Rede von Joseph Bech

Rede von Joseph Bech

In diesem Saale, dessen Säulen und Gewölbe in packender Eindringlichkeit Geschichte reden, deutsche und europäische, kommt mir die hohe Bedeutung des Karlspreises der Stadt Aachen erst recht in ihrem vollen Umfang zum Bewußtsein. Seit mehr als einem Jahrhundert haben hier in Aachen mit der feierlichen Krönung der Herrscher des Heiligen Römischen Reiches die jeweils neuen Etappen des christlichen Abendlandes, mögen es glückliche gewesen sein oder solche, derer sich Europa nicht ganz so gern erinnert, ihren Anlauf genommen. Ganz am Anfang stand der große Kaiser, der seine Krone nun zwar nicht in Aachen, sondern in jener für die westliche Welt so bedeutungsvollen Weihnacht des Jahres 800 in Rom erhalten hatte, dessen Name aber so tief mit der Stadt Aachen verbunden bleibt, weil er von hier aus, von seiner Kaiserpfalz, aus den Wirren des großen Zusammenbruchs des römischen Weltreiches heraus für Europa eine neue Ordnung schuf, die fortan und heute noch Ausgangspunkt der neuen Entwicklung sein sollte.
Von seiner Aachener Pfalz aus schuf dieser europäische Kaiser jenes Reich, das heute so oft Vorbild und Präfiguration der Verwirklichung unserer europäischen Sehnsucht genannt wird. Es beruhte auf der unitas nationum in diversitate, auf der Einheit in der reichen Vielfalt der kulturellen Besonderheiten, die auch heute noch unser Ziel und Ideal ist.
Mit dem Namen Karl des Großen hat die Stadt Aachen ihren internationalen Preis verbunden, da auf unserem Kontinent Menschen und Staaten erneut in eine Zeit hineingestellt sind, die wiederum zur Zäsur werden könnte, jenseits welcher die für uns unvorstellbare dunkle Nacht leiblicher und geistiger Sklaverei beginnen würde.
Seit zehn Jahren wird der Preis verliehen für die beste Leistung im Dienste der Verständigung und der internationalen Zusammenarbeit im europäischen Raum. Dieses Jahr verliehen Sie diese hohe Auszeichnung einem Manne, der als Vertreter eines kleinen Landes, während nahezu vierzig Jahren mit den Großen am Verhandlungstisch saß, jederzeit bemüht, den Blick auf die tatsächlichen Maßstäbe machtpolitischer Wertgeltung nicht zu verlieren, und dessen einziges Verdienst darin besteht, allezeit versucht zu haben, mit bestem Wissen und unter Einsatz seiner, wenn auch bescheidenen Mittel, der Sache des Friedens, die die Sache Europas ist, zu dienen.
Wie könnte ich mir, in diesem Augenblicke, bei Bekundung meines Dankes, nicht der Bescheidenheit meiner eigenen Verdienste bewußt werden, wenn ich an jene großen Verdienste denke, welche sich die ersten Karlspreisträger um Europa erworben haben: Professor Brugmans und Graf Coudenhove-Kalergi, die hochgesinnten Vorkämpfer der europäischen Einheit und Jean Monnet, der Aufbauer der ersten europäischen Gemeinschaft. Wie dürfte ich andererseits aber meinen Stolz verschweigen, meinen Namen gestellt zusehen neben diejenigen meiner illustren Weggenossen auf dem steilen und schwierigen Aufstieg zu unserem neuen Europa:
Alcide de Gasperi, dessen Tod eine schmerzlich empfundene Lücke hinterließ; Paul Henri Spaak, der unermüdliche, unerschrockene und redegewaltige Kämpfer; Sir Winston Churchill, der uns die Freiheit rettete und dann Europa den Weg in eine Zukunft neuer Blüte wies; Bundeskanzler Konrad Adenauer, der ein ins Chaos abgeglittenes Deutschland mit zielsicherer Hand hineinführte in den Kreis der freien Völker und zusammen mit Robert Schuman, dem Vater der europäischen Integration, die erste Brücke schlug zur Freundschaft zwischen Frankreich und Deutschland, die den Grundpfeiler des neuen Europas bildet. Über mehr als ein Jahrtausend europäischer Geschichte hinweggreifend stehen sie beide, Bundeskanzler Adenauer, der Rheinländer, und Robert Schuman, der Sohn der Lothringer Erde, wie Paladine Karls des Großen da, seine Idee von der Einheit des Abendlandes zu neuer Aktualität erhebend.
