Rede des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen, Hermann Heusch

Rede des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen, Hermann Heusch

Mehr als 17 Jahre sind vergangen seit der Gründung des Internationalen Karlspreises der Stadt Aachen. Am 18. Mai 1950 hat mein Vorgänger im Amt, Herr Dr. Albert Maas, ihn zum ersten Male in feierlicher Form hier in diesem Saale dem Manne übergeben, der schon nach dem ersten Weltkriege - leider vergebens - den Ruf nach Europas Einigung erhoben hatte, dem Grafen Richard Coudenhove-Kalergi. Seit jenem, für alle, die ihn miterlebten, denkwürdigen Tage, hat sich dies gleiche Zeremoniell hier zwölf Male wiederholt. Heute haben wir uns versammelt, um einmal mehr einem verdienten Manne zu akklamieren, dem die Ehre dieses Preises zuerkannt werden soll. Ihm gilt unser erster Gruß:
Dem niederländischen Außenminister Dr. Joseph Luns,
den wir herzlich willkommen heißen.

Neben ihm begrüßen wir die Karlspreisträger früherer Jahre, und zwar an erster Stelle
Graf Rich. Coudenhove-Kalergi, Karlspreisträger 1950,
Professor Hendrik Brugmans, Karlspreisträger 1951,
Ehrenstaatsminister Dr. Joseph Bech, Karlspreisträger 1960,
den ehemaligen britischen Europaminister The Rt. Hon. Edward Heath, Karlspreisträger 1963,
über deren Erscheinen wir sehr beglückt sind.
Ich begrüße weiterhin: ... (Anmerkung des Herausgebers: Der Begrüßungsteil der Rede ist nicht überliefert.)

Der Beginn dieser Feierstunde lenkt die Gedanken vieler, die hier versammelt sind, zurück zum Himmelfahrtstage 1954, an dem hier an gleicher Stelle der damalige Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, Dr. Konrad Adenauer, den Internationalen Karlspreis der Stadt Aachen entgegennahm. Gestern vor 14 Tagen, am 19. April 1967, hat Konrad Adenauer die Schwelle zur Ewigkeit überschritten. Die Teilnahme der gesamten Weltöffentlichkeit an diesem Ereignis, die Anwesenheit von mehr als 20 Regierungschefs aus der freien Welt bei den Trauerfeierlichkeiten war Beweis für die hohe Einschätzung seiner Person und seines Werkes. In Würdigung seines unbeirrbaren Einsatzes für die Einigung Europas habe ich 1954 gesagt: ""Eines ist uns Gewißheit: solange seine Stimme vernehmbar ist unter den Staatsmännern der Gegenwart wird sie nicht müde werden mit aller Eindringlichkeit zu künden von der Notwendigkeit des Zusammenschlusses der Völker Europas, er wird nicht aufhören, seine ganzen staatsmännischen Fähigkeiten, die kraft seines Geistes und das Gewicht seiner Persönlichkeit für dieses hohe Ideal einzusetzen." Nachbetrachtend dürfen wir heute sagen, daß er diese in ihn gesetzte Erwartung voll erfüllt hat und sich selbst treu geblieben ist. Wenige Wochen vor seiner tödlichen Erkrankung hat er nach Ablauf von dreizehn Jahren, in denen er nicht müde geworden war, gleichsam als "ceterum censio" immer wieder auf die Dringlichkeit seiner Forderungen zurückzukommen, am 16. Februar d. J. in Madrid gesagt: "In unserer Epoche dreht sich das Rad der Geschichte mit ungeheurer Schnelligkeit. Wenn der politische Einfluß der europäischen Länder weiterbestehen soll, muß gehandelt werden. Wenn nicht gleich die bestmögliche Lösung erreicht werden kann, so muß man eben die zweit- oder drittbeste nehmen. Wenn nicht alle mittun, dann sollen die handeln, die dazu bereit sind. Man sollte nicht allzu großen Wert auf die Form eines solchen Zusammenschlusses legen. Ob nun eine Föderation oder Konföderation entsteht, oder welche Rechtsform es immer sein mag: Handeln, anfangen ist die Hauptsache."
