Rede von Oberbürgermeister Marcel Philipp

Rede von Oberbürgermeister Marcel Philipp

Verehrte Festgäste,

die ehemalige Kaiserpfalz Karls des Großen gehört ebenso zur deutschen wie auch zur französischen Geschichte. Der Frankenkaiser hat eine Schlüsselrolle in der paneuropäischen Identität. Symbolträchtige Orte und unsere gemeinsame europäische Kulturgeschichte werden oft bemüht, um zukünftigen Zusammenhalt in Europa zu beschwören. Reichen wird das für die Lösungen von heute aber nicht, denn die Herausforderungen unserer Zeit, die uns zu neuen gemeinsamen Antworten zwingen, werden immer größer.

Wie gestalten wir den nächsten großen Schritt der Einigung Europas? Wie kann Europa eine Handlungsfähigkeit entwickeln, die die inzwischen notwendige größere Unabhängigkeit von den USA sichert, gerade angesichts der jüngsten Entscheidung des amerikanischen Präsidenten zum Iran-Abkommen? Und wie können Deutschland und Frankreich die richtigen Impulse setzen und zu gemeinsamen Konzepten aller Partner in der EU beitragen?

Im Aachener Rathaus, das auf den Grundmauern der Königshalle Karls des Großen gebaut wurde, begrüße ich mit großer Freude den derzeit größten Impulsgeber des heutigen Europas, den Karlspreisträger 2018, den Präsidenten der Republik Frankreich, Seine Exzellenz Emmanuel Macron.

Wir freuen uns sehr über die Anwesenheit der Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland und bedanken uns für die Bereitschaft zur mit Spannung erwarteten Rede an diesem Tag, herzlich willkommen der Karlspreisträgerin des Jahres 2008, Frau Dr. Angela Merkel.
Ein herzliches Willkommen gilt Seiner Majestät König Felipe VI. von Spanien und Seiner Königlichen Hoheit Großherzog Henri von Luxemburg.

Wir begrüßen die litauische Präsidentin und Karlspreisträgerin des Jahres 2013, Dalia Grybauskaitė, und aus dem Großherzogtum Luxemburg Herrn Ministerpräsidenten Xavier Bettel.

Wir freuen uns über die Anwesenheit des bulgarischen Ministerpräsidenten, Bojko Borissow, und des Staatspräsidenten der Ukraine, Petro Poroschenko.

Aus den Reihen der Karlspreisträger beehren uns mit Ihrer Anwesenheit der letztjährige Preisträger Professor Timothy Garton Ash und der Karlspreisträger des Jahres 2015 und vormalige Präsident des Europäischen Parlamentes, Herr Martin Schulz.

Wir begrüßen herzlich den Karlspreisträger des Jahres 2011, Jean-Claude Trichet und den Preisträger des Jahres 2007, Javier Solana Madariaga.
Ein besonderer Gruß gilt dem Präsidenten der Europäischen Zentralbank, Herrn Prof. Mario Draghi, Seiner Exzellenz, dem Vizepräsidenten der Europäischen Kommission, Herrn Frans Timmermans und dem Präsidenten des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften, Herrn Koen Lenaerts.

Ein herzliches Willkommen gilt unserem Ministerpräsidenten Armin Laschet, den anwesenden Ministerinnen und Ministern des Bundes und des Landes, dem Landtagspräsidenten und den Repräsentanten unserer Nachbarländer Niederlande und Belgien.

Wie in jedem Jahr haben wir zahlreiche Gäste aus dem diplomatischen Korps aus ganz Europa. Sie sind uns ebenso herzlich willkommen wie die heute anwesenden Vertreter der Kirchen und Religionsgemeinschaften. Und Sie alle, meine Damen und Herren, begrüße ich herzlich zur Verleihung des Internationalen Karlspreises 2018 in Aachen.

Die Herausforderungen, aber auch die Chancen der kulturellen und sprachlichen Vielfalt in Europa kannte bereits Karl der Große. Aber die Frage, wie ein so komplexes europäisches Gefüge bestmöglich zusammen bestehen kann, wird nach so vielen Jahrhunderten nicht weniger relevant, sondern im Gegenteil angesichts der Katastrophen des vergangenen Jahrhunderts einerseits und der heutigen globalen Herausforderungen andererseits immer wichtiger.