Wie könnte ich endlich im Gedenken an die bisherigen Träger des Karlspreises der Stadt Aachen jenen Mann vergessen, dem Europa in des Wortes wahrstem Sinne zu verdanken hat, daß es in so kurzer Zeit sich aus den wirtschaftlichen Wirren der Nachkriegsjahre zu neuem Wohlstand heraufarbeiten konnte, General George Marshall.
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister! Die heutige Feier bedeutet für mich eine der hohen Stunden meines Lebens. Bewegten Herzens spreche ich Ihnen sowie den Herren des Direktoriums des Karlspreises meinen tiefsten Dank für die mir und meinem Lande erwiesene Ehre aus. Denn daß Sie mir erlauben, diese Ehre auf mein Land zu übertragen, verdoppelt meine Dankesschuld. Da ich wohl die hohe Ehre, die mir heute zuteil wird, auf meine politische Langlebigkeit zurückführen darf, mögen Sie mir bei dieser Gelegenheit gestatten, einen ganz kurzen Rückblick zu werfen auf einige der Hauptetappen, die, mit ihren Fehl- und Rückschlägen, den Weg abstecken, den Europa seit Ende des Ersten Weltkrieges zur Einigung seiner selbst und zur Sicherung des Friedens gegangen ist. Aus der Optik dieser oft hoffnungsvollen, dann wieder enttäuschenden Etappen heraus läßt sich wohl am eindeutigsten die Position bestimmen, zu welcher heute im Jahre 1960 die europäischen Völker hinsichtlich dieser beiden für sie vitalen Grundprobleme gelangt sind.
Da der Erste Weltkrieg zu Ende war, wollten sich die Völker gegen die Wiederkehr einer solchen Katastrophe sichern. Nicht das Mittel, einen neuen Krieg zu gewinnen, wollten sie finden, wohl aber jenes, das den Krieg überhaupt unmöglich machen würde. Dieses Mittel aber konnte nur gefunden werden in Richtung einer neuen europäischen Ordnung, die nicht mehr beruhen würde auf dem Konzept von Sieger und Besiegtem, sondern auf der von den Völkern freiwillig eingegangenen Verpflichtung, sämtliche zwischen ihnen entstehenden Konflikte auf friedlichem Wege zu lösen. Die Idee war aber noch nicht stark genug, daß sie ihren Niederschlag gefunden hätte in den diplomatischen Verträgen, die unter den Ersten Weltkrieg den Schlußstrich setzen sollten. Auch in der Charta des Völkerbundes fand sie noch nicht ihre eindeutige Betonung, mochte der Völkerbund auch noch so hoffnungsfroh begrüßt worden sein als erstes Bemühen um eine auf der Grundlage von Recht und Gerechtigkeit beruhende internationale Organisation. Es sollte bis September 1924 dauern, ehe ein erster Vorstoß im Sinne der neuen Idee von Sicherung des Friedens durch Betonung der internationalen Solidarität unternommen wurde. Frankreich und England warfen damals das Problem in all seiner Komplexität auf. Und es kam zu jenem berühmten Genfer Protokoll, das die Doktrin der Sicherheit in die drei grundlegenden Begriffe von Abrüstung, Schiedsspruch und Sicherheit zusammenfaßte. Das Genfer Protokoll freilich hat in der Folge versagt. Das aber ändert meines Erachtens nichts an der Tatsache, daß damals wie heute ein Zustand wahrer Sicherheit nur aus jener Trilogie herauswachsen kann. Im Oktober 1925 ereignete sich dann zum erstenmal in der Geschichte, daß auf die Einladung Frankreichs und Deutschlands hin die westeuropäischen Mächte sich trafen - in Locarno -, um in gegenseitiger Gleichberechtigung über die Mittel zur Erreichung eines sicheren Friedens zu beraten. Ausgangspunkt war die Überzeugung, daß der Friede nur auf dem Wege des Zusammenschlusses der europäischen Nationen zu erreichen sei.