Beim Staatsakt im Deutschen Bundeshaus hat Bundeskanzler Kiesinger in ergreifender Weise berichtet von seinem letzten Gespräch mit dem Heimgegangenen, das geprägt war von der großen Unruhe, die ihn ergriffen angesichts der ihm ungenügend erscheinenden Fortschritte des europäischen Einigungswerkes. Uns Zurückgebliebenen hat er dieses Vermächtnis hinterlassen, Gott gebe uns die Kraft und die Weisheit, es zu erfüllen.
Der ehrwürdige Saal, in dem wir uns - wie alljährlich - zu festlicher Stunde versammelt haben, gibt mir Veranlassung, eines Ereignisses zu gedenken, das gewiß keine weltweite Bedeutung hat, das aber einen neuen Akzent für den über die Grenzen des eigenen Landes hinaus greifenden Willen der Bevölkerung dieser Stadt gesetzt hat. Die schon lange existente vertrauensvolle und vorbehaltlose Zusammenarbeit mit unseren belgischen und niederländischen Nachbarn, mit den Städten Lüttich und Maastricht, hat eine dem Geiste und der Geschichte Aachens gemäße Erweiterung durch seine offizielle Verschwisterung mit der ruhmreichen Stadt Reims gefunden. Am Festtage Karls des Großen 1967 haben wir hier in diesem Raume eine Delegation der Stadt Reims empfangen und der durch Beschluß der Räte beider Städte begründeten Verschwisterung Brief und Siegel gegeben. Wir haben dies in klarer Erkenntnis der Symbolkraft des Miteinander zweier Städte getan, in denen, durch Jahrhunderte häufig wiederholt, die Krönung eines Staatsoberhauptes begangen wurde, dem mit dieser Krönung fast automatisch der Auftrag erteilt wurde, Haupt und Anführer zu sein eines der beiden großen Rivalen im Anspruch auf die Macht im Spiel der Kräfte Europas. Unterzeichnet wurde das Dokument der Verschwisterung unter der zum Aachener Domschatz gehörenden Büste des großen Kaisers, die mit den französischen Lilien und dem deutschen Adler verziert ist. Die Überlieferung führt sie auf den am Hof der französischen König erzogenen hier in Aachen gekrönten deutschen König Karl IV aus dem Hause der Luxemburger zurück. Mit großer Freude erinnern wir uns dieser Tage, ist doch auch in der neuesten Geschichte der Name der Stadt Reims verknüpft mit jener Reise des Bundeskanzlers Adenauer zu den französischen Nachbarn, die ihm gerade dort spontane Beweise einer neu aufgeblühten Freundschaft unserer Völker gaben, die den französischen Staatspräsidenten zu der Äußerung veranlaßten: "Wir haben ein großes für die Union Europas unerläßliches Werk vollbracht, das für den Frieden und die freie Welt seine Früchte tragen muß." Wir Aachener geben uns der Hoffnung hin, daß die freundschaftlichen Bande, die uns mit der Krönungsstadt der französischen Könige verbinden, zu einer großen Breitenwirkung gelangen werden, die zu ihrem Teil das zu festigen helfen, was die beiden Staatsmänner so vielversprechend begonnen.
