Rede des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen, Kurt Malangré

Rede des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen, Kurt Malangré

Festliche Versammlung!
In seiner Deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts schreibt Golo Mann: "Man kann die Geschichte einer europäischen Nation zu irgendeiner Zeit nicht erzählen, ohne zugleich das ganze Europa im Auge zu haben; man kann die Geschichte Europas nicht erzählen, ohne die Einheit des Gegenstandes in nationale Vielfalt zerfallen zu lassen und aus ihr wieder zur Einheit zu sammeln."

Nachdem am heutigen Tage zum 20. Male seit 1950 an dieser nach seiner geographischen Lage, seiner historischen und geistigen Bedeutung und dem aktuellen Verständnis der sie hütenden Bürgerschaft zentralen europäischen Stätte der Internationale Karlspreis der Stadt Aachen verliehen wird, so beleuchten die Ereignisse und die Persönlichkeiten dieser 20 Preisverleihungen eben dieses dramatische Geschehen um nationale Souveränität und europäische Integration, um Vielheit und Einheit, um das Selbstverständnis und die Zukunft der Einzelnationen und des Gesamtkontinentes. Visionen und Ideen, Möglichkeiten, Chancen, Erreichtes und Versäumtes, Verhindertes, Verlorenes, Erfolge und Fehleinschätzungen werden erkennbar.

Was erreicht wurde auf dem Wege zum notwendigen Zusammenschluß Europas, ist nicht in erster Linie dem Druck der Ereignisse zuzuschreiben, da hiernach die Gemeinsamkeit längst wesentlich weiter gediehen sein müßte, sondern was zur Integration geschah, ist außer dem beharrlichen Verlangen vieler ungenannter Europäer dem ständigen Bemühen Einzelner, zur Verantwortung für alle Beauftragter zu verdanken.

Unter diesen mahnte bereits in einer seiner ersten Bundestagsreden im April 1954 ein damals 34jähriger Abgeordneter das Parlament: "Wenn Sie etwas nachdenken, werden Sie zu dem Schluß kommen, daß es für uns nur eine Entscheidung geben kann, nämlich die, weiter fortzuschreiten, und zwar mutig und auch hoffnungsvoll auf dem Wege, der nun beschritten worden ist, zur Integration Europas".

Dieses frühe Zitat stammt von dem Manne, der heute im Mittelpunkt unserer Versammlung steht, und den ich nun in aller Namen an erster Stelle mit großer Freude begrüßen darf:

Herrn Bundespräsidenten Walter Scheel.

Neben ihm heißen wir die anwesenden Karlspreisträger früherer Jahre willkommen:

den Karlspreisträger 1967,den Generalsekretär der NATO, Herrn Dr. Joseph Luns,

den Karlspreisträger 1969,den damaligen Präsidenten der Kommission der
Europäischen Gemeinschaften, Herrn Minister Jean Rey
und die Mitglieder seiner Kommission, die Herren Prof. Albert Coppé und Dr. Fritz Hellwig,

den Karlspreisträger 1970,den früheren Botschafter Frankreichs in der
Bundesrepublik Deutschland,
Herrn François Seydoux de Clausonne.

Ich begrüße die Herren Botschafter

Luxemburgs,
Dänemarks,
der Niederlande,
Großbritanniens,
Italiens,
Belgiens,
Irlands
und den Geschäftsträger Frankreichs,
von der Kommission der Europäischen Gemeinschaften Herrn Dr. Guido Brunner,

den Präsidenten des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften, Herrn Prof. Dr. Kutscher.

Wir freuen uns sehr über die Anwesenheit des Ministerpräsidenten Luxemburgs und Präsidenten der Föderation der liberalen und demokratischen Parteien Herrn Gaston Thorn

und begrüßen den Oberbefehlshaber der Vereinigten Streitkräfte Europa-Mitte, Herrn General Schulze.

Unser Willkommensgruß gilt den anwesenden Mitgliedern des Europäischen Parlamentes und des Deutschen Bundestages, unter ihnen dem stellvertretenden Vorsitzenden der CDU-CSU Bundestagsfraktion, Herrn Heinrich Windelen, sowie dem ehemaligen Vizepräsidenten des Deutschen Bundestags Herrn Bundesminister a. D. Prof. Carlo Schmid.