Die Konferenz von Locarno ging in einer Atmosphäre allgemeiner Begeisterung zu Ende. In der Schlußsitzung feierte Briand, der Vertreter Frankreichs, in bewegten Worten das im Entstehen begriffene neue Europa und fügte hinzu: ,,Pour que les accords deviennent efficaces, il faut que 1'esprit qui les a conçus entre dans le coeur des peuples. Il faut réa1iser le double désarmement matériel et des esprits ..."
Doch auch Locarno blieb toter Buchstabe. Angesichts dieses neuen Konkurses der Idee von Friede und Sicherheit und zum Teil wohl auch unter dem Einfluß des Grafen Coudenhove-Kalergi und seiner Freunde aus der paneuropäischen Bewegung hin versammelte dann Briand am 9. September 1929 die in Genf anwesenden Außenminister zu dem seither historischen Mittagessen und trug ihnen sein Projekt der Vereinigten Staaten von Europa vor. Zum erstenmal in der Geschichte hatte ein Staatsmann den Versuch unternommen, den Gedanken von der Rationalisierung Europas durch den freiwilligen Zusammenschluß seiner Völker aus der Sphäre grauer Theorie in blutwarme Wirklichkeit zu übertragen. Drängt sich da nicht der Vergleich auf mit der berühmten Erklärung Robert Schumans am 9. Mai 1950, aus der die Montanunion geboren wurde? Auch mein Freund Robert Schuman sah die europäische Möglichkeit auf dem Wege über die konkreten wirtschaftlichen Realisationen. Schuman aber ging weiter als Briand. Er warf den Gedanken von der Supranationalität in die Diskussion, während Briand nicht an die souveränen Rechte der Nationen hatte rühren wollen. Die Zeiten waren dafür noch nicht reif gewesen. An dieser Karenz aber mußte Briands Plan notwendigerweise scheitern. Die Staaten hatten sich noch nicht zur Erkenntnis durchgerungen, daß sie sich nichts vergeben und ihre Substanz nicht schmälern, wenn sie einen Teil ihrer Souveränität auf den im gemeinsamen Interesse zur Sicherung des Friedens geschaffenen internationalen Organismus übertragen. 27 Außenminister hatten erklärt, Briands Plan einem eingehenden Studium unterziehen zu wollen. Doch schon war die große Kontroverse entbrannt. Von allen Seite wurde Sturm gelaufen gegen Briand und seine europäische Idee.
Briands Plan von den Vereinigten Staaten von Europa verschwand definitiv von der politischen Bildfläche mit dem Tode des großen Staatsmannes im Jahre 1932. Die internationale Politik hatte sich bereits anderen Sensationen zugewandt. Die erste große Abrüstungskonferenz hatte stattgefunden und Sowjetrußland hatte sich geweigert daran teilzunehmen. Übrigens war auch die Genfer Konferenz infolge kurzsichtiger nationalistischer Bedenken von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Vom Völkerbund wurde von Jahr zu Jahr offenkundiger, daß er ohnmächtig war, seine ohnehin seltenen Beschlüsse durchzuführen. So büßte er mehr und mehr an Ansehen ein, zumal es bisweilen den Anschein haben mußte, als seien seine Beschlüsse durchaus nicht immer getragen von der Sorge um Recht und Gerechtigkeit.