Der Tag der Verleihung des Internationalen Karlspreises ist dem Aachener Bürger Feiertag, den er in gespannter Aufmerksamkeit erwartet, an den er Hoffnungen knüpft, nicht für seine Stadt, sondern für den Frieden und die Wohlfahrt Europas, für dieses Europa, das heute Verantwortung mitzutragen hat für die weltweite Familie der Völker. Vor wenigen Wochen sind uns Art und Umfang dieser Verantwortung und Verpflichtung in ernster und eindrucksvoller Weise vor Augen geführt worden, durch die Enzyklika Papst Pauls VI, die unter dem Titel "Populorum progressio" in die Welt gegangen, heute schon nicht mehr aus dem Katalog der moralischen Substanz unserer Zeit wegzudenken und in die Zukunft hineinzuwirken bestimmt ist. Als Sitz des unter dem Namen "Misereor" bekannt gewordenen Hilfswerks der deutschen Bischöfe ist Aachen mit der Substanz dieser Gedankengänge vertraut, die heute die Staatsmänner allüberall beschäftigen und mit Sorge erfüllen. Die Größe der Aufgabe vermögen die Wissenschaftler, die in ihrem Wirken an der hiesigen Technischen Hochschule fast alltäglich mit den Verhältnissen in den überseeischen Ländern konfrontiert werden, sicherlich mehr als die meisten von uns zu erahnen. Soviel vermögen wir alle aber schon zu erfassen: wenn wir geben und helfen sollen, dann müssen wir uns dazu entschließen, uns sehr präzise Gedanken darüber zu machen, in welcher Form das geschehen kann, ohne die Grundlagen der eigenen Leistungsfähigkeit zu unterminieren. Erinnern wir uns auch an das, was in den Jahren 1939-1945 sich hier abgespielt, wie wir unbezifferbare Werte mutwillig und frevelhaft zerstört und schließlich, bis ins tiefste Mark getroffen, nicht mehr imstande waren, für uns selbst zu sorgen, hilfsbedürftig bis zum Letzten. Was wäre wohl aus uns geworden, hätten damals nicht weitsichtige Staatsmänner in den Vereinigten Staaten von Amerika die notwendige Starthilfe geleistet und damit gerade uns Deutschen gegenüber, nach allem was vorhergegangen, eine moralische Größe an den Tag gelegt, die nicht so schnell vergessen werden sollte. Dieser entscheidende Beitrag zur Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit Europas und damit indirekt zu seiner Neuorganisation, ist im Jahre 1959 durch die Verleihung des Karlspreises an George Marshall, die infolge seiner Erkrankung nicht mehr hier festlich begangen werden konnte, in Dankbarkeit gewürdigt worden. Inzwischen haben wir herausgefunden aus dem Stadium der Hilflosigkeit, aber die Erinnerung an das Gewesene sollte uns zu der Einsicht zwingen, daß wir schon allein aus unserer Verpflichtung anderen, materiell weniger glücklichen Völkern gegenüber gar nicht mehr das Recht haben, mit unseren eigenen materiellen und moralischen Hilfsquellen mutwillig oder auch nur gedankenlos umzugehen. Fast könnte man annehmen, die Baumeister des Gemeinsamen Marktes, die mit soviel Sachverstand und Weitblick das Vertragswerk geschaffen, dessen Unterzeichnung in Rom sich im Monat März d. J. zum 10. Male jährte, wären damals schon den Gedankengängen Papst Paul VI und seiner Enzyklika "Populorum progressio" vorausgeeilt.
Wollen wir europäischen Industriestaaten erst einmal dafür gerüstet sein, den Anforderungen auch nur zu einem bescheidenen Teil nachzukommen, die den Vorstellungen des Papstes entsprechen, dann kann das nur geschehen, indem wir unsere materiellen Hilfsquellen neu organisieren, straffen und zusammenfassen, so wie die Römischen Verträge das vorsehen. Wir stehen vor der bedeutungsvollen Tatsache, daß am 1. Juli 1968 die in den Verträgen vorgesehene Zollfreiheit im internen Verkehr der Sechsergemeinschaft Tatsache wird. Der zum gleichen Zeitpunkt in Kraft tretende gemeinsame Außentarif ist dazu bestimmt, auch Drittländern gegenüber eine liberale Außenhandelspolitik zu treiben und dadurch weitere günstige Voraussetzungen für eine Ausweitung weltweiten wirtschaftlichen Austauschs zu bieten. Der Vertrag von Yaounde schafft dabei besonders vorteilhafte Bedingungen für eine Reihe afrikanischer Staaten. Im Mittelpunkt des Interesses der Weltöffentlichkeit steht gerade jetzt auch das in Genf geführte Gespräch, die sogenannte Kennedy-Runde, von dessen gutem Ausgang sehr viel für den Welthandel in den nächsten Jahren abhängt.

