Rede von Hendrik Brugmans

Rede von Hendrik Brugmans

"Carles li Reis, nostre emperere magnes"....

Mit diesen Worten fängt das Altfranzösische Rolandslied an, dessen Handlung sich konzentriert auf die Figur des hier in Aachen begrabenen Kaisers. Ein Mythos ist er seitdem immer geblieben, ein Beispiel des frommen Mutes und der weisen Kühnheit. Er war es, für die gesamteuropäische Generation des ersten Kreuzzuges und er ist es noch heute, Carolus Magnus, Carolus Europeus, Vorkämpfer der römischen Rechtsidee und der christlichen Menschenwürde.
Einem zeitgenössischen Europäer, der sich dafür eingesetzt hat, dem Verfall unseres geplagten Kontinents ein Ende zu bereiten und neue Horizonte zu eröffnen, ihm könnte keine schönere Belohnung verliehen werden, keine größere Ehre zufallen als die des Aachener Karlspreises. Erlauben Sie mir, Ihnen dafür meinen tiefsten Dank auszusprechen!
Noch zweierlei möchte ich hinzufügen. Wenn jetzt die Aachener ihre ältesten historischen Erinnerungen verbinden mit der allermodernsten Problematik der Europäischen Einigungsbewegung, und das gerade nach einer Periode der tiefsten Zerrüttung und des nationalistischen Frevels - dann liegt darin für uns, Nichtdeutsche, eine Hoffnung, deren Tragweite man kaum überschätzen kann. Hinter uns liegt eine Periode, in der Begriffe wie Sieg und Niederlage noch einen Sinn gehabt zu haben schienen. Jetzt, indem sie den Karlspreis gegründet hat, proklamiert diese schwer geprüfte, lebenskräftige Stadt, daß die Vergangenheit abgeschlossen ist und die geschichtlichen Werte unserer Kultur nur zu neuer Blüte gebracht werden können, wenn die alten Sünden begraben sind und eine neue, gemeinsame Renaissance angebahnt werden kann. Von diesem europäischen Wollen, Glauben und Streben ist Aachen ein Symbol geworden.
Und dann noch eine Bemerkung, die mir am Herzen liegt. Nicht nur ein Feldherr und Staatsmann war Carolus Magnus. Er hatte auch verstanden, daß Regierung und Verwaltung kraftlos bleiben, wenn nicht ein möglichst großer Teil der Jugend bewußt bereit und im Stande ist, morgen die Verantwortung für die gemeinsame Sache zu übernehmen. Aus diesem Grunde schenkte er seinen Ländern ein Schulsystem, das diesen Gedanken verwirklichte. Darf ich annehmen, daß die Jury des Karlspreises auch an diesen Aspekt gedacht hat, und mit ihrer Wahl nicht meine Person, sondern vielmehr das Europa-Kolleg in Brügge hat ehren wollen? Ich jedenfalls erlaube mir, es so aufzufassen, und die große Unterscheidung dankbarst an die junge Fahne unseres Kollegs zu heften, als Beweis der Anerkennung für heute und des Vertrauens für die Zukunft. Wenn Gott uns die Zeit gibt, wird der Geist von Brügge - frei, ehrfurchtsvoll und vermessen - dem Abendlande einen neuen Elan verleihen, und eine neue Technik für seine Wiedergeburt.
Und nun wollen Sie bitte meine Stellungnahme zur heutigen europäischen Lage hören. Ernst genug sieht sie freilich aus. Ich sage Ihnen das unumwunden, weil ich es hier mit reifen Menschen zu tun habe, und nur wertlose Charaktere die Wahrheit nicht ertragen können. Sowohl die Älteren - die das Leben wohl abgehärtet hat, aber ohne ihnen ihre Ideale zu rauben - als besonders die Jugend, haben ein Recht auf offene Worte. Wodurch wird die heutige Lage beherrscht? Sie werden erst einige Feststellungen von mir hören und dann die sich daraus ergebenden Schlußfolgerungen.

ERSTENS. Die Weltlage hat sich in den letzten sechs Monaten gebessert. Der Krieg in Korea hat bewiesen, daß Aggression sich nicht mehr bezahlt macht. In China sehen wir deutliche Unabhängigkeitsbestrebungen, selbst wenn sie nicht zu einem asiatischen Titoismus führen. In den osteuropäischen Satellitenstaaten folgt eine Säuberung auf die andere, was immerhin kein Beweis von innerer Kraft ist, und die Tatsache, daß ein Konflikt im Iran auf sich warten läßt (obwohl es an Gründen und Vorwänden hierzu nicht fehlt) dürfte ein Beweis dafür sein, daß weder die eine noch die andere Partei augenblicklich den kalten Krieg heizen möchte.
Das bedeutet noch keine Lösung der internationalen Spannung: denn die einzige Lösung wäre in einer Welt-Föderalisierung zu finden. Es bedeutet aber, daß immerhin der augenblickliche Zustand einer Atempause gleichkommt, die nicht nur zur Erreichung eines militärischen Gleichgewichts benutzt werden sollte, sondern auch zu einer positiven Europapolitik. Und eine solche kann nur in und von Europa gemacht werden.