Dann brach die große Finsternis über Europa herein, und in den Herzen machte sich die Trostlosigkeit der Erkenntnis breit, daß all das Bemühen um endgültige Ausschaltung des Krieges als Mittel der Politik vergebens gewesen war. Was blieb von unseren Hoffnungen? Ein kontinenteweites Trümmerfeld. Kann die Menschheit wirklich nicht anders, als durch ein Meer von Blut dem gelobten Land einer besseren Zukunft entgegenzuschreiten? In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen hatte alle Staatskunst versagt. Wird deswegen die Geschichte über die Staatsmänner von damals den Stab brechen dürfen? Nur diejenigen, die den Weg zur Einigung Europas und zur Sicherung des Friedens während jener zwei Jahrzehnte mitgegangen sind, können sich Rechenschaft ablegen von den ungeheuren Schwierigkeiten, die sich ihnen immer wieder entgegengestellt und eine Unsumme von Arbeit abgefordert hatten. Die Arbeit aber war nicht vergebens gewesen, wenn sie auch keine unmittelbare Frucht getragen hatte. Fürwahr, welche Wandlung in der Geisteshaltung seit Versailles! Vorstellungen, die das Privileg einiger kühner Pioniere waren, sind heute Allgemeingut geworden. Daß Friede und Sicherheit nicht Korollare nationaler Macht sind, sondern daß nur ein durch den freien Willen seiner Völker geeintes Europa den Frieden und die Sicherheit garantieren, gilt heute als selbstverständlich. Das Bewußtsein von der Zusammengehörigkeit der europäischen Völker und von der Notwendigkeit der Einigung als Ziel und Schicksal dringt immer tiefer in die Massen. Was Briand in Locarno wünschte wird Tatsache: Die europäische Idee erobert die Herzen unserer Völker.
Meine Damen und Herren! Spät in der Nacht des 22. August 1954 verließ ich zusammen mit Bundeskanzler Adenauer den Saal des Außenministeriums in der Brüsseler rue de la Loi. Nach dramatischen Debatten, die sich etliche Tage hingezogen hatten, war den sechs Ministern, welche die Signatarstaaten des Vertrages zur Schaffung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft vertraten, nichts anderes übrig geblieben, als festzustellen, daß sie zu keiner Einigung hatten kommen können. Am Tor des Außenministeriums wurden wir von Journalisten und Pressephotographen umringt. Und als einer derselben fragte, was er wohl als Kommentar unter das soeben geknipste Bild schreiben sollte, antwortete der Bundeskanzler mit einer Handbewegung, die all seine Entmutigung auszudrücken schien: ,,Setzen Sie darunter: zwei müde Europäer!"
Ja gewiß, für die Europäer war die Niederlage schwer gewesen, doch nicht endgültig. Die müden Männer von 1954 bewahrten sich ihren Glauben an das Ideal eines geeinten und starken Europas, das endlich frei sein würde von seiner Vergangenheit der Zwietracht, des Mißtrauens und des Hasses. Etliche Monate später gingen sie in Messina an einen neuen Start. Auch das Unglück kann sein Gutes haben. Das Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft wirkte sich für die betroffenen Staatsmänner als zwar schmerzliche doch heilsame Lehre aus, die ihnen wieder in Erinnerung brachte, daß die Politik die Kunst des Möglichen ist, und daß es angesichts der in verschiedenen Ländern zur Zeit herrschenden politischen Verhältnisse heute noch nicht möglich ist, das Europa unserer Wünsche mit einem Schlag zu verwirklichen. Denn, mag auch jedermann erkannt haben, daß Europa, so es nicht untergehen will, nicht stehen bleiben darf auf dem Wege seiner Einigung, so bleibt doch wahr, daß wir nur schrittweise von Etappe zu Etappe weiterschreiten können und uns dabei immer wieder Rechenschaft ablegen müssen, ob die noch zerbrechlichen europäischen Brücken dem Gewicht gewachsen sind, das wir darüber tragen möchten. Die Außenminister der sechs Länder haben die Lehre der die Straße nach Europa säumenden Mißerfolge verstanden. In Messina und Rom schlugen sie eine andere Taktik ein und beschlossen, die Verwirklichung der europäischen Einheit von der Seite der wirtschaftlichen Gegebenheiten her anzugehen. Nächstes Ziel sollte es somit sein, zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl schrittweise einen auf den freien Güter-. Kapital- und Personenverkehr aufgebauten Gemeinsamen Markt zu schaffen.
