Laudatio von Hans-Dietrich Genscher, Bundesministers des Auswärtigen und Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland

Laudatio von Hans-Dietrich Genscher, Bundesministers des Auswärtigen und Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland

Sehr geehrter, lieber Herr Horn, meine sehr geehrten Damen und verehrten Herren,

wir sind zusammengekommen, um einen großen Europäer zu ehren und einen tapferen Mann dazu. Wir ehren Gyula Horn, den ungarischen Europäer, der ein ungarischer Patriot ist. In seiner Ehrung mit dem Karlspreis wird deutlich, daß Europa mehr ist, als das Europa des Westens. Europa ist vollkommen nur in seiner Ganzheit. Was Europa heute ausmacht, das ist das Ergebnis des Zusammenwirkens aller Völker, ihrer Kultur, ihrer Geistesgeschichte, ihrer Leistungen und ihrer Irrtümer. Lieber Herr Horn, wenn irgendwer, dann haben Sie gezeigt, daß der Beitrag eines Landes zum Frieden, zur Freiheit, zur Zukunft Europas nicht von seiner Größe, nicht von seiner Bevölkerungszahl, nicht von seiner Waffenstärke, nicht von seiner wirtschaftlichen Kraft abhängt, sondern von dem Maß, in dem es Freiheit und Menschenrecht zur Richtschnur seines politischen Handelns nach innen und nach außen macht.

Europa war 40 Jahre lang geteilt. Geteilt durch Ideologien, durch Grenzen, durch Mauer und Stacheldraht. Wieviel Geld und Macht wurde in die Undurchlässigkeit dieser Grenzen gesteckt. Sie schienen wie für die Ewigkeit gemacht. Wieviel Leid wurde verursacht, wieviele Menschen haben an diesen Grenzen ihr Leben verloren, wieviele die ihnen noch verbliebene Freiheit. Das alles hielt an, bis in der Sowjetunion ein Mann die politische Führung übernahm, dessen historisches Verdienst es ist und bleiben wird, daß er, im Gegensatz zu seinen Vorgängern, darauf verzichtete, anderen Völkern, und darunter auch seinen Verbündeten, mit Gewalt seinen Willen aufzuzwingen. Das war die Probe auf den europäischen Friedenswillen der Sowjetunion. Sie hat diese Probe bestanden. Seitdem haben die Völker wieder Hoffnung geschöpft.

Die Völker der Sowjetunion haben damit nichts verloren oder aufgegeben, im Gegenteil, sie sind damit noch fester eingeschlossen in die Gemeinschaft der Europäer, das ist ein Gewinn für die Sowjetunion und für das ganze Europa. Die historische Leistung Gorbatschows kann und soll die großartigen Leistungen der Völker Mittel-, Ost und Südosteuropas nicht schmälern. In ihrer vordersten Front waren die Ungarn im Kampf um ihre innere und äußere Freiheit zu finden. Die Ungarn errangen ihre innere Freiheit, indem sie sich auf die großen freiheitlichen Traditionen ihrer Nation besannen. Gerade, weil sie eine von ihren Nachbarn so völlig fremde Sprache sprechen, waren sie stets offen nach allen Seiten. Die Verbindung mit uns Deutschen war unter sich wandelnden geschichtlichen Umständen immer eng und tief. Ihre christliche Religion verband sie mit dem übrigen Europa. Die berühmteste mittelalterliche Reiterstatue Deutschlands, der Bamberger Reiter, stellt wahrscheinlich den heiligen Stefan, König der Ungarn, dar und die heilige Elisabeth war eine ungarische Prinzessin. Die Wiedergeburt der ungarischen Freiheit ist deshalb auch mit seiner europäischen Mission verbunden.

Die Außenpolitik eines freien Ungarn, daran ließ Gyula Horn vom ersten Augenblick seiner Amtsführung keinen Zweifel, hieß europäische Friedenspolitik. Sie, lieber Herr Horn, drängten auf Vertragsabschlüsse mit der Europäischen Gemeinschaft, Sie stellten einen Antrag auf Mitgliedschaft Ungarns im Europarat, Sie intensivierten Ihre bilateralen Beziehungen zu den Staaten der europäischen Gemeinschaft.

Das ganze Europa, das vor Ihren Augen steht, war und ist noch nicht Realität. Doch indem Sie es zur Voraussetzung und zum Zielpunkt Ihrer Außenpolitik machten, öffneten Sie den Staaten in West und Ost die Augen für die großartigen Möglichkeiten, die die neue politische Lage vor uns allen auftut.

