt der aufrichtige Gruß der Stadt Aachen.

Meine Damen und Herren,

die längste Grenze, die engste Nachbarschaft, sogar das intensivste Zusammenleben, das unser Volk je mit einem anderen Volk verband, gab es jahrhundertelang auf etwa 1.200 Kilometern zwischen Bayern, Sachsen, Schlesiern und Tschechen. Die kulturelle Entwicklung unserer Völker war seit jeher eng miteinander verbunden.

Dann erfolgte im März 1939 von Deutschland aus der Einmarsch in die Tschechoslowakei. Schweres Unrecht, Herr Staatspräsident, ist Ihrem Land und seinen Menschen zugefügt worden. Wir können das heute nicht ungeschehen machen, aber wir müssen dafür Sorge tragen, daß nicht vergessen wird. Es gilt, tiefverwurzeltes Mißtrauen abzutragen. Die Aufgabe unserer Generation ist es, Haß und Feindschaft aufzulösen und Ihrem persönlichen Leitmotiv nachzustreben, "in der Wahrheit miteinander zu leben".

Wir gedenken heute - am 9. Mai - mit Ihnen des 46. Jahrestages der Befreiung Ihres Landes vom deutschen Faschismus. Die Hand, die Sie uns durch ihre Anwesenheit an diesem Tage reichen, erfüllt uns mit Bewegung und wir ergreifen sie mit Dankbarkeit.

Ich hoffe, daß sich die Beziehungen unserer Völker in Zukunft freundschaftlich weitergestalten und wir den Geist des Mißtrauens, der Furcht und der Befangenheit hinter uns lassen. Von alters her waren wir verschwistert. Ich wünsche mir, daß wir es in Zukunft wieder sind und auf immer bleiben.

Gestern Staatsfeind Nummer eins, heute Erster Bürger seines Landes: Nirgendwo zeigen sich die dramatischen Veränderungen in Mittel- und Osteuropa deutlicher als am Schicksal des Schriftstellers Václac Havel. Der Dramatiker, der sich als Kulissenschieber und Chemielaborant durchschlagen mußte und den sein Vorgänger auf dem Präsidentenstuhl insgesamt fünf Jahre gefangengesetzt hatte, betrat unter Fanfarenklängen den Saal der Prager Burg, in dem früher die böhmischen Könige gekrönt wurden.

Es gebe Dinge, für die es sich zu leiden lohne, hat der 1977 gestorbene tschechoslowakische Philosoph Jan Patocka gesagt. Havel hat diese Worte oft wiederholt und als Credo seines Weges beherzigt. Sein Leben und Werk sind geprägt von solch schmerzhaften Versuche, "in der Wahrheit zu leben". Er stellte die Moral gegen das Regime: "Die Wahrheit findet ihren Weg durch Konflikte. Leben in der Wahrheit bedeutet nicht, einen Idealzustand zu erreichen. Sie fordert von uns einen ständigen Prozeß des Suchens". Sein unbeugsames Eintreten für die Freiheit des Wortes und die Menschenwürde haben ihn zu einer internationalen Symbolfigur der Verständigung werden lassen.

Havel vertraut auf die bewußtmachende Kraft der Sprache, denn er weiß um die Angst der Mächtigen vor dem Wort. Das wahre, mutige Wort ist eine Waffe des Friedens. Heinrich Böll hat gesagt: "Die Sprache kann der letzte Hort der Freiheit sein".

Havels dramatisches und essayistisches Werk ist ein emphatisches Plädoyer gegen die Anmaßungen der Macht und für die Würde des Menschen. Mit ästhetischer Sensibilität klagt er die autoritäre, formierte und individualistätsfeindliche Gesellschaft an. Manchmal, gesteht Havel, fühle er sich bei diesem ungleichen Kampf wie Don Quijote, der gegen Windmühlen anreitet. Und doch: "Je ungünstiger die Situation ist, in der wir unsere Hoffnung bewähren, desto tiefer ist diese Hoffnung".

Manchmal habe er Lust verspürt, sich öffentlich von der Rolle des Erweckers und Erlösers zu distanzieren. Doch dann habe er sich an die Worte Jan Patockas erinnert: Die wirkliche Prüfung des Menschen sei nicht, wie er die Rolle ausfülle, die er sich selbst zugedacht habe, sondern wie er jene ausfülle, die ihm vom Schicksal zugewiesen werde.

Havels entschlossener Kampf gegen die Träger des ehemaligen Regimes hindert ihn nicht daran, die Mitschuld an der unglücklichen Situation auch bei sich und seinen Mitbürgern zu suchen: "Wir sind moralisch krank geworden, weil wir uns angewöhnt haben, etwas zu sagen und etwas anderes zu denken. Wir haben gelernt, an nichts zu glauben, zueinander gleichgültig zu sein, uns nur um uns selber zu kümmern. ... Lehren wir uns selbst und auch die anderen, daß die Politik ein Ausdruck des Strebens nach dem Glück der Gemeinschaft sein sollte, und nicht des Wunsches, die Gemeinschaft zu betrügen oder zu vergewaltigen. Lehren wir uns selbst sowie die anderen, daß die Politik nicht nur die Kunst des Möglichen darstellen muß, ... sondern sie auch die Kunst des Unmöglichen sein kann, nämlich die Kunst, aus sich und der Welt etwas Besseres zu machen."

