Laudatio von Rita Waschbüsch

Laudatio von Rita Waschbüsch, Präsidentin des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken

"Wäre das Vertrauen des Herzens aller Dinge Anfang... ginge es jedem kleinen oder großen Unterfangen voraus... du kämest weit, sehr weit, du würdest Personen und Ereignisse von einem inneren Bereich voll Frieden her wahrnehmen und nicht mit einer dich in Vereinzelung treibenden Unruhe, wie sie nicht von Gott kommt."

Diese Worte voller Tiefe, Glauben, Poesie, sind Tagebuchaufzeichnungen von Frère Roger, entnommen seinem 1984 erschienenen Buch "Vertrauen wie Feuer".

Sind das Worte, die gemäß dem Willen der Stifter des Karlspreises den "Gedanken der abendländischen Einigung in politischer, wirtschaftlicher und geistiger Beziehung fördern"? Dienen sie dem Ziel der "Gründung eines europäischen Bundesstaates", wie es in dem Beschluß von Direktorium und Gesellschaft heißt?

Sind nicht vielmehr Konferenzen, Vertragsabschlüsse, Parlamentsdebatten oder auch universitäre Kolloquien das Antriebsmittel, das den europäischen Zug mit seinen vielen Wagen endlich auf dem gemeinsamen Gleis anfahren läßt?

Neunundzwanzig bisherige Karlspreisträger – Personen und Institutionen – haben diesbezüglich Vorzügliches vorzuweisen! Ist dieser Mönch, der im "Vertrauen des Herzens aller Dinge Anfang" sieht, auch einer von denen, die Europa einen?

Die Hochachtung und Freude, mit der die Nachricht vom 30. Karlspreisträger in der Öffentlichkeit aufgenommen worden ist, aber auch die große Schar der jungen Menschen, die heute in Aachen ist, zeigen, daß Bruder Roger mit seinem Lebenswerk unübersehbare Zeichen gesetzt hat. Zeichen hin zu einem Europa, das weit mehr ist als ein politischer Zusammenschluß von Staaten, die sich neu als Schicksalsgemeinschaft begreifen. Als die Mönche von Cluny und anderswo Europa seine gemeinsame abendländisch-christliche Prägung gaben, war da nicht auch jenes Vertrauen des Herzens aller Dinge Anfang?

Ihr Streben nach Menschlichkeit und Maß, die Suche nach sich selbst durch ein Leben mit und für die anderen aus den Quellen des Evangeliums, das schuf den geistigen Unterbau Europas. Darin wurzelt es, und nur aus diesen Wurzeln konnte nach dem Zweiten Weltkrieg das Pflänzchen Europa neu erwachsen. Daß es den Dürren nationaler Egoismen und enttäuschter Ungeduld nicht zum Opfer fiel, sondern wuchs, daran hat Frère Roger mit seiner Communauté von Taizé hervorragenden Anteil.

Heute ist Europa in ein Stadium eingetreten, das für die ersten Karlspreisträger noch ein Traum, eine ferne Hoffnung war, die Hoffnung auf Versöhnung und friedliches Miteinander nach Jahrhunderten tragischer Verstrickungen und blutiger Auseinandersetzungen.

Europa hat sich wiedergefunden. Es ist eine neue politische, wirtschaftliche und soziale Wirklichkeit am wachsen. Daß Frère Roger, dem Gründer und Prior von Taizé, gerade jetzt der Internationale Karlspreis verliehen wird, unterstreicht, daß Europa mehr ist als ein Interessensbündnis. Die Verleihung verweist auf Europas Herkunft. Frère Roger zeigt uns mit seiner Kommunität einen Weg zu den geistig-geistlichen Quellen und aus diesen Quellen handelt er auch. Er setzt Zeichen. Einheit ist ein solches. Es geht ihm um die Einheit der Christen in Christus, um die Überwindung der Trennung, die das Licht des Evangeliums für die Welt verdunkelt. Er weiß, daß diese Einheit ein Geschenk ist, das Menschen nicht machen können, das aber dennoch ihren ganzen Einsatz erfordert.

Die Versöhnung unter den Christen ist ein Ziel der Kommunität von Taizé. "Kein Ziel in sich, sondern es geht darum, daß Christen Ferment der Versöhnung unter den Menschen, Ferment des Vertrauens unter den Völkern, Ferment des Friedens auf der Erde sind", sagt Frère Roger.

