Rede von Karl Arnold, Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen

Rede von Karl Arnold, Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen

Sehr verehrter Herr Bundeskanzler!
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister!
Meine Damen und Herren!

Den Worten des Dankes und der Freude über die diesjährige Verleihung des Karlspreises an den deutschen Bundeskanzler schließe ich mich in herzlicher Weise an. Ich verbinde damit gleichzeitig die aufrichtigen Glückwünsche des Landes Nordrhein-Westfalen.

Der Preis, der nunmehr zum 5. Male verliehen worden ist, ruft die Erinnerung wach an den großen Kaiser, den wir als geistigen Vater und tatkräftigen Gestalter des Abendlandes bezeichnen. Den nachfolgenden Generationen, vor allem aber der heute lebenden Generation gebührt sicher kein Preis dafür, wie sie das gewaltige Erbe dieses Mannes verwaltet haben, der damals die neuen Lebensgrundlagen unseres Kontinentes aus einer glücklichen Verbindung der Antike mit dem Christentum geschaffen hat. Die Besinnung auf diesen Schöpfer des neuen europäischen Reiches, der hier im Aachener Dom seine letzte Ruhestatt gefunden hat, muß daher wie eine aufrüttelnde Ermahnung wirken, der weiteren Verschleuderung dieser einst reichen Erbschaft ein Ende zu setzen. Alle sollen aufgerufen werden, den Persönlichkeiten in Europa zu folgen, die dieses Ziel erreichen wollen, um dadurch dem drohenden Ruin des Abendlandes mit Erfolg zu begegnen.

Es gibt heute wohl keinen einsichtigen Menschen in Europa, der annimmt, unser Kontinent könne Bestand haben, wenn sich die europäischen Staaten nicht endlich zusammenfinden. Gegen diese Erkenntnis stemmen sich jetzt nur noch die ewig Gestrigen. Sie sind trotz dem ungeheuren Wandel der Zeit in einer überholten Vergangenheit stecken geblieben. Mit ihnen ist schwer zu rechten, da ihre Denkweise durch Abneigung und Ressentiments und nicht durch ruhige und zukunftsweisende Überlegungen bestimmt wird.

Für alle anderen aber, denen Europa kulturell und als Verkörperung einer freiheitlichen Lebensform etwas bedeutet, sollte es Meinungsverschiedenheiten nur noch darüber geben, wie ein solcher Zusammenschluß zuwege gebracht werden kann. Aber täuschen wir uns nicht. Die Erkenntnis dessen, was die Stunde verlangt, mag seit langem Allgemeingut der großen Mehrheit der Europäer sein. Trotzdem befinden wir uns gar manchmal in einem Wellental von Kleinmut und Defaitismus. Die Skepsis, ob das große Ziel je erreicht werden kann, findet man nicht selten in den Schichten, die die Verantwortung für ein neues Europa tragen. Man spricht von einer Europamüdigkeit in den Parlamenten und den Regierungen. Hinzu kommt das Mißvergnügen der schon zu lange vertrösteten und enttäuschten Völker. Hier bietet sich den Gegnern des europäischen Zusammenschlusses ein idealer Boden, auf dem neues Mißtrauen zwischen den Nationen Europas gesät werden kann. Man sagt uns, es sei bisher nichts geschehen, was uns dem Ziele näher brächte. Man erklärt, die Gegensätze in Europa seien unüberbrückbar. Man bezeichnet die Persönlichkeiten, die unbeirrt das Ziel des europäischen Zusammenschlusses anstreben, als weltfremde Idealisten.

Ist tatsächlich bisher nichts geschehen? Sicher nicht genug, um uns zu gestatten, die Hände beruhigt in den Schoß zu legen. Immerhin sind aber Einrichtungen geschaffen worden, die aus unserem Gegenwartsbewußtsein nicht mehr wegzudenken sind. Ich denke an den Europäischen Wirtschaftsrat in Paris, an den Europarat in Straßburg, an die Montanunion in Luxemburg. Gewiß, der Europäische Wirtschaftsrat hat noch kein einheitliches europäisches Wirtschaftsgebiet geschaffen, die Beratende Versammlung in Straßburg ist noch keine europäische Legislative und der Ministerrat noch keine europäische Regierung. Zum ersten Male aber haben sich Volksvertreter der freien europäischen Staaten zu gemeinsamer Arbeit zusammengefunden. Dieser Vorgang wäre der letzten Generation als Utopie erschienen. Die Unzufriedenheit, die vielfach über die zögernde Haltung des Ministerrates laut geworden ist, mag sich als Ansporn für die künftige Entwicklung erweisen. Auch die Montanunion hat manche Erwartungen noch nicht erfüllt. Wer aber konnte ernsthaft glauben, daß in weniger als zwei Jahren alle Probleme gelöst werden könnten?