Die Bedeutung des Gemeinsamen Marktes läßt sich gar nicht hoch genug einschätzen, und die Tatsache, daß er vor knapp zwei Wochen seine erste, gefährliche Krise glücklich überstand, bestätigt unsere Überzeugung, daß gerade um das Kernstück dieses auf der Solidarität seiner Partner beruhenden wirtschaftlichen Organismus sich das künftige Europa aufbauen wird. Auch der Zwist zwischen den Sechs und den Sieben wird, dessen bin ich gewiß, beigelegt werden. Wo guter Wille ist und gesunder Menschenverstand, findet sich auch ein Weg. Manches wurde in den letzten 15 Jahren getan zur Verwirklichung der europäischen Notwendigkeit. Vieles bleibt noch zu tun. Es wird desto eher getan werden können, je tiefer die Erkenntnis von der notwendigen Einigung die öffentliche Meinung unserer Länder durchdringt. Aufgabe des Europarates ist es, dieses Gefühl der europäischen Zusammengehörigkeit lebendig zu erhalten, es zu stärken und sinnfällig zu verkörpern. Von Straßburg strahlt seit zehn Jahren der europäische Geist aus. Die Intensität dieser Ausstrahlung aber wird sich noch erhöhen, wenn, hoffentlich bald, die Mitglieder des Straßburger europäischen Parlaments durch direkte Wahl bezeichnet werden können. Träger des geeinten Europas werden die Menschen sein. In ihrer Vorstellungswelt wird dann Europa nicht etwa eine bloß abstrakte Idee sein. Für den "Mann von der Straße" kann Europa erst dann etwas Greifbares bedeuten, wenn es durch Parlamentarier vertreten wird, die er kennt und in die er Vertrauen hat. Darf ich hinzufügen, daß der europäische Gedanke erst dann, wie Briand es wünschte, in die Herzen der Massen eindringen wird, wenn die Menschen die Gewißheit haben, im geeinten Europa die Individualität ihrer Heimat und die ethischen Werte ihrer Traditionen erhalten zu sehen. Gerade aus dieser Vielfalt der freiwillig sich vereinigenden nationalen Individualitäten wird das integrierte Europa seine beste Kraft und die Garantie für seine Lebensfähigkeit schöpfen. Die Zeit ist unser bester und unentbehrlicher Helfer im großen europäischen Aufbauprozeß.
In den vergangenen 15 Jahren hat sich die europäische Atmosphäre von Grund aus geändert. Ich weiß nicht mehr, welcher Staatsmann seinerzeit im Völkerbund sagte, die beste "Wacht am Rhein" sei die Freundschaft Frankreichs und Deutschlands. Heute besteht diese Freundschaft und das prophetische Wort Lamartines, der vor mehr als 100 Jahren in seiner "Marseillaise de la Paix" den Rhein als symbolischen Fluß des Friedens besang, ist Wirklichkeit geworden. Daß diese für Europa so glückliche Entwicklung hauptsächlich als historisches Verdienst des Bundeskanzlers und Robert Schumans zu werten ist, freue ich mich heute in diesem Saale eigens unterstreichen zu dürfen. Denn die nunmehrige Freundschaft dieser beiden Völker, die sich in zwei Weltkriegen als Feinde gegenüberstanden, bildet die unersetzliche Vorbedingung für die Sicherheit Europas und für den Frieden.