ZWEITENS. Während dieser Atempause hat die föderalistische Bewegung in Europa ihre Aufgabe. Was kann sie tun? Eine Analyse zeigt sowohl ihre Stärke wie ihre Schwäche. Ihre Stärke besteht darin, daß sie auf eine allgemeine Sympathie für den europäischen Gedanken bauen kann; ihre Schwäche ist, daß diese Sympathie kaum über die Niederung eines allgemeinen "Nichts-dagegen-Habens" hinauskommt. In dieser Lage kann der organisierte Föderalismus kein eigenes juridisches, gewissermaßen revolutionäres Schema mit eigenen Mitteln durchsetzen, wohl aber bei einer schwankenden Position den Ausschlag gehen.

DRITTENS. Die erste Verwirklichung bestand im Feldzug für die Verwirklichung für den Europarat. Dieser wird in einer späteren Zukunft sehr fruchtbare Arbeit leisten können, ist aber vorläufig nichts als eine Tribüne, auf der europäische Parlamentarier ihre Gesichtspunkte zum Ausdruck bringen können, ohne daß jedoch ein Mehrheitsbeschluß in die Wirklichkeit umgesetzt zu werden vermag. Hierüber besteht kein Zweifel mehr seit den letzten Erklärungen von Morrison, und damit ist zunächst über Straßburg entschieden. Um Kindern die Uhr zu lehren, gibt man ihnen ein vernünftiges Spielzeug, dessen Zeiger zwar beweglich sind, hinter denen aber kein Triebwerk steckt. So ist es auch hier: Straßburg ist ein idealer Übungsplatz, aber kein wirkliches politisches Instrument; denn auf eine tatsächliche Exekutivgewalt kommt es im politischen Leben an. Es wäre verkehrt, den Europarat zu vernachlässigen. Aber ebenso verkehrt ist es, wenn wir heute schon eine schöpferische Politik von ihm erwarten. Wir sind hier vorläufig in einer Sackgasse, oder besser gesagt: stecken noch in der Theorie.

VIERTENS. Inzwischen schreitet die Desintegrierung unseres politischen und sozialen Lebens fort. Die Position eigentlich aller Regierungen in Europa ist schwächer und labiler geworden. Nicht der Kommunismus hat dadurch gewonnen, sondern eine Art Nihilismus der Hoffnungslosigkeit, der nicht durch Propaganda angepackt werden kann, sondern durch eine neue, kühne und praktische realisierbare Perspektive. Eine nationale Regierung, die sich für Europa - d. h. für den europäischen Bundesstaat - entschieden hat, muß ihre Politik auf der ganzen Linie europäisieren, sei es in Finanz- und Währungsfragen, in kolonialen oder Überseeangelegenheiten, für alle Probleme der Wirtschaftsplanung und der Sozialversicherung, wie auch in Fragen der Landesverteidigung oder er Abwehr von fünften Kolonnen. Hier sind alle Halbheiten von vorne herein verurteilt. Ein zielbewußter Gegner - und es gibt deren mehr und mehr - wird sich dadurch kaum einschüchtern lassen. Der potentielle Freund (wobei ich an England und Skandinavien denke, sogar an die Benelux) hat eigentlich ganz recht, daß er auf etwas Konkreteres, etwas Ernstzunehmendes, wartet. Und schon der einfache Bürger wittert Inkongruenz und Mangel an Schwung.

FÜNFTENS. Im Laufe dieses Jahres ist nur eine wirklich europäische Initiative von maßgeblicher Seite aufgekommen: der Schuman-Plan für Eisen, Stahl und Kohle. "Functional approach" also, wobei aber versucht wurde, tatsächlich zu funktionieren und zu approchieren! Jetzt liegt der Vertrag vor, und es läßt sich nicht verkennen, daß in der heutigen Lage nur die Linie des föderalen Funktionalismus eine politische Realität zu werden scheint. Aus diesem Grunde werde ich genauer auf den Schuman-Plan eingehen. Hier stehen wir im Brennpunkt der europäischen Problematik, anno 1951.
Natürlich läßt der vorliegende Text Kritik zu. Gewiß wird in der Praxis noch allerhand zu verbessern und zu verändern sein - wahrscheinlich auch zu vereinfachen, fünf Tatsachen aber stehen fest:

ERSTENS. Die langen Verhandlungen sind in eine Atmosphäre geführt worden, nicht etwa wie in der üblichen des internationalen Gebens und Nehmens, sondern wie ein neuer übernationaler Beginn.