Und plötzlich sahen wir im Fernsehen ungarische Grenzsoldaten mit Drahtscheren in der Hand. Sie durchschnitten die Stacheldrahtzäune an der ungarisch-österreichischen Grenze. Ganz Europa hielt den Atem an. Keiner mochte noch so recht daran glauben, daß dies möglich sei: eine offene Grenze zwischen Ost und West. Es war möglich.

Diesen ersten Schritt gewagt zu haben, lieber Herr Horn, ist Ihr Verdienst. Dieser Schritt erforderte die visionäre Kraft außenpolitischen Denkens und er verlange Mut. Beides haben Sie dann noch einmal auf eine für die Welt und insbesondere für uns Deutsche unvergeßliche Weise gezeigt, als die für Sie und für Ihr Land so schwierige Frage zu beantworten war, was soll mit den Tausenden von DDR-Bürgern, die über Ungarn in die Bundesrepublik Deutschland kommen wollten, geschehen?

Ein Vertrag, der noch aus den Zeiten der Breschnew-Doktrin stammte und der unmittelbarer Ausdruck eben dieser Doktrin war, verpflichtete Sie gegenüber der DDR, DDR-Bürger ohne gültige DDR-Ausreisepapiere an der ungarischen Grenze festzuhalten. Welch eine Lage: die europäische Berufung Ihres Landes, Ihre persönliche Überzeugung als ungarischer Patriot und europäischer Humanist, Ihre außenpolitische Vision eines einigen, West und Ost umfassenden Europa auf der einen Seite und auf der anderen Seite ein Vertrag, der eben diese Zukunft zu verhindern trachtete – aber eben doch ein Vertrag.

Als Sie sich zu entscheiden hatten, nahm sich die ungarische Bevölkerung, insbesondere die Ihrer Hauptstadt Budapest, in so menschlicher Weise der Deutschen in Ihrem Lande an. Dies wird Ihnen sicher ihre Entscheidung erleichtert haben. Ungarn ist Mitunterzeichner der Schlußakte von Helsinki, des Bauplanes für das künftige Europa.

In dieser Schlußakte ist die Freizügigkeit aller Bürger Europas festgeschrieben. Sie versuchten, den damaligen Machthabern der DDR klar zu machen, daß das freie Ungarn sich an diese europäische Freiheitscharta mehr gebunden fühle als an den aus dem Block- und Machtdenken der alten Zeit geborenen Vertrag. Und sie haben sich schließlich an jenem denkwürdigen 10. September 1989 entschieden – für Freiheit und Freizügigkeit. Es schien, als stünden Sie allein mit dieser Entscheidung – doch waren alle Europäer bei Ihnen, die Deutschen in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR vor allem – das war deutsche Einheit in Dankbarkeit und in Hoffnung. Sie haben sich für die Zukunft Europas, für das ganze unteilbare Europa, entschieden. Damit haben Sie einen Grundstein für die Einheit Europas gelegt. Indem Sie sich gegen das geteilte Europa entschieden, haben Sie die Teilung Europas überwinden helfen. Ohne diese Entscheidung wäre es heute um Europa anders bestellt.

Denn alles was folgte, war eben eine Folge dieser Entscheidung. Die Deutschen strömten zu Zehntausenden durch Ihr Land in die Freiheit. Nichts konnte deutlicher machen als diese Massenflucht, daß man 17 Millionen Menschen nicht auf Dauer einsperren kann hinter Mauer und Stacheldraht. Und die Zurückgebliebenen gingen zu Hunderttausenden auf die Straßen und riefen den Mächtigen zu: "Wir sind das Volk!"

Und dies wiederum entzündete die Flamme der Freiheit in Prag – und dann in Sofia – und dann in Bukarest, wo unsere rumänischen Brüder und Schwestern unter furchtbaren Blutopfern die Freiheit errangen. Im Rumänien des Diktators hatte die deutsche und die ungarische Minderheit in besonderer Weise zu leiden – auch dieses gemeinsame Leid hat uns noch enger zusammengeführt. Unvergessen ist Ihr spontanes Ja, als ich Sie am Telefon fragte, ob Sie eine Sondersitzung des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen wegen der Lage in Rumänien unterstützen. Sie waren es, Herr Horn, der die Grenzen geöffnet hat, Sie haben die eiserne Klammer gelöst. Sie haben damit nicht nur Zehntausenden von Deutschen in unmittelbarer seelischer und existenzieller Not geholfen – Sie haben allen Europäern und sie haben uns Deutschen ein Zeichen der Freiheit und der Einheit Europas gesetzt. Dafür danken wir Ihnen als Deutsche und als Europäer von ganzem Herzen.