Man kann immer wieder hören, daß der mit den Einzelheiten weniger vertraute Beobachter meint, durch die gänzliche Aufhebung der Zölle und den gemeinsamen Außentarif würde nun zum 1. Juli nächsten Jahres ein gemeinsamer Markt umfassende Wirklichkeit.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich dazu etwas aus der Optik der Grenzstadt sagen: Wir werden uns auch nach dem 1. Juli 1968 unverändert an den Anblick des Heeres von Beamten an den Grenzübergängen dieser "Gemeinschaft" erfreuen, die in treuer Pflichterfüllung gar nicht anderes tun, als den zwischenstaatlichen Verkehr behindern. Es gibt weiter die Kontrolle des Personenverkehrs und es gibt weiter die Abfertigung im Warenverkehr, und wenn die Beamten den verdienten Feierabend haben, dann gibt es weiter die Schlangen von Lastkraftwagen, die unsere Straßen blockieren, weil sie über Nacht oder über das Wochenende warten müssen, bis die Abfertigung wieder beginnt. Es dauert auch der groteske Zustand an, daß der Spaziergänger im Aachener Wald in 3-4 km Entfernung von diesem Hause sich - wenn er den Weg verfehlt und dabei auf belgisches Hoheitsgebiet gelangt - strafbar macht, weil er - wie es so schön im Behördendeutsch heißt - "keine amtlich zugelassene Grenzübergangsstelle" passiert hat. Ich glaube Sie werden mit mir darin übereinstimmen, daß man in dieser Hinsicht nicht von "populorum progressio" sprechen kann. Wir leisten uns hier noch mitten in dem sich fortschrittlich dünkenden Europa einen Aufwand, der den Erfordernissen dieser Zeit Hohn spricht.
Die Nähe der Grenze der Nachbarländer läßt uns auch in anderer Hinsicht erkennen, daß die gänzliche Zollfreiheit - so erfreulich sie sein mag - die Lösung anderer Probleme zum dringenden Gebot erhebt, wenn die Beteiligten nicht durch diese Zollfreiheit mit nicht unerheblichen Schwierigkeiten belastet werden sollen, Erschwernisse, die gerade der grenznahen Wirtschaft besonders ins Auge fallen. Was unbedingt und zwar mit großer Dringlichkeit kommen muß, das ist, um nur einiges zu nennen: eine gemeinsame Verkehrspolitik, die Angleichung der Steuersysteme und anschließend auch der Steuersätze, des Wettbewerbsrechtes und der gewerbepolizeilichen Bestimmungen und ferner die Vereinheitlichung etwa notwendiger Subventionen für bestimmte Bereiche der Wirtschaft, alles Dinge, die erst gerechte und gleichmäßige Startbedingungen für alle Beteiligten herstellen. Seien wir uns doch klar darüber, daß alle Unzulänglichkeiten und Benachteiligungen des einen oder des anderen zu Verdruß und letzten Endes zur Europamüdigkeit führen, die wir am allerwenigsten gebrauchen können.