Nach den großen verheerenden Spaltungen der Christenheit ist unser Jahrhundert wie keines bisher ein Jahrhundert des Weges zur Einheit der Kirchen und der Christen geworden. Frère Roger zieht die Zögernden, die Ängstlichen mit auf diesem Weg der Hoffnung, auf einen Weg für Christen, dessen Bedeutung sich dennoch nicht auf die Christen beschränkt. Er ist für die Menschheit als Ganzes wichtig.

Für Christen sind die Worte im Johannesevangelium: "Laßt uns alle eins sein, damit die Welt glaube" nicht nur ein auf sich selbst gerichteter Auftrag. Ebenso, wie sie untereinander über alle Spannungen hinweg zur Einheit streben sollen, damit Leben und Werk ihres Stifters glaubwürdig und fruchtbar werden können, sind sie gefordert, Verantwortung für alle wahrzunehmen. Sauerteig sollen sie sein, der den ganzen Teig durchdringt und so zum Gelingen beiträgt. Ihr Licht sollen sie auf den Berg stellen, damit es allen leuchte, allen helfe, den Weg zu finden. Das ist der Auftrag, sich mit all denen gemeinsam aufzumachen, die Gerechtigkeit und Frieden zu verwirklichen suchen. Nicht nur Weggemeinschaften des Glaubens und Handelns der Christen untereinander, sondern auch ihr hoffendes und vertrauendes Miteinander mit allen Menschen sind Signaturen des Christlichen. Sind nicht aber auch Anliegen und Lebenswerk von Frère Roger damit umschrieben?
Und so wenig Jesus den Seinen Strategien, Pläne, äußere Ziele mit auf den Weg gab, so wenig gibt es auch bei Frère Roger Gebrauchsanweisungen, Satzungen oder Gründungsurkunden. Er hat sich dem Ruf seines Herrn gestellt, begonnen, wo es ihm nötig erschien, weiterentwickelt, was den Menschen und ihrer Einheit dient. Sein waches Interesse an den von außen kommenden und innerlichen Bedrängnissen und Bedürfnissen der Menschen ließ ihn hineingleiten in den Strudel jener Dynamik, die zur Einheit der Christen, zur Solidarität mit der Menschheit und zum gemeinsamen Einsatz für die Einheit aller führt.

Es ist nicht unbekannt, daß Frère Roger bereits früher angefragt wurde, ob er den Karlspreis annehmen würde. Er glaubte nein sagen zu müssen, weil es ihm schien, daß eine einzelne Person, seine, zu sehr herausgestellt würde.

Erst nach reiflicher Überlegung konnte er sich mit dem Gedanken anfreunden, daß ein Preis auch ein treffender Ausdruck der Dankbarkeit für ein Lebenswerk sein kann. Die aufbrechende Geschäftigkeit in Europa – angesichts des vor der Tür stehenden Binnenmarktes – ist verständlich und notwendig.

Gerade deshalb ist es aber auch gut und wichtig, daß Frère Roger von Taizé jetzt den Internationalen Karlspreis der Stadt Aachen verliehen erhält und annimmt. Es ist jetzt die Stunde, erneut ins Bewußtsein zu rücken, daß Europa von dem lebt, was tiefer reicht als das Funktionale, mehr ist als Sozialfonds, Stahlquoten und Zollabbau. Europa darf nicht im Pragmatischen steckenbleiben, darin verkommen. Frère Roger macht die andere, die christliche Dimension der Einheit Europas auch für jene bewußt, welche nicht unmittelbar aus dem Denken der Christen von der Einheit der Menschen in Jesus Christus her leben. Die Art, wie er es tut, ist überzeugend, ohne daß man dieses Tun in die gängigen Begriffe wie kämpfen für Europa, ringen um Einigung, energischen Einsatz und ähnliche fassen könnte. Er liebt und lebt diese Einheit einfach vor.

Dabei ist wichtig, daß Frère Roger auch keine Zweifel daran läßt, daß Europa nicht an den Grenzen der EG endet. So wie zu allen Zeiten die christlichen Orden international waren und damit Grenzen überwanden, überwindet er die harten Trennlinien des Ostens im Nachkriegseuropa. Seine Reisen, die Treffen mit Jugendlichen im Ostblock, aber auch die orthodoxen Mönche in Taizé sind unübersehbar. Wenn von Taizé aus Liedgut der Ostkirche im westlichen Europa heimisch wurde, so ist uns damit ein Stück der großen christlich-abendländischen Einheit wiedergeschenkt.

