Rede des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen, Dr. Jürgen Linden

Rede des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen, Dr. Jürgen Linden

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

Europa braucht eine neue, eine positive Botschaft.
Auf dem Balkan wuchert der Krieg. Wie in Trance betrachtet die Europäische Gemeinschaft das Grauen und verfolgt - fast ohne Erfolg - ihre Politik der Nadelstiche.

Um uns herum wachsen Arbeitslosigkeit, Armut und soziale Nöte. Die Belastung von Umwelt und Natur erhöht sich, die Bevölkerungsexplosion droht, Migrantenströme treten auf und Nationalismen werden aggressiv und zur unberechenbaren gesellschaftlichen Größe.

In Europa besteht kein Grund zum Jubilieren.

Die Bürger vermissen politische Strategien, oft auch politische Kompetenz.

Die Gemeinschaft der Zwölf erscheint wie der kleinste gemeinsame Nenner. Der Währungsfonds droht wie eine Seifenblase zu zerplatzen; erstmals streitet die EU mit einem Mitglied gerichtlich; kontroverse Auffassungen zwischen Kommission, Ministerrat und Europäischem Parlament werden offen ausgetragen; immer mehr nationale Protektionismen machen sich breit; Kompromisse um Produkt- und Stimmenquoten werden nicht selten durch Geld erkauft.

Die Osterweiterung erscheint zu teuer, für das Zusammenspiel noch zu schwierig und hinsichtlich der Folgen der Freizügigkeit nicht verkraftbar. Der Umgang mit den Russen steht diskret auf dem Abstellgleis der Entscheidung.

Allein die jetzt beschlossene Norderweiterung ist eine neue, hoffentlich auch positive Botschaft. Sie ist das Signal für die einzig realistische Strategie der Union: die weitere vertiefende Entwicklung und ihre schrittweise Erweiterung um neue Mitglieder.

Symbol dieser neuen Botschaft ist die Ministerpräsidentin des Königreichs Norwegen. Ich begrüße sehr herzlich und mit großer Freude in unserer Mitte die Karlspreisträgerin 1994, Frau Gro Harlem Brundtland.

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Mit ihr begrüße ich die Karlspreisträger früherer Jahre:
-den Karlspreisträger 1951, den vormaligen Rektor des Europa-Kollegs,
Herrn Prof. Dr. Hendrik Brugmans
-den Karlspreisträger 1963, den vormaligen britischen Premierminister Sir Edward Heath
-für den Karlspreisträger 1969, die Kommission der Europäischen Gemeinschaften,
den damaligen Vizepräsidenten Dr. Fritz Hellwig und
Kommissar Dr. Hans von der Groeben
-den Karlspreisträger 1977, den vormaligen Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland,
Herrn Walter Scheel
-den Karlspreisträger 1979, den damaligen Präsidenten des Europäischen Parlaments,
Herrn Dr. Emilio Colombo.

Eine ganz besondere Freude bereitet uns mit seiner Anwesenheit der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, Herr Dr. Richard von Weizsäcker.

Herzlich grüße ich in unserer Mitte den Ministerpräsidenten des Königreichs der Niederlande, Herrn Dr. Ruud Lubbers, dem ich an dieser Stelle schon danken möchte für die große Ehre, die er uns mit der Laudatio auf die diesjährige Preisträgerin erweist.

Wir grüßen mit besonderer Hochachtung die Präsidentin des Deutschen Bundestages, Frau Prof. Dr. Rita Süssmuth und den Präsidenten des Deutschen Bundesrates, Herrn Klaus Wedemeier.

Ich begrüße sehr gerne den Doyen des Diplomatischen Korps, Seine Exzellenz Herrn Erzbischof Dr. Lajos Kada sowie die Botschafter der Länder Belgien, Finnland, Frankreich, Griechenland, Indien, Island, Italien, Luxemburg, Malta, Niederlande, Norwegen, Polen, Schweden, Slowakei, Spanien, Ungarn und Zypern sowie den Gesandten Österreichs.

Wir freuen uns über die Anwesenheit der Bundesministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, Frau Dr. Irmgard Schwaetzer sowie des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft, Herrn Prof. Dr. Karl Hans Laermann.

Willkommen heißen wir die Familienangehörigen und die Delegation unserer heutigen Preisträgerin, darunter Handelsministerin Frau Grete Knudsen sowie den ehemaligen Außenminister und jetzigen UNO-Beauftragten Thorvald Stoltenberg.

Herzlich begrüße ich den stellvertretenden Ministerpräsidenten und Innenminister unseres Landes Nordrhein-Westfalen, Herrn Herbert Schnoor sowie als weitere Vertreter der Landesregierung die Ministerinnen Anke Brunn, Ilse Brusis, Ilse Ridder-Melchers und Minister Franz Müntefering.

Grüßen möchte ich auch den Ministerpräsidenten des Landes Rheinland-Pfalz und Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Herrn Rudolf Scharping.