Mit Recht steht das Thema Europamüdigkeit in unseren Tagen immer wieder zur Sprache und zwar bisher fast ausschließlich aus Gründen, die mit wirtschaftlichen Tatbeständen nicht zu tun haben. Wir müssen daher alles tun, um zu vermeiden, daß aus solchen Motiven der Europaidee noch zusätzlich Abbruch getan wird. Dann bleibt uns noch immer die Auseinandersetzung mit jenen anderen Kräften, die mit ihrem Festhalten an überkommenen Besitzständen gar nicht begreifen wollen, daß deren praktischer Wert inzwischen schon lange gleich Null geworden ist. Warum sind wir beispielsweise auf dem Gebiet der Forschung noch immer nicht über die vor zehn Jahren konzipierten Anfänge einer umfassenden Zusammenarbeit hinaus gelangt? Der Europarat hat sich im Januar ds. Js. Eine Bestandsaufnahme vortragen lassen, die erschütternd ist. Danach haben die USA für diese Zwecke 17 Milliarden Dollar aufgebracht, während der Aufwand in den Ländern der EWG sich insgesamt auf 3,2 Milliarden Dollar, d. h. noch nicht ein Fünftel der amerikanischen Aufwendungen, bezifferte. Wenn man auch sicherlich diese finanziellen Gradmesser nicht als alleinigen Anhaltspunkt für den Wert der Arbeiten ansehen kann, so haben wir es hier doch ohne Zweifel mit einem schreienden Mißverhältnis zu tun. Wird es da nicht höchste Zeit zu einer vollkommen durchorganisierten Zusammenarbeit aller freien Länder Europas zu kommen, statt auf nationaler Basis getrennt weiterzumachen? Die drei europäischen Exekutiven haben gerade gelegentlich des 10. Jahrestages der Unterzeichnung der Römischen Verträge auf diese Unzulänglichkeiten hingewiesen und auch ihre Vorschläge gemacht, wie dem abzuhelfen sei. Die hoffnungsvollen Ansätze, über die wir bei Euratom verfügen, müssen planmäßig ausgebaut und auf viele andere Wissensgebiete ausgedehnt werden. Ich habe mir erlaubt, dieses eine Gebiet beispielhaft herauszugreifen aus der Vielzahl der Probleme, die wir alle ohne Ausnahme in einer viel wirkungsvolleren Weise gemeinsam anfassen können, als es uns in nationalen Alleingängen möglich ist. Auf diesen wie auf anderen Gebieten gibt es wahrhaftig eine Vielzahl von guten Vorschlägen und Initiativen sachverständiger Gremien, europäischer Gremien, europäischer Behörden und parlamentarischer Körperschaften, ohne daß es bisheran erkennbar würde, daß sie in die Tat umgesetzt werden. Wo bleiben die richtunggebenden Entscheidungen? Ist der Wille zur Entscheidung überhaupt da? Pessimisten meinen manchmal, wir Europäer seien mehr auf dem Wege dazu Entwicklungsländer zu werden, als daß wir uns entschlossen und zügig dazu aufrafften, den Anschluß an den Status der uns vorauseilenden Mächte zu gewinnen, die vollends begriffen haben, was vorausschauend geschehen muß, um die Zukunft zu meistern.

Lassen Sie mich noch eine andere Frage aufwerfen, wozu ich aus eigener Erfahrung in der jüngsten Vergangenheit ein Wort sagen möchte. Uns allen liegt sehr am Herzen, daß die Jugend unserer Länder möglichst früh zusammengebracht und an die reichen Schätze unserer gemeinsamen Geschichte und Kultur herangeführt wird. Wo wären dafür wohl günstigere Voraussetzungen gegeben, als gerade hier in diesem Dreiländereck?
