Rede von Fernand Dehousse, Präsident der Beratenden Versammlung des Europarates

Rede von Fernand Dehousse, Präsident der Beratenden Versammlung des Europarates

Die Beratende Versammlung des Europarates hat nicht nur einstimmig, sondern durch Zuruf und mit Begeisterung die Einladung der Stadt Aachen und des Direktoriums für den Karlspreis angenommen, bei der heutigen Feier offiziell vertreten zu sein.

Die Straßburger Versammlung rechnet es sich zur Ehre an, daß zu ihren Mitgliedern Sir Winston Churchill gehört hat, der bedeutende Staatsmann, der der Geschichte unserer Zeit einen unauslöschlichen Stempel aufgedrückt hat.

Indessen wird man mir vergönnen, mehr noch als des Staatsmannes, der die Geschicke seines Landes so glanzvoll geleitet hat, in diesem Augenblick des Europäers des heroischen Zeitalters zu gedenken, jenes Mannes, der sogleich, nachdem der Kriegslärm verhallt war, zu einem Vorkämpfer des Europarats wurde.

Sir Winston Churchill hatte mit dem für ihn so bezeichnenden politischen Weitblick sogleich den tiefen Charakter der neuen Institution erkannt. "Wir schaffen keine Maschine", erklärte er vor der Versammlung, "Wir hegen eine lebende Pflanze".

Nach einem Ausspruch eines seiner bedeutendsten Begründer war der Europarat somit berufen, sich den Gegebenheiten anzupassen und aus ihnen heraus die Elemente seines Aufbaues und seiner Weiterentwicklung zu finden.

Ich will nicht auf die Geschichte des Europarates während der letzen Jahre eingehen. Es genügt, sich ins Gedächtnis zu rufen, daß sein Wachstum zart und behutsam gewesen ist und daß man sich bisweilen fragen konnte, ob nicht sogar sein Fortbestehen in Frage gestellt war. Es scheint, als ob heute die Krise überwunden sei. Dieses Ergebnis ist ganz gewiß dem Vorgehen der Außenminister der sechs Staaten und den nunmehr bestehenden Aussichten auf eine Neubelebung des europäischen Gedankens auf dem Gebiet des Gemeinsamen Marktes und der Atomenergie zu verdanken. Aber ebenso gewiß ist, daß die Lebenskraft des Rats sich auf seinem ureigenen Gebiet bewährt hat und daß dies besonders dank der von Grund auf zutreffenden Anlage der Leitgedanken möglich war, die seinerzeit von Sir Winston Churchill verkündet wurden.

Von diesen Leitgedanken möchte ich zwei festhalten, die er unermüdlich mit ungewöhnlicher Energie und Konsequenz immer wieder betont hat.

Zunächst der Gedanke der Unabhängigkeit unserer Versammlung gegenüber den nationalen Regierungen und dem Ministerkomitee des Europarates.

Sir Winston Churchill legte hier eine Sorge für technische Einzelheiten an den Tag, die bei einem so umfassenden Geist, der gewohnt ist, sich den hohen Problemen der internationalen Politik zu widmen, vielleicht überrascht. Aber ist nicht gerade dies das Merkmal des Staatsmannes, das geistige Schrittmaß eines Napoleon zum Beispiel, der mit dem größten Weitblick die ständige Sorge um die Genauigkeit der Ausführung verband?

"Diese Versammlung Europas" sagte er, "(die jetzt eine Entwicklung beginnt, deren Ausmaß niemand voraussehen kann) müßte aus Selbstachtung und auch zur Wahrung ihrer eigenen Sicherheit und Würde über einen eigenen Beamtenstab verfügen."

Und in derselben Rede fuhr er fort: "Wir, wir sind verantwortlich gegenüber all den Kräften, die uns in Europa ins Leben gerufen haben, und ich bestehe auf das Nachdrücklichste darauf, daß die Versammlung an ihre Würde und ihre Dauerhaftigkeit denkt, indem sie sich von Anbeginn ihres Bestehens die umfassendsten Befugnisse in ihren inneren Angelegenheiten gibt und über ein eigenes Sekretariat mit einem Generalsekretär verfügt, dessen Personal kraft ihrer eigenen Befugnis ernannt wird und ausschließlich der Versammlung und ihrem Präsidenten gegenüber verantwortlich ist."

Auch die Bedeutung der Verbindung zwischen der Europäischen Versammlung und den nationalen Parlamenten war Sir Winston Churchill nicht entgangen.