Wir freuen uns über die Anwesenheit des Präsidenten der Europäischen Investitionsbank, Herrn Dr. Ernst Günther Bröder, des Präsidenten des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaft, Herrn Olé Due sowie des Präsidenten des Europäischen Rechnungshofs, Herrn André Middelhoek.

Darüber hinaus grüße ich viele weitere, namhafte Persönlichkeiten und die Vertreter der Kirchen, die uns durch ihre Anwesenheit ehren. Ihnen allen, die Sie an diesem heutigen Ereignis hier im Krönungssaal oder an Radio und Fernsehen teilnehmen, gilt der aufrichtige Gruß der Stadt Aachen.


Meine sehr verehrten Damen und Herren!

Jedes politische System braucht das Zugehörigkeitsbewußtsein seiner Bürger. Will Europa erfolgreich sein, so muß Integration vor allem durch das Verhalten der Menschen bewirkt werden. Sie müssen den Sinn und Zweck, auch die Vorteile der Europäischen Union erkennen und bejahen.

Das wichtigste europäische Ziel heißt Frieden. Frieden, die Grundlage für unsere Existenz, kann man nicht nur passiv erleben. Frieden bewahren ist eine tägliche Aufgabe - im Kriegsfall durch Verteidigung der menschlichen Freiheiten und auch durch Ächtung und Boykott, totalen Boykott der Aggressoren.

Arbeit wird zur zentralen politischen Herausforderung der Gemeinschaft. Die Realisierung des Europäischen Binnenmarktes hat die Voraussetzungen geschaffen, die Leistungsfähigkeit Europas im weltweiten Wettbewerb zu erhöhen. Diese Leistungsfähigkeit muß uns ermöglichen, neue Arbeitsplätze zu schaffen - Arbeitsplätze, die in europäischer Tradition sicher und human sind.

Dabei sollte Europa seine eigene Note suchen, Forschung und Entwicklung fördern und im Wettbewerb auf Qualität und technologischen Fortschritt setzen. 23 Millionen Arbeitslose kann die Gemeinschaft nicht aushalten.

In der Europäischen Union wollen wir die Verwirklichung der sozialen Demokratie, Solidarität statt Ellbogen, innere Stabilität und sozialen Frieden.

In der Union geht es auch um ein grenzübergreifendes Bewußtsein für die Bedrohungen unserer Lebensgrundlagen. Nur ein gemeinsamer ökologischer Marshallplan eröffnet die Chance, eine gesunde Umwelt auch unseren Kindern zu erhalten.

Die Stärke der Europäischen Gemeinschaft ist die Vielfalt ihrer kulturellen Kraft. Nicht die Anpassung der unterschiedlichen Kulturen ist anzustreben, sondern wir wollen gerade ihre Unterschiede erleben, bewahren und weiterentwickeln, sozusagen als sprudelndes Kaleidoskop in einem interessanten und spannenden Zukunftslabor.

Für die Union stellt sich auch die Frage einer gemeinsamen Außenpolitik: gegenüber dem vorantreibenden russischen Isolationismus, gegenüber dem Nahostkonflikt und dem wachsenden islamischen Fundamentalismus, gegenüber den Kleinstaaten mit Atomwaffen, gegenüber den bestehenden Hunger- und Verelendungsentwicklungen auf dem afrikanischen, teils auch asiatischen Kontinent, natürlich auch gegenüber den Partnern Nordamerika und Japan sowie aufstrebenden Wirtschaftsregionen in der übrigen Welt.

Wir brauchen eine erklärte Einigkeit unter den Europäern, brauchen europäische Solidarität, eine gemeinsame Idee von Europa.

Den Maastrichter Vertrag gilt es zu erfüllen - langsamer, wenn es sein muß, aber zuverlässig, Die mit den mittel- und osteuropäischen Staaten des ehemaligen Sowjetblocks vereinbarte "Partnerschaft für den Frieden" ist ein Schritt auf dem Weg zu einer neuen Sicherheitsordnung für Europa. Nicht weniger, sondern mehr Europa ist gefordert.

Bejahen wir den Europäern in Prag, Budapest oder Warschau das moralische und politische Recht, der Gemeinschaft der europäischen Demokratien beizutreten in einem absehbaren Zeitraum, der beiden Seiten die Möglichkeit, die Voraussetzungen hierfür zu schaffen. Neben Assoziierungsverträgen und einer weitgehenden Öffnung des Binnenmarktes sollten die Partner Übergangsformen entwickeln, die Gemeinschaft bewirken.

Eine tiefgreifende Strukturveränderung der Europäischen Union ist unumgänglich. Wir brauchen ein flexibleres, dezentrales Europa.

Norwegen, meine Damen und Herren, lange noch nicht entschieden für ein positives Referendum, stellt uns all diese Forderungen.

Die junge Nation, die bis Anfang dieses Jahrhunderts unter schwedischer und dänischer Vorherrschaft stand, möchte sich nicht einem Europa unterordnen, wenn dies durch Bürgerferne und Bürokratie gekennzeichnet sein sollte.