Wir zeichnen mit dem Karlspreis also diejenigen aus, die dieser Gestaltungsaufgabe gerecht werden, auf die unterschiedlichste Art. Herr Präsident Macron, Sie haben mit der eindrucksvollen Geschwindigkeit und zugleich inhaltlichen Tiefe und der mitreißenden Präsenz Ihrer Gestaltung europäischer Politik einen Weg gewiesen, der uns, das Karlspreisdirektorium, und viele Europäerinnen und Europäer sehr beeindruckt. Dafür möchten wir Ihnen unseren Dank und unseren Respekt aussprechen.

Ein Extrakt dieser Politik findet sich in Ihrer Rede, die Sie an der Universität Sorbonne gehalten haben. Der heutige Tag bietet nicht nur die Gelegenheit, einen historischen Ort, sondern auch ein Pendant als Hochschulstandort zu nutzen, um diesen Weg fortzusetzen – hier bei der Festveranstaltung, aber auch gleich im Anschluss im größten Hörsaal der RWTH Aachen im Gespräch mit jungen Studierenden. Sie können zu Recht erwarten, dass Ihre Position hier eine Resonanz findet. Wir erwarten von dem Austausch, den wir hier in Aachen als einen Meilenstein eines langen Weges aufsetzen möchten, natürlich nicht die fertigen Antworten, aber doch ein Bekenntnis aller Beteiligten zum fairen Diskurs und möglichst konkrete Beiträge in dem Dialog, den Sie angestoßen haben.

Stellen wir uns doch nur einmal einen Moment lang vor, dass nicht nur Präsident Macron eine breite Palette konstruktiver Vorschläge zur Weiterentwicklung der Einigung Europas macht, wie er es vielfach getan hat, sondern auch alle anderen Staats- und Regierungschefs Europas gleichziehen: mit eigenen Vorschlägen zur Entwicklung europäischer Universitäten, zu nachhaltiger Wirtschaft, zur europäischen Dimension der digitalen Transformation, zur gemeinsamen Afrikapolitik, zur europäischen Souveränität und Sicherheit und gerne auch zur fiskalischen und organisatorischen Weiterentwicklung. Ich hätte dabei gar nicht den Anspruch, dass diese Vorschläge völlig frei von Aspekten nationaler Interessenvertretung sind. Nur Schweigen ist nicht akzeptabel, denn es ist unser gemeinsames Europa.

So sehr ich die Hoffnung habe, dass dies zumindest teilweise noch gelingen kann, weil es gelingen muss, so sehr bin ich doch enttäuscht von vielen bisherigen Reaktionen, die einen konstruktiven Ansatz vermissen lassen. Ein Feuerwerk der Reflexe aller denkbaren Lobbygruppen schlägt jedem gut gemeinten Reformvorschlag entgegen. Eine Rede wie die in der Sorbonne wird nicht in ihrer Gesamtheit, sondern nur in Bruchstücken wie z.B. dem Eurozonenbudget diskutiert und medial zerstückelt und dadurch geradezu vernichtet. Was für eine Arroganz ist das angesichts der Tatsache, dass die Zerstörer der Vorschläge selber gar nicht erst versuchen, eine eigene Perspektive zur Zukunft Europas anzubieten.

Das größte Interesse an der Zukunft Europas hat die Jugend. Die Generation der Erasmus-Studenten kennt den Wert der Freiheit, und der Jugendkarlspreis, der vor zwei Tagen erneut hier vergeben wurde, zeigt beeindruckende Projekte des ganzen Kontinents. Das Bewusstsein für die Errungenschaften des bisherigen Weges europäischer Einigung ist groß, und die Dankbarkeit für Frieden, Freiheit und Demokratie äußert sich in aktiver Mitwirkung. Die Jugend Europas ist sich in einem Punkt ganz sicher: sie will nicht die Generation sein, die zulässt, dass Europa aufs Spiel gesetzt wird. Sie will die Generation sein, die Europa erneuert.