ZWEITENS. Das vorliegende Dokument ist die erste Konkretisierung einer übernationalen (nicht länger internationalen) Struktur.

DRITTENS. Die französische Regierung sieht den Plan als den Auftakt zu einer allgemeinen Föderalisierung an, die nur durchgesetzt werden kann, wenn man diesen ersten Schritt nicht zu einem Fehltritt macht.

VIERTENS. Die Gegner aus allen Ländern, allen Klassen und allen Parteien (von der äußersten Rechten bis zur äußersten Linken) behaupten ausnahmslos, daß der Plan sich gegen ihre (nationalen oder sozialen) Interessen richte; aber es ist ausgeschlossen, daß die Franzosen mitsamt den Deutschen, die Arbeitgeber mitsamt den Arbeitern, einen Reingewinn auf Kosten der andern machen.

FÜNFTENS. Die Gegner des Schuman-Planes bekämpfen angeblich den Plan nur in seiner heutigen Form, setzen aber in dieser Schicksalsstunde keinen konkreten Gegenvorschlag auf die historische Tagesordnung.

Nun ist diese - bisweilen leidenschaftlich geführte - Kritik durchaus erklärlich. Wer sich mit der Entwicklungsgeschichte föderaler Einigungen befaßt hat, weiß, daß derartige Krisen immer vorkommen. Sobald es über allgemeine Rhetorik oder theoretische Zukunftskonstruktionen hinausgeht, sind direkte Opfer unvermeidlich, sonst kann man gar nicht zu etwas Neuem durchbrechen. Und jeweils denken dann alle Beteiligten, daß nur sie Opfer zu bringen hätten! Als sich die Schweiz vor mehr als 100 Jahren zu einem Bundesstaat zusammenschloß, waren die meisten Zürcher felsenfest davon überzeugt, daß nunmehr das Ende ihres Wohlstandes gekommen sei. Und alle übrigen kostete der Gedanke, künftig von den Zürchern beherrscht zu werden, ihre Nachtruhe. Auch in Australien ergaben sich damals zwischen Neu-Süd-Wales und Viktoria derartige Diskussionen; und sie ähneln aufs Haar den heutigen über den Schuman-Plan. Das alles beweist nur, daß es Ernst wird mit der Sache. Das alles ist durchaus normal.
Normal ist aber auch, daß die Föderalisten sich von all dem Lärm, nicht allzusehr aus der Ruhe bringen lassen. Gewiß: der heutige Text ist keine Bibel; aber immerhin die einzige wirkliche Chance, das nationalistische Souveränitätsprinzip zu durchbrechen. Und hier liegt der wahre Grund, die Wurzel all dieser verzweifelten Reaktionen. Man wird sich darüber klar, daß es jetzt wirklich um eine teilweise Föderation geht, wobei also p. d. jede teilnehmende Nation zur Minderheit wird, dem Mehrheitsprinzip untergeordnet und zwar auf unwiderrufliche Weise. Inde irae. Aber wer hier und jetzt "Nein" sagt, verneint Europa! Selbst wenn er das nicht so meint - denn es ist unwichtig, was Politiker meinen, und wichtig nur was sie tun. Drei weitere Erwägungen drängen sich hier noch auf.

ERSTENS. Die Struktur des "Pools" ist ein Novum, nicht nur was die internationale Sphäre angeht, sondern auch hinsichtlich der soziologischen Formgebung. Mit der klassischen Formel des internationalen Kartells wird hier gebrochen, und die Zielsetzung ist die einer Produktions- und Wohlfahrtssteigerung. Wer nun erfaßt hat, daß die moderne Gesellschaft nicht mehr privat- kapitalistisch sein kann, aber auch nicht staatsmonopolistisch werden darf, sieht in der Lösung, so wie sie im Vertrag vorliegt, gewiß noch kein Perfectum, aber immerhin ein Muster für die progressive, freiheitliche Sozialisierung einer wirtschaftlichen Funktion. In dieser Hinsicht läßt sie sich z. B. mit der einer Tennessee Valley Authority vergleichen; nur hier radikaler, weil für die Dauer bestimmt. Hätten die fanatischen Vorkämpfer für ?"private enterprise" sonst sofort ihren Feldzug gegen den Schuman-Plan begonnen?