Sie können sicher sein, daß wir Ihre Entscheidung auch als Verpflichtung verstehen, die deutsche Einheit eingebettet in das europäische Schicksal zu suchen.

Wir sind uns der europäischen Berufung der Deutschen bewußt und auch der Verpflichtung als Mitgliedstaat der EG zu einer offenen Politik unserer Gemeinschaft gegenüber unseren östlichen Nachbarn. Denn nicht um einen Teil Europas, um das ganze Europa muß es uns gehen.

Beim Wiener Europagespräch 1964 hat George F. Kennan für die Einsicht geworben, daß die Überwindung des Kalten Krieges nur dann zu stabilen Verhältnissen führen kann, wenn man so etwas wie die "Vereinigten Staaten von Europa" zustande bringen würde und zwar unter Einbeziehung des europäischen Ostens. Karl Jaspers sprach in diesem Sinne von der "Helvatisierung" statt der "Balkanisierung" Europas.

Und François Mitterrand gebraucht das Bild von der europäischen Konföderation. Hierum geht es in der Tat. Das Europa, das den Kalten Krieg überwunden hat, darf sich nicht zum Europa des Nationalismus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurückentwickeln. Hier erweist sich das Einigungswerk in der Europäischen Gemeinschaft in besonderer Weise als Motor und Modell einer neuen europäischen Friedenskultur.

Europa steht jetzt vor einer politischen, einer intellektuellen und einer moralischen Herausforderung ersten Ranges. Es geht um den Entwurf für das Zusammenwachsen des Kontinents, um die Architektur des einen Europa. Vier zentrale Bausteine müssen dafür in eine überzeugende Verbindung und Übereinstimmung gebracht werden: - Die Herstellung der deutschen Einheit, - die Vertiefung der Integration der Europäischen Gemeinschaft zur Politischen Union, - die Schaffung der Europäischen Friedensordnung vom Atlantik bis zum Ural als gemeinsamen demokratischen Raum, als Rechtsraum, als Wirtschaftsraum, als ökologischen Raum, als sicherheitspolitischen Raum durch den KSZE-Prozeß – und schließlich die Festigung der transatlantischen Beziehungen auf neuer partnerschaftlicher Grundlage.

Wenn jetzt die beiden Teile Deutschlands zusammengeführt werden, bringt das für uns Deutsche eine historische Chance: Unsere Mittellage kann zur positiven Entfaltung gebracht werden. Aus der deutschen Vereinigung muß ein Beitrag für ein vereintes Europa werden.

Deutschland nicht als Austragunsort und Schauplatz europäischer Zerrissenheit, nicht als Ausgangspunkt von Machtpolitik, sondern Deutschland an der Seite Frankreichs, fest in der demokratischen Wertegemeinschaft verankert, als Wegbereiter des einen Europa. Deutsche Vereinigung nicht als nationaler Egoismus und mit hohlem Pathos, sondern in Verantwortung für Europa, als Teil Europas. Diesem "Königsweg" zur deutschen Selbstbestimmung in Europa sind wir verpflichtet.

Die Teilung Deutschlands in zwei Staaten war das dramatische Symbol des Kalten Krieges. Die Vereinigung Deutschlands wird zum Schlüssel für die beschleunigte Schaffung des einen, freien Europa. Es ist kein Zufall, daß die Europäische Union gerade jetzt auf der Tagesordnung steht. An ihrem Beispiel, am Beispiel des Gemeinsamen Binnenmarktes, der Wirtschafts- und Währungsunion wird deutlich: Die deutsche Vereinigung wird zum Katalysator für die europäische Einigung. Die Europäische Union gewinnt Gestalt. Sie wird aber doch immer nur Teil sein des einen Europa, der europäischen Konföderation vom Atlantik bis zum Ural, die wir jetzt schaffen wollen.

Beide Prozesse sollen und dürfen nicht auseinander, sondern sie müssen zusammenführen. Westeuropäische und gesamteuropäische Einigung dürfen deshalb nicht voneinander abgekoppelt werden. Die deutsche Vereinigung hat bei dieser Verklammerung eine historische Schlüsselfunktion. Sie muß Ferment sein für die Ablösung der alten Macht- und Denkstrukturen der europäischen Nachkriegsordnung – Ferment für die Zusammenführung von West-, Mittel- und Osteuropa in einem immer enger werdenden Netzwerk vielfältiger Integrations- und Kooperationsformen für das ganze Europa.