Dieses autonome und reiche Land möchte auch nicht die herkömmlichen, längst überfälligen Subversionsstrukturen auf dem Kontinent nur als ein neuer, willkommener Zahler aufrecht erhalten. Man möchte eigene Bewegungsfreiheit, aber auch eine neue europäische Bewegung, in der alle demselben Ziel - der Integration - verpflichtet sind, mögen die Partner auch unterschiedliche Geschwindigkeiten auf dem Weg dorthin anschlagen.

Es gibt kein Europa à la carte, wo jeder das herauspickt, was ihm paßt. Das Ziel lautet vielmehr, die Gemeinschaft zum größtmöglichen gemeinsamen Nenner Schritt für Schritt auszubauen. Verbreiten wir Optimismus, dieses Ziel zur erreichen.
Wir alle wissen: eine Alternative zu den "Vereinigten Staaten von Europa" gibt es nicht.

Dies hat - meine Damen und Herren - auch unsere heutige Preisträgerin erkannt. Immer wieder hat Frau Ministerpräsidentin Brundtland betont, die Norweger müßten sich der europäischen Herausforderung stellen. Sie nennt die Mitgliedschaft eine "historische Chance" und spricht von einer "wichtigen Wegscheide" für ihr Land. Dabei ist sie nicht auf Glaubenssätze fixiert, sondern auf Augenmaß und Realitätssinn. Sie will keine Abwesenheit, sondern Teilhabe an der progressiven Errichtung der Europäischen Union, an den ehrgeizigen Zielen der politischen, ökonomischen, sozialen und monetären Integration, an der Schaffung einer neuen europäischen Vision, in der sich der alte Kontinent als bedeutsamer Teil unserer Erde versteht, der globale Probleme in globaler Zusammenarbeit meistern will. Das Bewußtsein der diesjährigen Karlspreisträgerin - meine Damen und Herren - ist ein wahrhaft europäisches.

Das Königreich Norwegen ist - wie die anderen skandinavischen Länder auch - ein modernes Land, das politisch, wirtschaftlich und kulturell zur europäischen Völkerfamilie gehört. Ich bin sicher, die Eigenart des Nordens wird die europäische Vielfalt bereichern.

Deshalb hoffen wir, daß die Menschen die von den Regierungen ausgehandelten Beitrittsvereinbarungen im Herbst dieses Jahres positiv aufnehmen und daß sie Ja zur Mitgliedschaft in der Union sagen werden. Gro Harlem Brundtland steht für die Anbindung des europäischen Nordens an die Gemeinschaft.

Sie hat sich als Vorsitzende der nach ihr benannten UNO-Kommission für Umwelt- und Entwicklungsfragen international einen Namen gemacht. Der 1987 veröffentlichte Bericht "Unsere gemeinsame Zukunft" plädiert für einen verantwortlichen Umgang mit der Umwelt sowie für einen finanziellen Ressourcentransfer von den Industrieländern in die Entwicklungsländer.

Sie war es, die zu Beginn des Jahres 1993 einen Aktionsplan des Europarates zur Bekämpfung nationalistischer Tendenzen und der Fremdenfeindlichkeit in den europäischen Ländern forderte. Um gegen Rassismus, extremen Nationalismus und Intoleranz gegenüber Einwanderern vorzugehen, müßten alle Länder Europas gemeinsam an der Verbesserung der wirtschaftlichen Lage in ihren Ländern arbeiten.

In ihrem Engagement für mehr Beteiligung von Frauen in der Politik hat sie weltweit für sich und ihr Land geworben. In dieser Frage setzt sie ein Beispiel das für das "alte" Europa sehr lehrreich ist und aus dem wir alle noch lernen können.

Gro Harlem Brundtland ist eine Politikerin, die für ihre Einsichten engagiert streitet, die ihre Meinung nicht nach beliebigen Mehrheiten der sogenannten Volkesstimme ausrichtet, selbst dann nicht, wenn Wahlerfolge auf dem Spiel stehen. Gro Harlem Brundtland ist im Gegenteil eine aufrechte Politikerin, die dynamisch und temperamentvoll für den Beitritt Norwegens in ein friedlich vereintes Europa eintritt.

Das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des lnternationalen Karlspreises zu Aachen ehrt mit der Ministerpräsidentin des Königreichs Norwegen eine Persönlichkeit, die sich als Streiterin für soziale Gerechtigkeit nicht nur in ihrem eigenen Land, sondern in Europa und der ganzen Welt einen Namen gemacht hat.

Sie betont die Verantwortung der Industrieländer des Westens gegenüber dem armen Süden, dem ärmeren Osten und sie fordert den Ausgleich zwischen Habenden und Nichthabenden. Für sie gilt es, Verständigung, Gerechtigkeit und wirtschaftliche Sicherheit weltweit durchzusetzen. .

Der Weg ihres Landes nach Europa bedeutet ihr Frieden für die Menschen. Sie weiß: dieser Weg ist nur über eine demokratisch legitimierte europäische Vereinigung zu erreichen.

Frau Ministerpräsidentin, ich gratuliere Ihnen zur Verleihung des diesjährigen Karlspreises.