ZWEITENS. Wir Europäer, die wir uns für die Freiheit entschieden haben, können nicht neutral bleiben in dem Weltringen zwischen Menschenrecht und Absolutismus. Wir glauben auch die Zukunft vor uns zu haben. Eben deshalb aber wollen wir den Westen so organisieren, daß er unangreifbar wird, um dadurch den Krieg zu vermeiden. Aus denselben Gründen wollen wir, daß die Vereinigten Staaten bei uns in Europa, einen kräftigen Bundesgenossen finden statt einer elenden Satellitengruppe. Die Amerikaner --obwohl sie den Imperialismus instinktiv ablehnen - werden ihrerseits einige Ordnung in das europäische Chaos bringen müssen, wenn wir nicht schleunigst beweisen, daß wir ein seriöser Partner sind. Und ein derartiger Partner muß, wenn über Schwerindustrie geredet wird, nicht mit sechs Stimmen sprechen, sondern mit einer einzigen. Eine geeinte europäische Wirtschaft ist industriell mächtiger als die amerikanischen Stahlkorporationen. Hier tut föderativer Zusammenschluß not - und ..... ein bißchen Selbstgefühl.

DRITTENS. Wenn heute von Europa die Rede ist, sprechen wir nur von Westeuropa. Doch wollen wir nicht einen einzigen Augenblick unsere Irrendenta, das unbefreite Europa, vergessen! Aber was heißt das: "nicht vergessen"? Das heißt in erster Linie: kühn handeln, damit der europäische Westen, mitsamt Westdeutschland, ernst genommen wird in der Welt. Es ist reine Vogel-Strauß-Politik, hier passiv abzuwarten, in der frommen Hoffnung, daß diejenigen, die den Eisernen Vorhang niedergelassen haben, ihn ohne politische Notwendigkeit wieder aufziehen. Indem wir nichts täten, würden wir dem Osten den allerschlechtesten Dienst beweisen. Und dann weiter: den östlichen Staaten wäre mit einer Art von Völkerbund wenig gedient; das wäre nicht die Gemeinschaft, in die es sich einzutreten lohnte, sobald wieder ein Minimum von Freiheit und Menschenrecht auch für sie zurückerobert wäre. Eine technisch wirksame, auf die Zukunft gerichtete, prinzipiell übernationale Organisation aber, wie sie der Schuman-Plan zu werden verspricht, hat den unermeßlichen Vorteil, immer noch territorial ausgedehnt werden zu können. In dieser Struktur steht nicht nur für Großbritannien, sondern auch beispielsweise für Oberschlesien sofort ein Platz offen. Kein Wunder, wenn die Engländer sich mehr für den Pool als für Straßburg interessieren! Kein Wunder, daß Stalin hierin die große Gefahr sieht!

Meine Damen und Herren! So sehe ich die Lage. Ich habe versucht, sie ohne Illusionen, aber auch ohne Angst, ohne Schwarzmalerei aufzuzeigen, und ohne dem "Escapism", wie der Engländer das nennt. Raum zu geben.

Eines ist ganz sicher: die Rolle, die Deutschland dabei zu spielen hat, wird eine entscheidende sein. Manchem Nationalisten mag dies einen Grund zu nationalistischen Forderungen liefern, um, wie man so sagt, seine Haut so teuer wie möglich zu Markt zu tragen. Aber man möge sich eine Tatsache vor Augen halten. Schon längst geht es nicht mehr darum, wieviel Deutschland von Frankreich, Frankreich von Deutschland, und beide aus Amerika herausschlagen können. Es geht darum, ob das europäische Schiff, auf dem wir alle uns befinden - ob nun in einer größeren oder kleineren, in einer schönen oder einer häßlichen Kajüte - nun wirklich zu Grunde gehen muß, um damit den Haifischen eine Freude zu bereiten. Deshalb nenne ich die Gesundung von der nationalistischen Pest nicht nur eine Frage des Gefühls, sondern auch der Vernunft und des nüchternen Realismus.
Wer seine Augen offenhält, sieht die Alternative doch vor sich: entweder Föderation oder totale Knechtschaft. Darüber hinaus aber will ich an das Gewissen appellieren. Für jeden Humanisten wird das Leben einfach sinnlos, sobald der Mensch vom Staate gelebt wird, anstatt selbstverantwortlich leben zu können. Und ich denke schließlich an alle diejenigen, zu denen die Botschaft des Gottesreiches gekommen ist. Auch in Rußland lebt und wirkt dies Gottesreich, so es zum Inbegriff des Widerstands schlechthin wurde. Wir die wir noch öffentlich zu unserem Glaubensbekenntnis stehen dürfen, haben nicht mehr das Recht, noch weiterhin dem Mammon des Nationalismus zu dienen. Ich möchte schließen mit einem Wort, das auch für "Carles li Reis" entscheidende Wahrheit enthielt: die einzige Souveränität, für die es sich wirklich lohnt sich einzusetzen, gehört dem Herrn von Himmel und Erde.

Foto Hendrik Brugmans

Hendrik Brugmans