Von Anfang an war er der Auffassung, daß eines der besten Mittel, den Empfehlungen der Versammlung eine günstige Aufnahme zu sichern, darin bestehen würde, daß sie von den nationalen Parlamenten ohne weiteres zu prüfen seien, wenn sie mit Zweidrittelmehrheit angenommen würden. "Es ist für die Zukunft dieser Versammlung von Bedeutung", erklärte Sir Winston Churchill, "daß sie ständig in möglichst enger Berührung nicht nur mit den Regierungen als Trägern der Exekutivgewalt, sondern auch mit allen Institutionen der Volksvertretung steht, die in jeder echten Demokratie die einzigen Grundlagen darstellen, auf denen die Exekutivgewalt der Regierungen sich aufbauen kann... Ich schlage vor, daß meine Kollegen, die hier andere Staaten vertreten, sich zu dem gleichen Zweck der unzähligen verfahrenstechnischen Möglichkeiten bedienen, über die ihre eigenen Parlamente verfügen, und daß wir in dem Bestreben einmütig sind, diese Verfahrensweise anzuwenden, falls nicht oder vielmehr bis die lähmenden Einflüsse, die auf das Ministerkomitee einwirken, überwunden worden oder verschwunden sein werden."

Warum soll man es sich nicht eingestehen? In diesen Worten liegt der Hinweis auf eine fest vorgezeichnete politische Linie, von der die Straßburger Versammlung sich mehr denn je getreulich leiten lassen müßte.

Die Ausführungen von Sir Winston Churchill über die großen Grundsatzprobleme sind zu zahlreich und zu gehaltvoll, als daß man sie andeuten oder auch nur aufzählen könnte.

Seine Rede vom 11. August 1950 über die europäische Armee ist allen noch in Erinnerung. Sir Winston Churchill brachte einen Entschließungsentwurf folgenden Inhalts ein: "Die Versammlung ist in dem Wunsche, ihre Verbundenheit mit den Bestrebungen zur Aufrechterhaltung des Friedens zum Ausdruck zu bringen, entschlossen, die vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eingeleiteten Maßnahmen zur Verteidigung der friedliebenden Völker gegen Aggression zu unterstützen; sie fordert die unverzügliche Schaffung einer vereinigten europäischen Armee, die einer demokratischen europäischen Aufsicht untersteht und im Zusammenwirken mit den Vereinigten Staaten und Kanada handelt."

1950 war das Jahr der Aggression Nordkoreas. Wenn sich auch die internationale Lage seither merklich geändert hat, so sind die gebieterischen Notwendigkeiten der europäischen Verteidigung und der kollektiven Sicherheit nicht verschwunden. Nach dem Scheitern der EVG darf man sich nach wie vor fragen, ob sie im Rahmen der Pariser Verträge vom 23. Oktober 1954 und der WEU eine wirklich befriedigende Lösung gefunden haben.

Eine weitere Rede von Sir Winston Churchill, die in den Annalen der Versammlung ein historisches Datum kennzeichnet, ist jene, in der er den Eintritt des neuen Deutschland in den Europarat befürwortet. Seit diesem Ereignis sind beinahe fünf Jahre vergangen. Indem er seinen Mitbürgern vorauseilte und seine eigenen Gefühle den Gegebenheiten des Europa von heute anpaßte, sollte Sir Winston Churchill wiederum den Weg zu einer notwendigen und heilsamen Entscheidung öffnen.

Hatte sich Sir Winston Churchill im übrigen nicht schon seit 1946 zum Vorkämpfer der Annäherung, der Aussöhnung Frankreichs und Deutschlands gemacht? Schon in seinen Reden von Zürich und Fulton zeichnete sich die Haltung in dieser Frage ab, die er später im Europarat einnehmen sollte.

So ruht also in der Sicht dieses überragenden britischen Staatsmannes das tragende Fundament jedes europäischen Aufbaues auf ausgeglichenen Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland. Die Richtigkeit dieses Axioms ist augenfällig. Man kann sich ebensowenig ein Europa vorstellen, das ohne Deutschland gebaut würde, wie man sich ein Europa vorstellen könnte, das in seinen Errungenschaften von morgen auf Frankreich verzichten würde.

Solche Lehren sind große Lehren. Wenn Europa sie beachtet, besteht kein Zweifel, daß es aus ihnen heraus den Weg finden wird, der zur Einmütigkeit, zum Wohlstand, zum Frieden führt.

(auf Deutsch) Und da ich nun gerade diese erhabenen Perspektiven aufzeige, möchte ich ganz besonders eine von denjenigen Persönlichkeiten erwähnen, die zur Konsolidierung Europas, des Westens und der freien Welt einen wesentlichen, auf bewährter politischer Klugheit sich gründenden Beitrag leisten: ich meine dabei den Herrn Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer, der es sich nicht hat nehmen lassen, diese Feier mit seiner Anwesenheit zu beehren.

(Fortsetzung Französisch) Wenn ich nachher in meine Heimatstadt zurückkehre, werde ich über eine Straße fahren, an die sich tragische Erinnerungen knüpfen. Wenn endlich einmal die Generationen von morgen diese Straße in der heiteren Zuversicht des Friedens benutzen können, werden sie es zum großen Teil den Baumeistern des neuen Europa verdanken - Männern, wie Sir Winston Churchill einer ist.