Rede von Dr. Heinrich von Brentano, Bundesminister des Auswärtigen

Rede von Dr. Heinrich von Brentano, Bundesminister des Auswärtigen

Herr Oberbürgermeister!
Herr Präsident Schuman!
Meine Damen und Herren!

Es ist mir eine aufrichtige Freude, heute hier im alten Rathaus der Stadt Aachen Ihnen, hochverehrter Herr Präsident Schuman, aufrichtige und herzliche Glückwünsche anläßlich der Verleihung des Karlspreises der Stadt Aachen zu übermitteln. Dabei muß ich Ihnen wohl kaum ausdrücklich sagen, wie sehr es der Herr Bundeskanzler bedauert, Ihnen diese Wünsche nicht persönlich aussprechen zu können.

Meine Grüße gelten aber gleichzeitig auch den anderen Trägern des Karlspreises, die heute hier anwesend sind, dem Grafen Coudenhove-Kalergi, den Herrn Präsidenten Monnet und Herrn Professor Brugmans. Und ich schließe in diese Grüße auch die Anwesenden ein: Sir Winston Churchill, den Präsidenten Paul Henri Spaak und den Bundeskanzler Adenauer. Demjenigen Träger des Karlspreises, der seine Augen schon geschlossen hat, dem früheren italienischen Ministerpräsidenten Alcide de Gasperi, möchte ich ein besonderes Wort des Gedenkens widmen in Erinnerung an die enge Zusammenarbeit, aber auch an die aufrichtige menschliche Freundschaft, die diesen großen Europäer mit Ihnen und dem Bundeskanzler Adenauer verbunden hat.

In Ihnen, Herr Präsident Schuman, hat die Wahl einen Mann getroffen, der uns Deutschen mehr ist als nur ein großer Staatsmann eines Nachbarlandes und ein Mensch echter europäischer Gesinnung. Die Wahl traf in Ihnen, wenn ich dies so sagen darf, einen echten Freund – einen persönlichen Freund nicht nur vieler derer, die heute in dieser Versammlung sitzen, sondern auch einen Vertrauten und Freund des deutschen Volkes schlechthin. Die Wärme der Begrüßung, die Ihnen nicht nur in diesem Festsaal, sondern überall in der Stadt Aachen und überall, wo Sie sich in Deutschland bewegen, zuteil wird, ist spontaner Ausdruck echter Empfindung. Sie sind – wie kaum je ein anderer ausländischer Staatsmann – in Deutschland eine populäre, ja eine verehrte Figur.

Dies alles geht ja auf jene historische Stunde des 9. Mai 1950 zurück, da die von Ihnen geführte französische Regierung der Welt verkündete, daß sie beschlossen habe, den Versuch zu unternehmen, die Beziehungen der europäischen Völker untereinander auf eine ganz neue Basis zu stellen, indem jedes unter ihnen zu Gunsten eines gemeinsamen Ganzen einen Teil seiner Souveränität aufgeben solle. Sie, Ihre Regierung und Ihr Land haben damals ein neues Kapitel in dem Buch der Geschichte aufgeschlagen.

Wohl nirgends fand der Appell der französischen Regierung spontaneren Beifall als in der Bevölkerung des besiegten, besetzten und zerstückelten Deutschland, dem die Regierung einer der Siegermächte die Hand zur engen Zusammenarbeit reichte. Damals tat sich vor uns zum ersten mal ein Tor auf, das aus den leidvollen und schuldvollen Verstrickungen der Vergangenheit in eine hellere Zukunft zu führen schien. Dieser Vision, die Sie uns damals geschenkt haben, und die nunmehr Schritt für Schritt zur Wirklichkeit wird, verdanken Sie, Herr Präsident Schuman, Ihre große und echte Popularität in meinem Lande.