Meine Damen und Herren! Wir sind hineingestellt in den größten Machtkampf, den die Geschichte je gekannt hat. Weltweit spielt sich der Großkampf der Geister und Mächte ab. Das ehemals weltbeherrschende Europa ist auf seine geographische Dimension einer kleinen Halbinsel des asiatischen Kontinents zusammengeschrumpft, direkt angehängt an die von einer Milliarde Menschen kommunistischer Obödienz bevölkerten ungeheuren Ebenen des Ostens.
Dieses Europa, in seiner archaischen Zersplitterung, fühlt sich nun umbrandet vom gewaltigen Entscheidungskampf zwischen der Machtbesessenheit des kommunistischen Totalitarismus und der von Liebe zur Freiheit und Achtung der Menschenrechte bestimmten Gesellschaftsform.
Asien ist für Europa verloren. Mit Bangen betrachtet man die Entwicklung auf dem schwarzen Kontinent. Äußerst geschickt spielen hier die kommunistischen Mächte die Karte des Nationalismus aus, den sie aufpeitschen und auswerten gegen die sogenannten westlichen Kolonialmächte. Die ideologische und wirtschaftliche Offensive des Kommunismus in diesen Ländern ist in vollem Gange. Von entscheidender Bedeutung für den Ausgang derselben wird die Entwicklungshilfe sein, welche der Westen den von der kommunistischen Ideologie am härtesten bedrängten Ländern gewähren kann. Denn der Tatsache müssen wir uns stets bewußt bleiben, daß die Freiheit, die irgendwo auf der Welt, ob in Asien, Afrika. Europa oder Südamerika, ein einzelnes Volk verliert sich als Minus in der Gesamtsumme menschlicher Freiheit für uns alle auswirkt.
Auf dieser Front wie auf so vielen anderen sieht sich heute der Westen dem aggressiven ideologischen Kommunismus gegenüber in die Verteidigungsstellung gedrängt. Daß Sowjetrußland und China als gewaltige Schutzmächte hinter dem Weltkommunismus stehen, gibt der ideologischen Auseinandersetzung zwischen Ost und West eine auch auf politischem und militärischem Gebiet entscheidende Bedeutung. Die Ziele des Kommunismus sind bekannt. Es käme einer Beleidigung der Führer der kommunistischen Länder gleich, wollte man ihnen nicht aufs Wort glauben, daß ihre Heilslehre sie dazu verpflichtet, dem Kommunismus durch die Weltrevolution zur Weltherrschaft zu verhelfen.
Es würde zu weit führen, heute vor Ihnen das wechselreiche Bild der Mittel zu entrollen, mit welchen der kommunistische Totalitarismus zu diesem Ziele zu gelangen hofft. Sie durchlaufen. von der "Offensive des Lächelns" bis zur Drohung mit Krieg und Totschlag, die gesamte Skala menschlicher Affektempfänglichkeit. Darf ich gleich hinzufügen, daß ich persönlich nicht glaube, daß die kommunistischen Mächte ihr Ziel der Weltherrschaft unter den gegebenen Umständen durch Waffengewalt erreichen wollen. Unsere Vorstellung von ihren Absichten möge richtig oder falsch sein, sie soll jedoch absolut keinen Einfluß haben auf die Entschlossenheit des Westens, irgendwelchen direkten oder indirekten Aggressionsmöglichkeiten mit Waffen in der Hand so stark gegenüber zu stehen, daß der eventuelle Angreifer im vornherein abgeschreckt wird. Es wäre verheerender Leichtsinn, angesichts der heutigen Weltlage auch nur einen Augenblick daran zu zweifeln, daß das blutige Würfelspiel sich nicht wiederholen könnte. Daß die eisernen Würfel fallen können, ist nicht zu bestreiten. Man braucht nicht so weit zu gehen wie Leibnitz, der sagte, eine Fliege auf der Nase des Tyrannen vermöge den Gang der Welt zu ändern, um doch zu erkennen, daß es von einem Ende der Welt zum anderen Dutzende von Gefahrenherden gibt, an denen ein Krieg ausbrechen könnte. Dieses Wissen um die dauernde Gefährdung gibt den Staatsmännern aller Länder sowohl der freien Welt wie auch der kommunistischen das Recht und macht es ihnen sogar zur Pflicht, ihre Völker gerüstet zu halten, solange sie sich nicht auf die bis heute vergebens angestrebte totale, gleichzeitige, kontrollierte Abrüstung geeinigt haben.