Die Menschen erweisen sich dabei als flexibler und internationaler als unsere Bildungssysteme. Hier haben wir die Aufgabe, unsere Strukturen zu modernisieren: mit einem noch stärken Austausch der Schulen und Hochschulen Europas untereinander, mit gemeinsamen mehrsprachigen Abschlüssen über nationale Grenzen hinweg, mit der Idee der europäischen Universität, mit Forschungsprojekten, die noch mehr relevante Themen im Verbund bewältigen, wenn der mögliche Nutzen auch für ganz Europa von Bedeutung sein kann. Die Kraft und die Souveränität Europas werden sich langfristig über die Frage entscheiden, ob wir heute über genügend Mut und Weitblick verfügen, Lösungen für die relevanten Zukunftsfragen entwickeln zu wollen.

Aufgaben gibt es genug: unser Lebensstandard ist hoch, aber nicht nachhaltig. Wie schaffen wir es, ohne Zerstörung der Lebensgrundlagen unseres Planeten unseren Wohlstand zu erhalten? Wie kann z.B. eine gemeinsame Strategie einer europäischen Energiepolitik erarbeitet und in die Praxis umgesetzt werden? Leider sind wir bisher noch weit von einer solchen Strategie entfernt, geschweige denn von der Umsetzung. Die weitere Nutzung von Kohle ist ebenso eine Sackgasse wie die Nutzung der Atomenergie, und da können wir in der Region rund um ein nicht ausreichend sicheres Atomkraftwerk in Tihange bei Lüttich von einer direkten Betroffenheit sprechen, das macht uns Sorgen. Wenn aber die Energieversorgung ohne Kohle und Atomkraft auskommen soll, dann haben wir es mit einer Aufgabenstellung von wahrhaft europäischer Dimension zu tun. Ein großes Gemeinschaftsprojekt gibt es zwar im Bereich der Kernfusion, aber in dem Bereich der Wasserstoffwirtschaft und der Energiespeicherung für erneuerbare Energien müsste viel mehr getan werden, weil es der realistischere Weg ist, für den gute technische Lösungen in erreichbarer Nähe liegen.

Europa muss Stärke zeigen – auch in der Frage, ob Strategien wie z.B. in der Energiepolitik weiterhin von den wirtschaftlichen Interessen der großen Energiekonzerne, nicht selten mit staatlicher Beteiligung, dominiert werden dürfen. Auch das gehört für mich zur Souveränität und Transparenz dazu, es braucht einen neuen Weg, der Europa in eine neue Richtung führt.

Und Stärke zu zeigen heißt auch, eine eigene friedenssichernde Haltung wie beim Iran-Abkommen nicht zur Disposition zu stellen, wenn außerhalb Europas ein Richtungswechsel vollzogen wird.

Im Vordergrund gemeinsamer europäischer Lösungen müssen die Themen stehen, in denen Ursachen und Wirkungen so offensichtlich nicht an nationalen Grenzen halt machen, wie es bei der Energie und beim Klimaschutz der Fall ist, aber auch bei Fragen der Luftverschmutzung, bei der Sicherheit von Industrieanlagen und Atomkraftwerken, bei der Migrationspolitik, der Sicherheits- und der Verteidigungspolitik, der innereuropäischen Friedenssicherung und der gemeinsamen Wirtschafts- und Finanzpolitik.

Ein häufig medial ausgetragener Streitpunkt ist die Frage der Finanzströme, sei es in Beiträgen, Fördertöpfen, Krisenfonds oder Einlagensicherung. Beim Geld hört die Freundschaft schnell auf, und deshalb ist hier besonders große Sorgfalt erforderlich und keine Schnellschussreaktionen.

Wir brauchen eine Dimension der Krisenschutzsysteme, die den Risiken der europäischen Wirtschaft insgesamt entspricht, also mehr als bisher. Und wer die größten Risiken eingeht, der muss auch für die entsprechende Absicherung sorgen.

