Rede von Dr. Erich Mende, Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen und Vizekanzler

Rede von Dr. Erich Mende, Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen und Vizekanzler

Herr Ministerpräsident!
Exzellenzen!
Herr Oberbürgermeister!
Sehr verehrte Gäste!

Ich freue mich, bei der heutigen Feier die herzlichen Glückwünsche der deutschen Regierung überbringen zu dürfen.

Der Karlspreis der Stadt Aachen, am Himmelfahrtstag 1950 zum ersten Mal verliehen, ist inzwischen im öffentlichen Bewußtsein zu einer weltbekannten und wichtigen Institution geworden. Unser Kontinent, und nicht nur unser Kontinent, horcht auf, wenn der neue Preisträger genannt wird. Die Namensreihe der Empfänger dieser Auszeichnung ist ein Spiegelbild der Bemühungen um einen europäischen Zusammenschluß und fast schon so etwas wie eine europäische Ahnenreihe.

Der heutige Preisträger fügt sich würdig in diese Reihe ein, wenn er auch seinem Alter nach zum Ahnvater und Patriarchen nicht recht geeignet scheint. Das ist gut so. Das Lebenswerk von Jens Otto Krag ist, bei allem Gewicht, noch lange nicht abgeschlossen, so wie auch das große Werk der europäischen Einigung noch nicht abgeschlossen ist. Das gibt der heutigen Auszeichnung nicht nur Bedeutung für die Vergangenheit, sondern auch für die Zukunft. Europa braucht mehr denn je Männer, die sich entschlossen und unorthodox dafür einsetzen, daß die Völker Europas ihre große Aufgabe, die europäische Einigung, nicht aus den Augen verlieren.

Das Direktorium für die Verleihung des Karlspreises ist zu beglückwünschen, daß seine Wahl auf einen Mann gefallen ist, dessen Ausdauer und Vermittlungsgabe wir in der Zukunft noch oft brauchen werden.

Es ist zur Zeit nicht immer leicht, Europäer zu sein. Die politisch-geistige Situation ist heute anders als bei der ersten Verleihung des Karlspreises im Jahre 1950. Damals kündigte Robert Schuman gerade die Pläne für eine Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl an, die nur ein knappes Jahr später zu Unterzeichnung des Montanunionvertrages führten. Das Europa der Sechs machte sich als Vorläufer eines größeren, umfassenderen europäischen Zusammenschlusses voller Elan an die Aufgabe seiner Selbstverwirklichung. Die Namen der Karlspreisträger dieser Jahre legen davon Zeugnis ab. Nach den großen europäischen Anregern, Graf Coudenhove-Kalergi und Prof. Hendrik Brugmans, waren es besonders die Erbauer der Europäischen Gemeinschaften, die hier in Aachen geehrt wurden: de Gasperi (1952), Monnet (1953), Adenauer (1954), Spaak (1957), Schuman (1958).

Heute sind die Europäischen Gemeinschaften von der politischen Szene nicht mehr wegzudenken, und wir stehen vor der Aufgabe, die erzielten Erfolge auszubauen und fortzuentwickeln. Wir haben manches erreicht, aber noch lange nicht genug. Erfolg verleitet leicht zu Zufriedenheit mit dem Erreichten. Doch solche Selbstbescheidung können wir uns nicht leisten. Wir brauchen die Vertiefung und Ausweitung der europäischen Zusammenarbeit; räumlich so gut wie sachlich. Das Europa der Sechs war nie als Endzweck und Endziel, sondern immer nur als ein Beginn gedacht. Es kann seine europäischen Nachbarn nicht beiseite lassen; es braucht sie so sehr wie ganz Europa die Sechs braucht.
Die Verleihung des Karlspreises an Ministerpräsident Jens Otto Krag ist ein schönes und wegweisendes Zeugnis für diese Erkenntnis. Wie die gleiche Auszeichnung von Edward Heath im Jahre 1963 ist sie eine Entscheidung für eine politische, für eine wahrhaft europäische Offenheit. Es ist, vor allem im Zusammenhang mit Dänemark und England, in den letzten Jahren viel von ?Brückenschlägen? die Rede gewesen. Wir brauchen die Überbrückung, die Überwindung von Hindernissen und Gegensätzen überall; auch unter den Bürgern unserer Staaten, auch zwischen den Völkern und Staaten des freien Europa, auch im Verhältnis zu den osteuropäischen Ländern. Der heutige Preisträger ist besonders geeignet, an dem Abbau der Hindernisse mitzuarbeiten, die Europäer noch heute von Europäern trennen. Seine Weltoffenheit ist wohl auch ein Geschenk seiner Herkunft: die seefahrt- und handeltreibenden Völker haben immer die besten Vermittler hervorgebracht. Wie sehr es dem Mann, den wir heute ehren, um die aufrichtige Verständigung zwischen den Völkern geht, hat er mit seiner Politik der freundschaftlichen deutsch-dänischen Nachbarschaft beweisen. Die deutsche Regierung möchte ihm auch an dieser Stelle dafür besonders danken.
Noch aus einem anderen Grund dankt die deutsche Regierung dem Karlspreisträger 1966: nämlich für das Verständnis und die Unterstützung, die er dem Willen des deutschen Volkes zur Wiedervereinigung entgegenbringt. Es gehört durchaus zur Sache, wenn ich hier davon spreche. Europa ist auch in Deutschland, auch in Berlin geteilt. Die Beendigung der Teilung Deutschlands ist eine europäische Aufgabe. Als Deutsche ebenso wie als Europäer fühlen wir uns gestärkt und ermutigt, in unserem Verlangen nach Freiheit, Recht und Selbstbestimmung auch für jenen Teil Deutschlands, dem diese Grundrechte bisher versagt bleiben, wenn wir unsere Nachbarn und Freunde an unserer Seite wissen.

Die Feier zur Verleihung des Karlspreises der Stadt Aachen ist für alle Europäer zu einer Stunde der Ermutigung und des Ansporns geworden. Ich wünsche uns allen, daß jeder mit neuer Kraft von dieser Feierstunde in seinen Wirkungskreis zurückkehrt. Wir werden unsere Kraft brauchen. Karlspreisträger Winston Churchill hat einmal von der jetzigen Generation gesagt, sie lasse sich nicht mehr durch Ideen bewegen, sondern nur noch durch Ereignisse. Er selbst hat sich an dieses skeptische Urteil nicht gehalten, als er in seiner in die Zukunft weisenden Zürcher Rede vom September 1946 ?eine Art Vereinigter Staaten von Europa? forderte. Auch die freien Völker Europas haben bewiesen, daß sie noch von Ideen bewegt werden. Sicher sind wir noch weit von der Verwirklichung der Churchillschen Vision entfernt. Das darf uns nicht entmutigen. Es kommt nur auf uns an, auf unsere Entschlossenheit, den eingeschlagenen Weg in eine bessere Zukunft immer engeren Zusammenwirkens fortzubeschreiten. Wir danken Ihnen, Herr Ministerpräsident, für das Beispiel, das Ihre Geduld, Ihre Initiative und Ihr Optimismus uns für die Bewältigung der großen Aufgabe geben. Wir wünschen uns allen Fortschritte auf dem Wege zu einem größeren Europa der freien Bewegung für die Menschen, ihre Güter und ihre Gedanken!