Wie weit die Menschheit noch von dieser idealen Sicherung des Friedens entfernt ist, hat das Scheitern des Versuchs der Gipfelkonferenz blitzartig gezeigt. Statt der Entspannung lebt die Welt seither in einem Hochspannungsfeld voll tödlicher Gefahren. Vielen in ihrer Friedensliebe naiven Menschen wurden dabei die Augen geöffnet. Das ist gut so. Regenbogen sind keine Brücken. Und das weise Wort: "Blick auf die Sterne, aber gib acht auf die Straße" hat noch immer seine Gültigkeit. In der heutigen Welt sind Wunschdenken und Illusionen direkt lebensgefährlich. Es wäre wahrhaftig unverständlich, wenn den westlichen Staatsmännern noch die geringste Illusion bliebe über die wirklichen Absichten, welche die kommunistischen Führer mit der Herstellung der Entspannung und der sogenannten friedlichen Koexistenz erreichen wollen.
Diese sind für die Sowjets kein Selbstzweck. Sie sind nur Mittel zum Zweck. Die Sowjetführer machen keinen Hehl daraus, daß die friedliche Koexistenz mit der Zeit zur Kapitulation der westlichen Demokratien führen werde und müsse. Trotz der damit verbundenen Gefahren sind die Natoländer bereit, nach einer Atempause die in Paris vereitelten Verhandlungen wiederaufzunehmen, auch wenn sie nur zu einer prekären friedlichen Koexistenz führen sollten. Denn besser ein hundertjähriger prekärer Frieden oder selbst ein kalter Krieg, denn ein Lustrum heißen Krieges. In den nächsten Tagen sollen die so lange hingeschleppten Abrüstungsverhandlungen wiederaufgenommen werden. Sei werden der Prüfstein sein, ob die Sowjets ein Minimum an Willen und an unentbehrlichem Vertrauen zur Zusammenarbeit mitbringen.
Das Pariser Fiasko hat den prekären Stand der Beziehungen zwischen Ost und West grell beleuchtet und die Schnelligkeit enthüllt, mit der die politische Atmosphäre sich ändern und die Lage sich verschlimmern kann. Die Natoländer sind gewarnt. Die Devise des Atlantischen Verteidigungspaktes: Vigilantia pretium libertatis - der Preis unserer Freiheit ist dauernde Wachsamkeit und höchste Anstrengung, muß heute mehr denn je das Losungswort der freien Völker bleiben.
Dem Willen zur Macht müssen wir die reinere Leidenschaft des Willens zur Freiheit und zur Demokratie entgegensetzen, und den Glauben an all die Werte, die bedroht sind und die uns das Leben lebenswert machen: persönliche Freiheit, Recht, Menschenwürde und Menschlichkeit. In der weltweiten Auseinandersetzung der Geister stehen uns die Fanatiker der kommunistischen Heilslehre gegenüber, während auf unserer Seite viel zu viele Menschen nur um einen so blutarmen Glauben an das abendländische und christliche Kulturgut praktizieren, daß manche den Widerstand gegen das Eindringen der kommunistischen Ideen als aussichtslos ansehen möchten. Würde sich dieses Gift des Fatalismus verbreiten, so hätte das die unausweichliche Niederlage auf der ideologischen Front zu bedeuten.