Man mag dem Werk von Frère Roger die Frage entgegenhalten, wo denn das spezifisch Europäische sei. Kamen schon früher Jugendliche auch aus anderen Kontinenten zu seinem Treffen, so rief er doch z. B. 1982 ausdrücklich zu einem "Pilgerweg des Vertrauens auf der Erde" auf. Und seine Skizzen für diesen Pilgerweg, die jährlichen Briefe an Jugendliche, schreibt er von den politischen und sozialen Brennpunkten der Welt aus: Kalkutta, Warschau, Haiti, Madras, Äthiopien, Rußland.

Recht verstanden beleuchtet Frère Roger gerade damit eine unersetzliche Dimension Europas. Es muß seinen Blick auf die Eine Welt richten, wenn es sich selbst treu bleiben will. Das kann und darf kein selbstgefälliger oder gar triumphierender Blick sein, der nur sieht, ohne auch zu erkennen, welche kostbaren Güter andere Kulturen in der Gemeinschaft der Menschheit einbringen. Es kann und darf ebenfalls kein Blick sein, der geflissentlich übersieht, wieviel Ungutes und Problematisches auch von diesem Europa ausging. Es darf nicht der Blick von Habgier, Machertum und Überheblichkeit sein. Der europäische Blick auf die Welt muß geprägt sein, von Menschlichkeit und Liebe, von Achtung und Verantwortungsbewußtsein. Europa muß am Ende seiner Geschichte eine christliche Antwort auf die Frage "Wo ist dein Bruder Abel"? gegeben haben.

Die Leidenschaft, mit der Frère Roger vertraut, die Solidarität, die ihn und seine Mitbrüder in die Elendsquartiere der Dritten Welt führt und die Liebe, mit der er Kinder aller Hautfarben und Rassen bei der Hand nimmt, sie geben der Welt Zeugnis davon, was Europa sein kann.

Wenn Europa für die Einheit der Welt lebt, dann findet es aber auch am ehesten seine wahre Einheit! Die Zusammenschau von Einheit der Menschheit und Einheit Europas in seinem Denken und Tun: das sollten wir von Frère Roger lernen; gerade und erst recht in dieser Zeit, die uns die Konturen eines politischen Teil-Europas andeutet.

Sagte ich zu Beginn, daß Frère Roger Zeichen setzt und Einheit ein solches ist, so muß als zweites dieses Zeichen Gemeinschaft noch besonders betont werden, wie wohl sie im Gesagten schon gegenwärtig war. Frère Roger nennt auf die Frage, wer seine frühen Lebensentscheidungen beeinflußt habe, besonders die französische Großmutter. Er erzählt, wie sie im ersten Weltkrieg in Nordfrankreich flüchtenden Alten, Kranken, Heimatlosen Hilfe und Herberge zu geben suchte und sie die Versöhnung der getrennten Christen als Grundlage für ein friedliches Europa herbeisehnte.

Eine Gemeinschaft, die Menschen beherbergen und sie miteinander versöhnen könnte, das schwebte ihm wohl vor, als er im burgundischen Taizé 1940 das Haus fand, das Ausgangspunkt seines Werkes wurde. Ohne seine Communauté, die heute neunzig Männer aus zwanzig Nationen umfaßt, wäre er gar nicht er selbst. Man muß ihn zusammen mit seinen Brüdern sehen.

Er will nicht Einzelgänger sein, sondern lebt sehr bewußt Gemeinschaft, Mönchgemeinschaft. Ehelosigkeit, Gütergemeinschaft und Gehorsam gegenüber dem Dienstamt des Priors, das weist – bei evangelischem Ursprung der ersten Brüder – darauf hin, daß die Wurzeln der neuen Gemeinschaft über die Reformation hinaus reichen. Taizé steht in der Tradition der christlichen Klöster, die am kulturellen Aufbau Europas so hervorragend beteiligt waren.

Es gibt keinen besseren Ort als die Stadt Karls des Großen, Aachen, um an diese Tradition zu erinnern. Wie kaum ein anderer hat dieser durch die Gründung und Erneuerung von Klöstern Europa geistig und politisch geeint.