Ich möchte hier die Worte zitieren, mit denen die Erklärung der französischen Regierung vom 9. Mai 1950 begann: ?Der Friede der Welt kann nicht gewahrt werden ohne schöpferische Anstrengungen, die der Größe der Bedrohung entsprechen. Der Beitrag, den ein organisiertes und lebendiges Europa für die Zivilisation leisten kann, ist unerläßlich für die Aufrechterhaltung friedlicher Beziehungen.? Dies war am 9. Mai 1950. Wenige Wochen später – am 25. Juni 1950 – brach der koreanische Krieg aus, der Europa und der Welt noch einmal mit erschreckender Deutlichkeit die Gefahren aufzeigte, in denen wir leben. Es tut der Größe Ihrer Idee keinen Abbruch, wenn ich sage, daß diese Gefahren, diese Bedrohung nicht unwesentlich dazu beigetragen haben, unsere Anstrengungen zu fördern und unseren Erfolg zu beschleunigen. Dank Ihres Glaubens an Ihre Idee und dank Ihrer konzilianten und doch festen Verhandlungsführung konnte es bald zu dem Abschluß des Vertrages über die Montanunion kommen, jenes Vertrages, der – jedenfalls im deutschen Sprachgebrauch – als ?Schumanplan? immer Ihren Namen tragen wird. Sie hatten die Genugtuung, noch als französischer Außenminister an der Ingangsetzung des Vertragswerkes und an der Einsetzung der neuen europäischen Organe aktiv mitwirken zu können.

Inzwischen hatten Ihre europäischen Ideen auch auf anderen Gebieten Früchte getragen. Ich erinnere mich, wie Sie im Mai 1952 zur Unterzeichnung des Deutschlandvertrages nach Bonn kamen und wie Sie am Tage darauf als französischer Außenminister in Paris Ihre europäischen Kollegen zur Unterzeichnung des Vertrages übe die Europäische Verteidigungsgemeinschaft begrüßten. Es lag nicht an Ihnen, daß dieser Vertrag nicht Wirklichkeit wurde, und es lag auch nicht an Ihnen, daß nicht alle Ideen, an denen wir seinerzeit im Verfassunggebenden Ausschuß für eine Europäische Politische Gemeinschaft gearbeitet haben, Wirklichkeit geworden sind. Rückschläge gehören zum Wesen der Politik, wie sie zum Leben des Einzelnen gehören. Es schiene mir etwas nicht richtig an der europäischen Idee, wenn sie sich ohne Rückschläge und ohne Enttäuschung verwirklichen ließe. Das Ideengut, das in jenen Verträgen und Vertragsentwürfen eingebettet war, ist auch nicht unfruchtbar geblieben. Es wirkt in zahllosen Formen und an zahllosen Stellen weiter und leistet so einen Beitrag zu dem Bau eines geeinten Europa.

Als auf der Konferenz von Messina dem europäischen Integrationsstreben ein neuer starker Impuls gegeben wurde, standen Sie, Herr Schuman, nicht mehr in der Führung der französischen Außenpolitik. Aber Sie waren auch in jenen entscheidenden Jahren aktiv; Sie haben nicht einen Augenblick aufgehört, beharrlich – in welcher Stellung auch immer – an der Verwirklichung Ihrer Ideen zu arbeiten, sei es als Mitglied der Französischen Nationalversammlung, sei es als Mitglied der Französischen Regierung. Es war deshalb einen gute Entscheidung, als am 19. März die Gemeinsame Versammlung der Europäischen Gemeinschaften Sie auf ihrer konstituierenden Tagung zu ihrem Präsidenten wählte. Weniger als acht Jahre nach Ihrem ersten Vorschlag zur Gründung einer Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl waren Sie damit an die Spitze des ersten europäischen Parlaments gestellt worden. Ich weiß nicht, ob Sie damals im Mai 1950 diesen Gang der Dinge vorausahnen konnten. Mir will es rückblickend erscheinen, als sei diese Entwicklung trotz aller Rückschläge und Enttäuschungen erstaunlich rasch und unerwartet positiv verlaufen. Wir haben daher heute allen Grund zu dankbarer Besinnung.

Die Tatsache, daß Sie in jenes hohe Amt einstimmig gewählt wurden von den Vertretern aller Nationen und aller Parteien, mag Ihnen bewiesen haben, daß Ihr Wollen und Ihr Wirken über alle Landes- und Parteigrenzen hinweg Anerkennung gefunden hat.

Dabei werden Sie uns in der Zukunft wie in der Vergangenheit Vorbild und Mentor bleiben: Als einer der ersten europäischen Staatsmänner haben Sie nicht nur erkannt, sondern hatten Sie auch den Mut, offen zu sagen, daß es eine Zukunft für Europa überhaupt nur dann gibt, wenn das Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland auf eine grundsätzlich neue Basis gestellt werden kann. Ohne eine enge Zusammenarbeit, ohne ein aufrichtiges gegenseitiges Verstehen dieser beiden Völker und ihrer Regierungen ist jeder Versuch der Einigung Europas von vornherein zum Scheitern verurteilt. Dieser Gedanke ist und bleibt daher Richtschnur der Politik der Bundesregierung.