Das eine Europa umfaßt alle europäischen Staaten – die Sowjetunion eingeschlossen. An der polnischen Ostgrenze beginnt Osteuropa und nicht Westasien. Wir werden das eine Europa nur schaffen, wenn wir die Sowjetunion in allen Bereichen als Partner akzeptieren; wenn wir uns freimachen von dem Gedanken, hinter jedem Vorschlag der neuen sowjetischen Führung stehe der Versuch, den Westen hinters Licht zu führen, ihn zu täuschen und schließlich zu überrumpeln. Auch Perestroika galt ja anfangs als ein solcher Versuch. Mancher, der damals so dachte und auch so sprach, macht sich heute – zu Recht – Gedanken, wie er Perestroika zum Erfolg verhelfen kann. Wenn wir von Europa sprechen, dann gehört die Sowjetunion dazu. Dieses große Land lebt mit uns auf demselben Kontinent. Ohne die Sowjetunion wird das von uns gewollte eine Europa nicht werden. Gorbatschow hat sein Land geöffnet hin zum Westen, nach Europa.

Das verlangt unsere europäische Antwort. Diese kann nur lauten: Einbeziehung der Sowjetunion in jede Art politischer, wirtschaftlicher, ökologischer und technologischer Zusammenarbeit in Europa und weltweit. Die wirtschaftliche Entwicklung Europas läßt sich von der wirtschaftlichen Entwicklung der SU nicht abkoppeln.

Ebenso bedeutsam ist die Neuordnung des Verhältnisses der sich auf Marktwirtschaft umorientierenden Sowjetunion zu den internationalen Handels- und Finanzorganisationen. Die ideologischen Schranken fallen, die früher diesen Schritten entgegenstanden. Es ist schwer vorstellbar, daß eine Sowjetunion auf dem Weg zur Demokratie und zur Marktwirtschaft, eine Sowjetunion, die im KSZE-Prozeß mitbaut an dem einen Europa, daß eine Sowjetunion, die sich mit den USA verantwortlich fühlt für weltweite Stabilität, eine Sowjetunion, deren Präsident sich mit dem Präsidenten der USA darüber einig ist, daß man sich nicht mehr als Bedrohung empfindet, es ist schwer vorstellbar, daß eine solche Sowjetunion auf Dauer ausgeschlossen bleibt von den Weltwirtschaftsgipfeln – auch wenn das heute noch als Zukunftsmusik erscheinen mag.

Am 1. Februar 1987 habe ich in Davos dazu aufgerufen, Gorbatschow ernst zu nehmen, ihm beim Wort zu nehmen und eine historische Chance nicht verstreichen zu lassen. Heute rufe ich den Westen dazu auf, die historische Chance zu erkennen, die für die Sowjetunion und den Westen darin liegt, wenn die wirtschaftlichen Reformen in der Sowjetunion gelingen. Das verlangt die umfassende Mithilfe des Westens. Es geht um eine gigantische Zukunftsinvestition. Sie wird sich lohnen. Es ist eine Investition in unsere gemeinsame europäische Zukunft. Wir Deutsche sind uns der zentralen Bedeutung der deutsch-sowjetischen Beziehungen für das ganze Europa bewußt und ich war mir gestern mit Außenminister Schewardnadse darüber einig, daß das auch für das Verhältnis des vereinigten Deutschlands zur Sowjetunion gilt.

Europa hat nur eine gemeinsame oder keine Zukunft. Die Vertiefung, der Ausbau und die Institutionalisierung des KSZE-Prozesses spielen dafür eine entscheidende Rolle. Der KSZE-Sondergipfel im Dezember wird den Grundstein legen für den Übergang zu kooperativen Strukturen in Europa, an denen auch die USA und Kanada als gleichberechtigte und mitverantwortliche Partner voll teilnehmen werden.