Haftung und Risiko gehören immer zusammen. Wenn dieses Verhältnis gewahrt ist, dann ist auch eine europaweite und letztlich solidarische Krisenvorsorge richtig. Zugleich müssen aber im Detail diejenigen Verfahren den Vorzug erhalten, die sich in besonderer Weise als stabilitätsfördernd erwiesen haben, also z.B. die Institutssicherung, wie wir sie in Deutschland sowohl bei Sparkassen als auch bei Genossenschaftsbanken kennen. Das aber geht nur dezentral, und daher ist es wohl am ehesten Erfolg versprechend, wenn das jeweils Beste aus allen Systemen miteinander kombiniert wird.

Es ist also besonders kompliziert, wenn es ums Geld geht. Aber wenn es gelingt, dann wird sich die hinzugewonnene Stabilität unserer Systeme als wichtiger Standortvorteil Europas im globalen Wettbewerb erweisen.

Oft sind es tief verankerte Ängste, die rationale Debatten verhindern. Während in Deutschland eine große Sorge besteht, dass ausufernde Finanztransfers kreiert werden, ist in Frankreich die Angst vor der Änderung bestehender Verträge anzutreffen. Und in den zur Zeit finanziell stärkeren Staaten wird das Vorurteil gepflegt, dass die Länder im südlichen Europa keine Anstrengungen mehr unternehmen würden, die eigene Wirtschaft zu reformieren, wenn die Gemeinschaft zu freigiebig Hilfen gewährt, während im Süden eine zu starke Einmischung kritisiert wird. Die Muster der inneren Spaltung ließen sich beliebig fortsetzen, und sie alle kosten Energie. Wie schön wäre es, wenn diese Energie darauf verwendet würde, eine gemeinsame europäische Strategie zu diskutieren. Nicht weniger als die Erneuerung der Europäischen Union ist unsere Aufgabe. Der sehr viel größere Rest der Welt würde aufhorchen, wenn uns das gelingt. Und dieser sehr viel größere Rest der Welt würde nicht weiter davon ausgehen können, dass wir unsere Chancen immer wieder eigenhändig im Streit zurechtstutzen.

Wir können natürlich darauf warten, dass Klimawandel, Terrorismus oder auch nur die Herausforderungen der Migration Europa immer wieder zu partiell abgestimmten Lösungen zwingen werden, aus der Not geboren. Wir können unsere Agenda auch von unserem Partner USA bestimmen lassen.

Wir können aber auch den anderen Weg wählen, den aktiven, den anstrengenderen, aber auch verheißungsvolleren Weg, indem wir gemeinsam ein Europa gestalten, auf das wir alle stolz sein könnten: geeint, demokratisch und souverän; friedlich, stark und frei; ein Europa das „Schutz und Zukunft“ bietet, wie es in der Sorbonne-Rede heißt. Das ist das Europa, für das wir hier streiten wollen.

Dieses Europa wird nie „fertig“ sein, die Arbeit wird nie enden. Der „europäische Sisyphos“, um noch einmal auf die Sorbonne-Rede zurückzugreifen, wird seine Aufgabe dennoch annehmen müssen. Und gemeint sind wir alle.

Herr Präsident Macron, das Direktorium des Internationalen Karlspreises und die Stadt Aachen möchten Sie ermutigen, weiterhin als starke Stimme für ein neues Europa zu streiten. Wir wünschen Ihnen die dazu nötige Kraft und Durchsetzungsstärke, vor allem aber wünschen wir Ihnen und uns allen viele weitere konstruktive Beiträge aus allen Teilen Europas, die mit Ihnen nach den Gemeinsamkeiten suchen, die die Strategie der Zukunft Europas tragen können.

Aachen bietet sich an als Plattform für den offenen Austausch. Es ist für uns von besonderer Bedeutung, dass nun die Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland die Gelegenheit nutzt, um hier einen Beitrag zur Diskussion um eine Erneuerung der Europäischen Union zu leisten.

Frau Dr. Merkel, wir freuen uns auf Ihre Ausführungen.
Herzlichen Dank.