Für die Bundesregierung begrüße ich den Bundeskanzler, Herrn Helmut Schmidt
und den Vizekanzler und Außenminister, Herrn Hans-Dietrich Genscher,
den Chef des Bundespräsidialamtes, Herrn Staatssekretär Dr. Frank,
den Chef des Presse- und Informationsamtes, Herrn Staatssekretär Bölling
und den Chef des Protokolls, Herrn Botschafter Schoeller.

Ich heiße willkommen
den Präsidenten des Landtages von Nordrhein-Westfalen, Herrn Dr. Lenz,
die anwesenden Abgeordneten des Landtages von Nordrhein-Westfalen
und von der Landesregierung Herrn Staatssekretär Brodeßer,

die Herren Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in
Belgien, Luxemburg, Frankreich, und den Niederlanden,

als ständigen Vertreter ihrer Regierungen bei den Europäischen Gemeinschaften die Herren Botschafter Belgiens und der Bundesrepublik Deutschland
und den Herrn Botschafter Italiens bei der NATO.

Bestens willkommen sind uns
der Diözesanbischof von Aachen, Herr Prof. Dr. Hemmerle,

die zahlreich erschienenen Mitglieder des Consularischen Corps,

sowie die Präsidenten des Niederländischen Rates der Europäischen Bewegung, Herr Molenaar,
und der Europaunion Deutschland, Herr Lock,
die Generalsekretäre des Belgischen und Deutschen Rates der Europäischen Bewegung und der Europaunion, Herren De Groot und Eickhorn,
der Herr Regierungspräsident von Köln und der Mayor unserer englischen Partnerstadt Halifax.

Ihnen allen, die sie an diesem heutigen Ereignis teilnehmen, gilt unser herzlicher Gruß!

Verehrte Anwesende, als am 25.3. dieses Jahres des Abschlusses der Römischen Verträge vor 20 Jahren gedacht wurde, deren Unterzeichnung seitens der Bundesrepublik Deutschland durch die beiden bisherigen deutschen Karlspreisträger Konrad Adenauer und Walter Hallstein erfolgte, so war dies allgemein Anlaß zu einer Bilanzierung des bisherigen Integrationsstandes. Dabei kann man nicht übersehen, daß seitdem die Zollschranken innerhalb der Gemeinschaft weitgehend abgebaut, daß durch die Harmonisierung technischer Vorschriften und gemeinschaftliche Wettbewerbsregeln weitere Handelshemmnisse verringert wurden, daß der gemeinsame Agrarmarkt und eine gemeinschaftliche Agrarpolitik entstanden sind, und daß die Arbeitnehmer und ihre Familien volle Freizügigkeit genießen, mit dem Ergebnis, daß 1,6 Millionen Bürger der Gemeinschaft in einem anderen als ihrem Heimatstaat leben und arbeiten. Keine Regierung der EG-Länder kann zur Zeit das bestehende Bewußtsein der notwendigen Gemeinsamkeiten in der eigenen Wählerschaft durch der Gemeinschaft abträgliche Alleingänge verletzen, ohne genötigt zu sein, hierfür intensive Erläuterung und Rechenschaft zu geben.

Diese positiven Veränderungen veranlaßten am 12. Mai 1972 den damaligen Außenminister Walter Scheel in einer Grundsatzerklärung vor dem internationalen Kongreß der Europäischen Bewegung zu der Äußerung: "Auf der Grundlage des wirtschaftlichen Zusammenschlusses der westeuropäischen Völker ist eine Staatengemeinschaft in der Entstehung begriffen, die eines der wichtigsten Zentren einer multipolaren Weltpolitik zu werden verspricht."

Es wurde aber andererseits auch offenkundig, daß weitere, ganz wesentliche Erfordernisse gemeinsamen Handelns einem vordergründigen nationalen Taktieren geopfert wurden, so z. B. die Notwendigkeit einer gemeinsamen Währungs- und Energiepolitik, einer wenigstens in Teilbereichen gemeinsamen Außenpolitik und einer gemeinsamen Entwicklungshilfepolitik.