Jüngst ergab sich aus der Verlegung des NATO-Hauptquartiers nach Brunssum, einem wenige Kilometer von hier entfernten Städtchen auf niederländischem Gebiet, die Notwendigkeit der Einrichtung einer höheren Schule für die Kinder der Bediensteten dieser Stäbe. Man hätte die Möglichkeit gehabt, die anderwärts bewährte Einrichtung der Europaschule zu schaffen und diese gleichzeitig der Jugend der angrenzenden dicht besiedelten niederländischen, belgischen und deutschen Gebiete zugänglich zu machen. Leider ist nichts dergleichen geschehen. Nach den bisherigen Entscheidungen wird es dort keine Europaschule geben, und wir versäumen erneut eine Gelegenheit, deren Wert für die Zukunft gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Das ist gewiß ein Einzelfall und als solcher nicht von welterschütternder Bedeutung, aber er führt doch zu der Frage, ob es denn keine europäische Autorität gibt, die dafür Sorge trägt, daß solche Möglichkeiten, die sich geradezu anbieten, genutzt werden, daß systematisch Gelegenheiten gesucht werden, um solche Gemeinschaftseinrichtungen zu schaffen? Nach meiner Auffassung sollte man überhaupt endlich dazu übergehen, überall in den Grenzgebieten im Schulwesen zusammenzuarbeiten. Dabei weiß ich sehr wohl, daß es Voraussetzung hierzu ist, daß vorab viele zwischenstaatliche Abreden getroffen werden; man darf aber dagegen nicht einwenden, daß dies angesichts der Verschiedenheit der Bildungswege nicht möglich sei, denn für die Europaschulen ist es sozusagen von einem Tage zum anderen möglich gewesen, ihren Absolventen den Zugang zu den Universitäten aller beteiligten Länder zu öffnen. Auch ich gehe davon aus, daß es in jedem Lande genügend Paragraphen gibt, an Hand deren man beweisen kann, daß ich etwas ganz Unmögliches fordere; wenn wir uns damit zufrieden geben wollten, dann würden wir auf keinem Gebiete weiterkommen, aber wir müssen weiterkommen!

Mit Befriedigung dürfen wir feststellen, daß wir immer wieder Fortschritte machen, auch Fortschritte von großer Bedeutung, wozu in den letzten zwölf Monaten die Einigung über die schon erwähnte gänzliche Zollfreiheit und daneben über die zahlreichen hoch brisanten Agrarfragen und endlich über die allgemeine Einführung einer Mehrwertsteuer zählen. Und doch meinen wir, das alles sei viel zu wenig.

Bundeskanzler Kiesinger hat kürzlich ausgeführt. "Das Ziel einer politischen Union Europas muß, mit welchen Methoden auch immer, erreicht werden, wenn unser Kontinent in Freiheit, Wohlstand und Ehre bestehen soll; mit der Zufriedenheit über das Erreichte muß sich daher ein entschlossener, auf dieses letzte große Ziel gerichteter Wille verbinden". Dieser Ausspruch läßt an Klarheit nicht zu wünschen übrig und findet die vorbehaltlose Zustimmung der überwiegenden Zahl der Menschen in Europa, die nichts sehnlicher erwarten, als ein kraftvolles und unbeirrtes Vorwärtsschreiten auf dem Weg, den die Baumeister der Römischen Verträge eingeschlagen haben. Von den großen Initiatoren der Europäischen Einigung weilen Alcide de Gasperi, Robert Schuman und Konrad Adenauer nicht mehr unter den Lebenden. Uns geht es heute darum, daß die Männer, die an den Schalthebeln der Politik stehen, das Werk entschlossen fortführen und die Schwierigkeiten, die sich immer wieder entgegenstellen, beherrschen. Die unbeirrte und beschleunigte Erfüllung von Geist und Inhalt der Römischen Verträge, wobei wir der Meinung sind, daß deren Hauptziel die politische Einigung Europas ist, die Ausdehnung des Gemeinsamen Marktes auf die EFTA-Staaten, insbesondere auf Großbritannien, das alles sind dringende Aufgaben, die gelöst werden müssen. Keiner der Beteiligten wird dabei seine eigenen Vorstellungen ungeschmälert verwirklichen können. Wollten wir das erwarten, so wäre das gleichbedeutend mit der Vertagung aller Anliegen auf unbestimmte Zeit. Wir können uns nur wünschen, daß jedes Land sich davor hütet, seine Wünsche auf die Ebene der Prinzipien und damit so hoch zu heben, daß sie für die Erreichung eines Kompromisses zu hoch liegen. Herr Minister Luns hat einmal nüchtern festgestellt, daß es manchmal notwendig sei, daß zugunsten der Einheit der Gemeinschaft nationale Interessen - vielleicht sogar große Interessen - geopfert werden müssen, und daß sich dies in wiederholten Fällen auch schon als möglich erwiesen habe. Man sollte in jedem Einzelfalle das Erreichbare realisieren und manchmal bewußt auf die Ideallösung verzichten und so, wie Konrad Adenauer das in Madrid gesagt, ruhig die zweit- und drittbeste Lösung wählen, denn auch sie ist eine Station auf dem Wege zu dem Ideal. Der hohe Wert grundsätzlicher Haltung wird in Frage gestellt, wenn man sie in Situationen bemüht, deren Wertigkeit nicht adäquat ist. Ausschlaggebend ist der Wille zu praktischen Ergebnissen zu kommen; nach diesen verlangen die freien Völker Europas.