Wir wollen wie Sie, Herr Präsident Schuman, dieses neue Europa nicht als eine Notgemeinschaft auf Zeit, als eine Art befristetes Bündnis verstanden wisse, das wieder hinfällig wird, wenn der äußere Druck und die äußere Gefährdung nachlassen. Das geeinte Europa ist für uns wie für Sie ein Ziel in sich. Gestatten Sie mir, daß ich hier einige Worte zitiere, die Sie selbst im September 1953 ausgesprochen haben: ?Europa muß eine Gemeinschaft von Nationen werden, von denen zwar jede ihr Eigenleben führt, die sich aber doch zu einer gemeinsamen defensiven und konstruktiven Leistung vereinigen. Dabei handelt es sich nicht um eine zeitbedingte und provisorische Lösung, die nur dazu bestimmt wäre, einer außergewöhnlichen Gefahr zu begegnen, oder eine Bresche in der Verteidigungslinie auszufüllen. Das Problem Europas ist nicht abhängig von der kommunistischen oder asiatischen Gefahr, nur daß durch diese Gefahr seine Lösung so dringen wird.?

Schon in der ersten Erklärung der französischen Regierung vom 9. Mai 1950 war der beherrschende Gedanke der, daß die Einigung Europas um des Friedens willen nötig sei. Diesem Gedanken hat ein anderer Träger des Karlspreises, der frühere belgische Ministerpräsident und jetzige Generalsekretär der NATO Paul Henri Spaak hier an dieser selben Stelle vor Jahresfrist Ausdruck gegeben: "Über alle Grausamkeiten dieses Konfliktes hinweg, über alle Leidenschaften hinweg, die er entfesselt hatte und die uns trennten, haben wir nach und nach das Bewußtsein dessen erlangt, daß dieser europäische Krieg, der Nationen gegen Nationen hetzte, nicht anderes war als die schreckliche Form eines Bürgerkrieges. Denn der allein Unterlegene des zweiten Weltkrieges war unzweifelhaft ganz Europa."

Die Europäische Gemeinschaft soll aber nicht nur dem Frieden unter ihren Mitgliedern, sondern auch dem Frieden nach außen dienen. Sie bedroht niemanden, und sie ist gegen keine andere macht gerichtet. Aber indem sie der Zerklüftung Europas ein Ende setzt, gebietet sie dem Machtstreben uns wesensfremder totalitärer Systeme mit friedlichen Mitteln Einhalt.
Im März 1953 haben Sie in einem Gespräch mit einem bekannten dänischen Journalisten einmal wie folgt formuliert: ?Ich bin fest davon überzeugt?, so sagten Sie damals, ?daß das, was einmal ein schöner Traum war, nun Schritt für Schritt europäische Wirklichkeit wird. Es wäre jedoch ein sehr gefährliches Fehlurteil, wenn man glauben würde, daß alles auf einen Schlag möglich sei. Daher haben wir auch eine fragmentarische Methode vorgezogen, da heißt, wir haben Schritt für Schritt auf einzelnen praktischen Gebieten einen Anfang gemacht, der, objektiv beurteilt, als gelungen bezeichnet werden kann. Das Ganze ist eine Maurerarbeit: Stein auf Stein, und zum Schluß steht das Haus fertig. Unser Traum wäre niemals in Erfüllung gegangen, wenn wir sofort die Organisierung der Vereinigten Staaten von Europa in Angriff genommen hätten.?


In diesem Sinne wollen wir nun das begonnene Werk fortsetzen. Wenn wir heute schon hier mit Stolz und Dankbarkeit auf das Erreichte zurückblicken können, so dürfen wir doch nicht vergessen, daß wir bis jetzt nur einem Teil unseres europäischen Vaterlandes Frieden, Freiheit und Wohlstand zu sichern vermochten. Noch leben mehr als die Hälfte aller Europäer außerhalb jenes Bereiches, in dem wir heute unsere europäischen Institutionen errichtet haben – die einen, weil sie sich aus mancherlei Gründen noch nicht entschließen konnten, sich uns anzuschließen, die anderen – dies ist uns besonders schmerzlich im Bewußtsein – weil sie gegen ihren Willen daran gehindert werden, sich mit uns zu vereinen. Seinen vollen, stolzen Klang wird der Name Europa aber erst dann haben, wenn alle die, die sich uns zugehörig fühlen, in einer freiheitlichen Ordnung und in gesichertem Frieden mit uns zusammenarbeiten. Das ist das große Ziel, zu dem wir uns, gemeinsam mit Ihnen, verehrter Präsident Schuman, bekennen.