Die fatale Scheu vor der weiteren Integration erscheint als um so unverständlicher, als einerseits die Erfolge praktizierter Gemeinsamkeit hervorragend waren und sind, andererseits die Integrationsdefizite in den einzelnen Staaten zu genau so herausragenden Mangelerscheinungen führten, die dann ihrerseits radikalen Kräften meist der extremen Linken Auftrieb verschafften, deren revolutionärer Totalitätsanspruch nun wiederum bezeichnenderweise durch die verharmlosende Selbsttäuschungsvokabel vom Eurokommunismus zur eigenen Beruhigung entschärft wurde.

Die Einsichtigen erkannten die Gefahren und mahnten dringender. So formulierte in einer für ein Staatsoberhaupt ungewöhnlich politisch akzentuierten Weise der Herr Bundespräsident in einer herausragenden Rede vor dem Stadtrat von Paris am 22. April 1975 u.a.:
"Wir können nicht damit rechnen, daß uns die Europäische Union eines Tages als reife Frucht in den Schoß fällt. Und wir haben nicht die Zeit, darauf zu warten. Was also ist zu tun? Europa muß sich die notwendigen Organe und Kompetenzen schaffen, um handlungsfähig zu werden und es muß sich darum bemühen, dies bald zu tun. Wer die Europäische Union ernsthaft will, weiß auch, daß sie eine klare Verfassung braucht als Grundlage für eine gemeinsame Außen- und Wirtschaftspolitik und eine gemeinsame Verteidigung. Um das in Werk zu setzen --so fuhr er fort - bedarf es keiner zusätzlichen Konferenzserien und Bürokratien. Nur der politische Wille ist nötig, und er braucht nichts als die demokratische Legitimation."

Eben diese Forderung wurde auch in dem am 29.12.1975 vorgelegten richtungsweisenden Bericht zur Definition des Begriffs und Weges der Europäischen Union des vorjährigen Karlspreisträgers, des Herrn Ministerpräsidenten Leo Tindemans, eindringlichst erhoben. Es hätte nun in der Tat hierzu keiner zusätzlichen Konferenzserien bedurft, aber sie erfolgten dennoch. Es währte weitere neun Monate, bis am 20.9.1976, unter heftigen Geburtswehen die Verträge zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen zum Europäischen Parlament durch die Unterschriften der Außenminister der EG-Staaten Existenz erlangten.

Zur großen Erleichterung aller Europäer war damit endlich der ersehnte Weg zu der geforderten und unabdingbaren "demokratischen Legitimation" freigegeben. Erstmals kann ein gemeinsamer europäischer Wille artikuliert werden, bleiben die Institutionen der Gemeinschaft und die nationalen Regierungen in ihren Absichten und Handlungsweisen nicht ohne die parlamentarische Einflußnahme auf die Europapolitik. Erstmals gibt es die Gesamteuropäische Wählerschaft, ist der europäische Bürger Mandatsgeber, formieren sich gleichgesinnte nationale Parteien auf europäischer Basis.

Aber nun erleben wir es wiederum, daß das hinhaltende Beharrungsvermögen der nationalen Regierungen sowohl die gesetzten Termine zu verzögern trachtet als auch die Ausstattung der Befugnisse dieses nach dem Willen der Völker und direkt gewählten Parlamentes auf ein wieder zur Unverbindlichkeit degradierendes Maß vermindern will. Sogar die Tindemans'sche Forderung nach wenigstens einem Initiativrecht dieses Parlamentes wird nicht einmütig gebilligt.

Abgesehen von der hieraus wieder deutlich werdenden objektiv schädlichen nationalen Interessenpflege, der Unvereinbarkeit mit demokratischen Grundsätzen, führen die der Bevölkerung immer wieder zugemuteten Wechselbäder von geweckten Hoffnungen und erlittenen Enttäuschungen zu einer gefährlichen da lähmenden Skepsis der Bürger.

Sollte dies eben einem undemokratischen und antieuropäischen Konzept entsprechen, so gilt es, um so entschiedener, hiergegen anzugehen.

Um so dankbarer sind wir dafür, daß das Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland den Gefahren wehrt und die Integration der Völker Europas nach Kräften fördert, und zwar im allgemeinen wie im regionalen Rahmen, etwa dem der Euregio Rhein-Maas, die dem Herrn Bundespräsidenten für sein förderndes Interesse zu großem Dank verpflichtet ist.