Auf der gleichen Erkenntnis beruhen die Worte, die unser heutiger Preisträger vor wenigen Monaten gesprochen und die lauten: "Der Umstand, daß der Weg zur europäischen Einheit länger ist, als wir früher glaubten, und daß Hindernisse und schwere Wegteile vorkommen, darf uns nicht dazu verleiten, nunmehr die Hände in den Schoß zu legen. Auch jetzt müssen weitere Schritte unternommen werden". Dieses "auch jetzt", das gleichbedeutend ist mit einem "immer wieder" zeugt von der Haltung eines Politikers wie wir sie heute in Europa im Hinblick auf dessen Einigung für unerläßlich halten. Mit dieser Feststellung darf ich mich nun an unseren Preisträger 1967 wenden; Dr. Joseph Luns wurde am 28. August 1911 in Rotterdam geboren; nach der Absolvierung des Gymnasiums studierte er Rechtswissenschaften in Leiden und Amsterdam, politische und ökonomische Wissenschaften an der London School of Economics und nahm an einem Kursus am Deutschen Institut für Ausländer der Universität Berlin teil. Im Jahre 1938 trat er in den Auswärtigen Dienst ein und durchlief die Karriere vom Botschaftsattaché bis zum Botschaftsrat im Außenministerium seines Landes und in dessen Missionen in Bern, Lissabon, London und New York. Seit dem 2. September 1952 ist er Minister des Auswärtigen. Von September 1958 an war er während eines Jahres Vorsitzender des NATO-Ministerrates. Im März 1957 zählte er zu den Mitunterzeichnern der Römischen Verträge und ist somit der einzige mitunterzeichnende Minister, der sich heute noch im Amt befindet. Seit 15 Jahren verantwortlicher Leiter der Außenpolitik seines Landes ist er wie wenige in die Entscheidungen europäischer Staaten hineingestellt.
Herr Minister Luns, unter Ihrer persönlichen Mitwirkung sind viele Entscheidungen gefallen, die zum Werden Europas beigetragen haben. Ihre reichen Erfahrungen befähigen Sie, auch in Zukunft eine wichtige Rolle beim Fortgang des Einigungswerkes zu spielen. Wir setzen in Sie das feste Vertrauen, daß Sie alle Ihnen gegebenen Möglichkeiten nutzen werden, um die unserer Generation aufgegebene geschichtliche Mission zum vollen Erfolg zu führen. Diese Ihrem Lande und Ihrem Volke so eng verbundene Stadt Aachen schätzt sich glücklich, in Ihnen einen hervorragenden Repräsentanten der Niederlande zu ehren und auszuzeichnen. Das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachenhat Ihnen den Karlspreis 1967 zugesprochen, dessen Urkunde und Plakette ich Ihnen nunmehr zu überreichen die Ehre habe.