Nur der unerschütterliche Glaube aber an die Superiorität der fundamentalen Werte unserer Auffassung vom Menschen, welcher das antike und christliche Erbe zugrundeliegt, kann unseren Völkern den Willen geben, diese Werte zu verteidigen, sowie den Mut, die Lasten äußerster Wappnung auf sich zu nehmen, zu welcher dieser hohe Einsatz zwingt. Al1er Voraussicht nach wird diese Wehrbereitschaft während Jahren notwendig sein. Es genügt nicht mehr, bei Alarm an die Schießscharten zu laufen und die Zugbrücke hochzuziehen, um sich dann wieder in Sicherheit zu wiegen.
Das Wettrüsten zur Herstellung des Weltgleichgewichts ist das Drama unserer Zeit, und wir dürfen nicht nachlassen in unserem Streben, diesem Wettrüsten ein Ende zu machen. Tragischerweise liegen die Verhältnisse in der Welt so, daß trotz seiner Prekärität das Weltgleichgewicht das einzige Mittel heute ist, um die schlimmsten Katastrophen zu verhindern.
Wir müssen uns also damit abfinden.
Wir verdanken Stalin und dem kommunistischen Staatsstreich in der Tschechoslowakei den Atlantischen Verteidigungspakt, der uns seit seinem Bestehen den Frieden bewahrt hat.
Herrn Chruschtschows Auftritt in Paris verdanken wir, daß die Mitglieder dieses Paktes sich zur Entschlossenheit aufgerafft haben, fester wie je zusammenzustehen und daß die freie Welt sich ihrer tieferen Verbundenheit und ihres Schicksalszusammenhangs in der atlantischen Gemeinschaft wieder ganz bewußt wurde.
Und so ist die Hoffnung erlaubt, daß vielleicht auch einmal, unter dem Druck der Ereignisse, die Zeit reif wird, auch der inneren Organisation Europas ein auf die Dauer unerläßliches politisches Fundament zu geben.
Königliche Hoheit! Herr Oberbürgermeister! Meine Herren vom Direktorium des Karlspreises! Exzellenzen! Meine Damen und Herren! Indem ich Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit danke, bitte ich Sie, meine allzu langen Ausführungen zu entschuldigen. Aber der Weg, der mich von der Pariser Friedenskonferenz bis zum Pariser Gipfeltreffen führte, war länger als ich dachte. Meine Absicht war, Ihnen an Hand meiner Erfahrungen die Entwicklung der beiden grundlegenden Probleme unserer Zeit: die Sicherung des Friedens und die damit eng verbundene Einigung Europas zu zeigen. Weder das eine noch das andere dieser Probleme hat bis heute eine Lösung gefunden.
So fest ich überzeugt bin, daß die wirtschaftliche und politische Einigung Europas nicht mehr aufzuhalten ist, so gering ist meine Hoffnung, das Ende der Unsicherheit, des Mißtrauens und des Hasses in der Welt in absehbarer Zeit vorauszusehen. Mir bangt, daß wir noch lange Jahre verurteilt sind, unter der viel geschmähten Devise: Si vis pacem para bellum, leben zu müssen. Wer den Frieden will, muß zum Krieg rüsten. Und doch leuchten uns als Hoffnungsstern von den Toren des Haager Friedenspalastes die herrlichen Worte entgegen: Si vis pacem cole justitiam. Wenn du Frieden willst, pflege die Gerechtigkeit. Die Pax aeterna aber, der ewige Friede,
bleibt immer ein frommer Wunsch. Er ist Gottes ewiger Besitz. Wir Menschen aber, die von der Hoffnung leben, haben die Pflicht, unablässig am Frieden zu arbeiten.