Erinnern wir uns der deutschen Geschichte. Es gehört viel Naivität dazu, anzunehmen, der deutsche Bundesstaat sei von einem auf den anderen Tag durch nationalen Elan geschaffen worden. Dieser Bundesstaat ist trotz eines Übermaßes an Enttäuschungen und gegen einen Strom von Skepsis schließlich doch zustande gekommen, weil das damalige Geschlecht in seinem Streben nach Zusammenschluß nicht nachgelassen hat. Ich wage zu behaupten, es hat eines größeren Aufwandes an Zähigkeit und Geduld bedurft, den deutschen Bundesstaat zu schaffen über die Etappen des Frankfurter Bundes, über den Deutschen Zollverein und über das Parlament der Paulskirche, als der Zusammenschluß Europas erfordern wird.

Die Gegensätze im freien Europa seien unüberbrückbar, sagt man uns. Nun, da bietet sich ein Mittel an, die Gegensätze zu überwinden. Kanada war durch ewige Kämpfe zwischen Franzosen und Briten zermürbt. Der Zusammenschluß in einer Föderation hat in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts diese Schwierigkeiten ausgeräumt und Kanada zu dem aufstrebenden Staat gemacht, der sich die Achtung und Bewunderung der Welt erwarb.

Aber man fürchte sich vor Hegemonie, sagt man uns weiter. Ist nicht auch dagegen der föderale Zusammenschluß das beste Mittel gewesen? Das Beispiel Kanadas, das Beispiel Australiens beweisen es.

Die Völker Europas bedürfen aber nicht allein aus außenpolitischen Gründen des Zusammenschlusses, um vereint ihre Sicherheit und Existenz bewahren zu können. Wie sieht es denn innenpolitisch aus? Bedürfen sie nicht auch aus inneren Gründen einer gegenseitigen Unterstützung und eines sicheren Halts, um ihr politisches, soziales und geistiges Gefüge zu erhalten? Wie anders bestände für sie eine Hoffnung, ihre innere Labilität zu überwinden. Denken wir wiederum an unsere eigenen Erfahrungen. Nie wäre es in Deutschland zu einer Machtergreifung der Verneiner christlicher Kultur und europäischer Gesittung gekommen, wenn der Plan des europäischen Zusammenschlusses, den Briand und Stresemann konzipiert hatten, schon Wirklichkeit geworden wäre. Wieviel Schreckliches wäre uns und der Welt dadurch erspart geblieben? Es ist wirklich an der Zeit, daß wir aus den großen Versäumnissen der Vergangenheit lernen.

Es mag in der Vergangenheit unter den Regierenden sicher nicht an gutem Willen, klarer Erkenntnis und auch nicht an Tatkraft gefehlt haben. An einem aber haben sie schweren Mangel gelitten: an der Entschlußkraft, ein als richtig erkanntes Ziel allen Widerständen zum Trotz zäh zu verfolgen - wie Grillparzer einmal schrieb: Man sage nicht, am schwersten sei die Tat; da hilft der Mut, der Augenblick, die Regung. Das schwerste dieser Welt ist der Entschluß.

Man kann das Direktorium der Gesellschaft des Internationalen Karlspreises der Stadt Aachen zu der Auswahl des diesjährigen Preisträgers nur aufrichtig beglückwünschen, der die Eigenschaften in sich verkörpert, an denen wir in Deutschland so fühlbaren Mangel gelitten haben.

Sehr verehrter, lieber Herr Bundeskanzler!
Niemand wird bestreiten wollen und bestreiten können, daß Ihnen die seltene staatsmännische Gabe in hohem Maße zuteil geworden ist, hartnäckige Ausdauer und überlegene Geduld bei der Verfolgung eines als richtig erkannten Zieles miteinander zu verbinden. Ich glaube, daß es für die weitere Entwicklung auf unserem Kontinent von unschätzbarem Wert ist, daß diese Ausdauer und diese Geduld der Erreichung eines Zieles dienen, für dessen Förderung der Karlspreis gedacht ist. In den Jahren harter Aufbauarbeit für Deutschland, der ein so großer Erfolg beschieden gewesen ist, haben Sie, Herr Bundeskanzler, sich durch Rückschläge und Enttäuschungen nicht entmutigen lassen, sondern Kraft zu immer neuen Ansätzen gesucht und gefunden, damit dieser Aufbau Deutschlands auch den Familien der freien europäischen Völker zum Segen werde.

Der Erreichung dieses gemeinsamen Zieles gelten alle unsere Hoffnungen und alle unsere herzlichsten Wünsche.