Dabei ist ihm schon aus eigener Erfahrung die von ihm selbst geforderte demokratische Legitimation ein politisches Lebenselement, dem er sich selbst auf allen Ebenen demokratischen Lebens gestellt hat, seit seiner 1948 begonnenen Tätigkeit im Rat der Stadt Solingen, über sein 1950 erhaltenes Landtagsmandat in Düsseldorf, dem schon 1953 der Einzug in den Bundestag und 1958 die Mitgliedschaft im Europäischen Parlament in Straßburg folgte. Von 1967 bis 1969 bekleidete er das Amt des Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages und wurde nach der darauffolgenden fünfjährigen Amtszeit als Minister des Auswärtigen und Vizekanzler schließlich am 1.7.1974 von der Bundesversammlung zum 4. Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland gewählt.

Als Außenminister überbrachten Sie, Herr Bundespräsident, am 31.5.1973 Ihrem Freund und Lehrer Don Salvador de Madariaga von dieser Stelle aus die Glückwünsche der Bundesregierung und bezeichneten als den schönsten Ehrentitel, den es seit dem Kriege in den einstigen Ländern Karls des Großen gebe den eines "Großen Europäers". Herr de Madariaga hat mich nun gebeten, Ihnen folgende Grußadresse zu übermitteln:

"Retenu par mon age, loin de la ville d'Aix la Chapelle, o๠j'aurais si ardemment désiré me trouver aujourd'hui pour me joindre à vous tous, et pour honorer votre grand président, je vous prie, Herr Oberbürgermeister, de dire à tous nos amis combien je suis fier d'avoir été le compagnon de Monsieur le Président Scheel dès les premiers jours de son "uvre comme libéral et comme européen. Son ascension rapide dans la hiérarchie politique me semble de voir àªtre interprétée non seulement comme une reconnaissance de ses hauts mérites, mais aussi comme preuve éclatante de la profondeur des sentiments libéraux et européens qui inspirent le peuple allemand."

Verehrte Anwesende, das europäische Engagement unseres heutigen Karlspreisträgers ist der starke Akzent seines gesamten politischen Wirkens. Sein ceterum censeo, Europam esse integrandam wird immer drängender. Unüberhörbar ist seine Mahnung, die er am 25. Jahrestag der Begründung der Montanunion uns allen mit den Worten zurief:
"Wir haben keine Zeit zu verlieren. Allzu viele Jahre der Geschäftigkeit, aber Unentschlossenheit liegen hinter uns. Die Vorstellung, die politische Einigung werde sich zwangsläufig aus den Fortschritten des wirtschaftlichen Zusammenschlusses ergeben, hat oft genug als Vorwand gedient, um politische Entschlüsse hinauszuschieben. Wie oft haben sogenannte "vitale Fragen" den Gang der Gemeinschaft aufgehalten. Und die meisten sind längst überlebt und vergessen. Vital ist nur eines: die großartigen Möglichkeiten, die uns die Europäische Gemeinschaft und eine wirkliche politische Zusammenarbeit bieten, müssen ergriffen werden."

In der Tat: So großartig die Möglichkeiten der Gemeinschaft sind, so unfaßlich und erschreckend ist die Gefahr, die Zukunft Europas im vielleicht letzten Augenblick der ersten freien und direkten Europawahlen zu verpassen und damit nicht nur die eigene freie Existenz zu verspielen, sondern die großen Verpflichtungen dieses Kontinents gegenüber den anderen Ländern der Erde uneinlösbar zu machen.

Lassen wir mit aller Kraft die verbliebenen Chancen nutzen und alles daran setzen, die kommenden Wahlen zum überzeugenden Votum des Willens der Völker Europas zum demokratischen Aufbau ihrer gemeinsamen freien Zukunft werden zu lassen.

Sie, Herr Bundespräsident, haben sich in Ihrem gesamten politischen Leben diesem Ziel gewidmet und das ganze Gewicht Ihres hohen Amtes hierzu eingesetzt.

Daher hat das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aacheneinstimmig beschlossen, Ihnen den Karlspreis 1977 zuzuerkennen.