Gebet und Arbeit, Kontemplation und Aufbuch zu immer Neuem waren und sind auch heute die Elemente, aus denen den Menschen Kraft zum Miteinander und zur Weltgestaltung zufloß und fließt. Wo Gottes- und Menschendienst zum Lebensgesetz einer Gemeinschaft werden, wo lebendige Zellen entstehen, die radikal Christusnachfolge zu leben suchen, da sind Keimzellen eines neuen, lebendigen Europa. Daß es dabei nicht um Weltflucht, sondern um ein Durchdringen der Welt geht, dafür ist Taizé ein beeindruckendes Beispiel.

Ein Beispiel und eine Orientierung aber auch für die, die nicht in solch klösterlicher Gemeinschaft leben: Wenn wir in neuer Konkretheit und Wachheit, mitten in der Turbulenz unseres Alltages, Gemeinschaft bewußt zu leben versuchen, dann verändern wir die Welt zum Guten. Dann spannen wir mit den Brüdern von Taizé und den Frauen und Männern in den Klöstern der ganzen Welt ein Geflecht über diese Erde, an dem alle Halt finden. Dann werden wir mit ihnen jenes "Gleichnis der Gemeinschaft" und "Ferment der Versöhnung", von denen Frère Roger so häufig spricht.

Neben Einheit und Gemeinschaft hat der Begründer von Taizé ein drittes unübersehbares Zeichen gesetzt; er lebt für die und mit der Jugend. Die Scharen der jungen Menschen, die nach Taizé ziehen, um dort zu beten, nachzudenken oder einfach nur mit anderen zu leben, zeigt das nachhaltige Echo auf seine Gedanken. "Man kommt nach Taizé wie an den Rand einer Quelle", hat Johannes XXIII. gesagt, und unzählige Jugendliche scheinen das Gleiche zu empfinden.

Frère Roger und seine Brüder setzen Hoffnung gegen Ängste und Verzweiflung, gemeinsames Tun gegen Resignation und Müdigkeit, Liebe gegen Haß und Aggression. Und die Jugendlichen folgen ihnen auf diesem "Pilgerweg des Vertrauens". Statt der Flucht in die Weltferne der Esoterik und die Selbsterlösungsversuche eines New Age zeigt man ihnen in Taizé einen Weg, der zum persönlichen liebenden Gott führt. Ökumene wird in Taizé gelegt, nicht gefordert. Damit ist überhebliche Kritik an den Kirchen schnell darauf verwiesen, daß man bei sich selbst beginnen muß. In der Gemeinschaft von Taizé erfahren die jungen Christen, daß es sich lohnt, auch die Gemeinschaft der eigenen Kirche neu zu suchen und mit Leben zu erfüllen. Taizé ist aber auch ein Appell an die verfaßten Kirchen, offen zu sein für die zurückkehrenden Jugendlichen, immer wieder neu mit ihnen den Dialog zu suchen. Zählbar ist es nicht, wieviele durch die Begegnung mit Frère Roger und Taizé Mut gefaßt haben, Mut sich einzusetzen, Friedensstifter im Alltag zu werden, gegen Unrecht aufzustehen. Messen kann man auch nicht, wieviel sie für sich selbst von Taizé, an inneren Reserven für ein ganzes Leben mitnahmen. Aber es ist unverkennbar, daß die Lichtzeichen, die dort gesetzt werden, leuchten, sie zeigen, daß Kontemplation und Ringen um Gerechtigkeit und Frieden, Innerlichkeit und Tat, nahe Gemeinschaft weniger in Mitsorge für die vielen Fernen, zusammenführen und zusammenhalten. Junge Menschen, die einen solchen Weg wagen, die sich einer solchen Herausforderung stellen, sie haben Anteil an diesem Internationalen Karlspreis 1989 für Roger Schütz. Es ist ein Preis für alle Erbauer eines einigen Europa, auf das wir unbeirrbar hoffen und von dem wir wissen, daß es für die Zukunft der jungen Europäer, aber auch aller junger Menschen der Welt von entscheidender und unschätzbarer Bedeutung ist. Frère Roger stärkt uns auf dem Weg zu diesem Europa aus dessen besten Quellen. "Vertrauen des Herzens... Vertrauen wie Feuer..." das sind seine Worte für uns.

Ich beglückwünsche ihn sehr herzlich zur Verleihung des Internationalen Karlspreises 1989. Ich beglückwünsche aber auch die Stadt Aachen zu ihrem vorzüglichen Preisträger.