Diese Mahnung Havels an sein Volk hat - so meine ich - Gültigkeit weltweit. Vertrauen und Offenheit, Verantwortung, Solidarität und Liebe, das sind Werte, für deren Rehabilitierung wir Ihnen, Herr Präsident, nachdrücklich danken.

Intellektuelle in der Politik sind keine Versicherung gegen Mißerfolg und Fehlschläge. Václac Havels Weg in die Zukunft wird nicht ohne Hindernisse sein. Daß dieser Weg dennoch zum Erfolg führen mag, wünschen wir ihm und dem tschechoslowakischen Volk von Herzen.

Václav Havel erhält den Internationalen Karlspreis zu Aachen 1991,

-weil er als Verfechter moralischer Integrität und Wahrheit neue politische Werte für die freiheitlich orientierten Völker in Europa gesetzt hat;
-weil er sich unbeugsam für den Geist der Freiheit und die Verwirklichung des Friedens engagiert;
-weil er für das Europa in seiner geographischen Einheit eine gemeinsame Friedens- und Wirtschaftsordnung anstrebt.

Die Losung "Zurück nach Europa" stand auf allen Wahlplakaten des Bürgerforums. Havels Hoffnung ist eine Erneuerung des europäischen Bewußtseins, sein Ideal ein demokratisches Europas als freundschaftliche Gemeinschaft freier und unabhängiger Nationen. Die europäische Perspektive der neuen tschechoslowakischen Politik ist offenkundig. Die Tschechoslowakei ist kürzlich als 25. Land in den Europarat aufgenommen worden. Dies ist ein entscheidender Schritt auf dem Weg, der die Tschechoslowakei nicht nur geographisch, sondern auch politisch und gesellschaftlich zu dem Europa zurückführt, mit dessen Werten die Völker in der Vergangenheit stets untrennbar verbunden waren.

Derzeit führt Havel Verhandlungen über einen Assoziationsvertrag mit der Europäischen Gemeinschaft. Hoffen wir alle, daß bis zum Jahr 2000 die Vollmitgliedschaft der Tschechoslowakei verwirklicht und die Integration kulturell, wirtschaftlich und sozial vollzogen ist.

Nehmen auch wir, meine Damen und Herren, wie unser Preisträger, die zwölf Sterne auf der Europaflagge stets als Mahnung dafür, daß die Welt ein besserer Platz wird, wenn wir manchmal - nur manchmal -"den Mut haben, zu den Sternen zu schauen."

Haben wir den Mut unsere Träume zu gestalten und "unser Europa" zu formieren. Europa wird nicht durch Enthusiasmus und Zauberformeln entstehen, sondern - wie der frühere Karlspreisträger Paul Henri Spaak gesagt hat - "das Ergebnis langer und mühevoller Anstrengungen sein."

Eine organisierte Achse der Verständigung bindet bereits die Tschechoslowakei an die Europäische Gemeinschaft.

Der Brückenschlag, den Karl der IV. im 14. Jahrhundert vom Westen zum Osten unseres Kontinents begründet hatte, vollzieht sich neu.

Wenn heute, in diesem feierlichen Festakt, der französische und der tschechoslowakische Staatspräsident ihr Bild von Europa entwerfen, so darf dies als Brückenschlag der Neuzeit, als mutiges und hoffnungsfrohes Signal für die Zukunft verstanden werden.

Das Ziel europäischer Politik sind die Vereinigten Staaten von Europa: ein moderner Staat, föderalistisch, dezentralistisch, demokratisch legitimiert und handlungsfähig. Allerdings: vor diesem Ziel türmen sich noch gewaltige Hindernisse. Die größte Gefahr ist ein neuer Nationalismus, der seine Wurzeln vor allem in den unterschiedlichen Lebensverhältnissen und Lebenschancen der Menschen hat.

Auch fehlt noch zu oft ein einheitliches Auftreten, die gemeinsame Stimme, die erkennbare konstruktive Kooperation der Europäer gegenüber den Herausforderungen der Weltpolitik

Zu diesen kommenden großen Herausforderungen zählen der islamische Fundamentalismus auf dem arabischen und teils asiatischen Schauplatz, die riesigen Flüchtlingstrecks, die an einigen Brennpunkten der Dritten Welt in Bewegung gesetzt werden - ich denke aktuell und beispielhaft an das Existenzrecht des kurdischen Volkes -, der Kampf gegen die Hungersnöte und die immer unübersehbarer werdende Bedrohung in Gestalt der Weitergabe von Nuklearwaffen und Giftgas an kleinere und mittlere Staaten in bedrängter Lage oder auch mit aggressivem Verhalten.

Gesamteuropäische Zusammenarbeit muß helfen, den Nord-Süd-Gegensatz zu überwinden, das gemeinsame Überleben aller Völker zu sicher, die individuellen und kollektiven Menschenrechte zu verwirklichen und die wirtschaftliche Zusammenarbeit bis zur gegenseitigen Abhängigkeit auszubauen. Europa muß seinen Beitrag zur friedlichen und sozialen Weltgesellschaft leisten. Václav Havel verleiht dazu Hoffnung.

Verehrte Gäste, meine Damen und Herren,

das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachenhat einstimmig beschlossen, Ihnen, Herr Staatspräsident Havel, den Karlspreis für das Jahr 1991 zu verleihen.