Stabilität ist heute ein umfassender Begriff, er umfaßt alle Bereiche der Zusammenarbeit, die politische, die wirtschaftliche, die technologische und die ökologische und auch die sicherheitspolitische. Bei der Bildung gesamteuropäischer Institutionen für Rechtswesen, beim Schutz der Menschenrechte und beim Minderheitenschutz kann auf bewährte Institutionen wie den Europarat zurückgegriffen werden. Keine einzige europäische Institution wird sich den revolutionären Veränderungen in Europa verschließen können. Aus der Entwicklung und Verzahnung alter und neuer Institutionen wird der einheitliche europäische Wirtschafts-, Ökologie-, Rechts-, Sicherheits- und Politikraum entstehen. Der KSZE-Prozeß als Stabilitätsrahmen für ganz Europa erfordert regelmäßig abzuhaltende Konferenzen der 35 Staats- und Regierungschefs. Er verlangt regelmäßige Tagungen eines Rates der 35 Außenminister. Gesamteuropäische Einrichtungen wie ein Konfliktverhinderungszentrum, ein Verifikationszentrum, eine gesamteuropäische Umweltagentur und auch ein kleines Sekretariat können zur Institutionalisierung des KSZE-Prozesses und damit zur Stabilität beitragen.

Damit ist die Aufgabe des KSZE-Gipfels im Dezember dieses Jahres vorgezeichnet, der eine Grundlage für das ganze Europa schaffen soll. Es geht nicht mehr darum, das Zusammenleben unterschiedlicher Systeme erträglich zu machen, es geht um das eine Europa. Die KSZE-Gipfelkonferenz im Herbst 1990 muß zum Ausgangspunkt für den Bau des gemeinsamen europäischen Hauses, für die Europäische Friedensordnung werden, die das westliche Bündnis schon 1967 in dem Harmel-Bericht gefordert hat. Das Schicksal dieses Europa ist untrennbar verbunden mit den nordamerikanischen Demokratien. Die gemeinsamen Werte von Freiheit, Menschenrechten und Demokratie sind die Grundlage des nordatlantischen Bündnisses, das zu einem unverzichtbaren Baustein und Bestandteil gesamteuropäischer Sicherheitsstrukturen werden wird. Die Mitwirkung der USA und Kanadas am KSZE-Prozeß sind Ausdruck der schicksalhaften Verbindung Nordamerikas und Europas. Während die Europäische Gemeinschaft zu neuer Identität findet, sind wir dabei, ihr Verhältnis zu den USA und Kanada auf eine neue, festere Grundlage zu stellen. Der Atlantik soll nicht breiter werden, wenn in Europa die künstlichen Grenzen fallen.

Ein Schlüssel für die deutsche und europäische Vereinigung bleibt die Abrüstung. Ich bin zuversichtlich, daß der kommende amerikanisch-sowjetische Gipfel zu einem neuen Durchbruch auf breiter Ebene führen wird. Aber mit der konventionellen Abrüstung muß es auch vorangehen, das erste Abkommen in Wien muß noch in diesem Jahr zustande kommen. Es gibt keinen politischen Grund mehr, daß sich Europäer gegenseitig militärisch bedrohen. Die Demokratisierung Mittel- und Osteuropas hat die ideologischen Gegensätze überwunden. Damit ist auch der militärischen Konfrontation die Grundlage entzogen. Die Militärpotentiale sind aber weitgehend noch so beschaffen, als habe sich nichts geändert. Die politische Entwicklung ist der Abrüstung davongeeilt. Die Abrüstung muß wieder aufschließen. Wer ignoriert, daß östlich von uns Demokratien entstehen, wer ignoriert, daß der Warschauer Pakt sich von Grund auf schon verändert hat, wer ignoriert, daß sowjetische Truppen die CSFR und Ungarn verlassen, der entkoppelt sich von der Wirklichkeit. Neues Denken ist überall gefordert. Strategie, Struktur und Bewaffnung der Bündnisse müssen sich auf die neue Lage einstellen. Die gesamte Verteidigungsstruktur, die konventionelle wie die nukleare Strategie müssen neu überdacht und an dem übergeordneten Ziel kooperativer Stabilität ausgerichtet werden. Die Gipfelkonferenz des westlichen Bündnisses im Juli in London muß dafür richtungsweisend sein.

Der tschechoslowakische Staatspräsident Havel erklärte vor der parlamentarischen Versammlung des Europarats in Straßburg am 10. Mai, die Bürger Polens, der CSFR und der DDR könnten nur schwer verstehen, warum atomare Kurzstreckenraketen auf sie gerichtet seien. Und in der Tat, in dem neuen Europa der Demokratien müssen die nuklearen Kurzstreckenraketen und die nukleare Artillerie in die Abrüstung einbezogen werden.

Während der Warschauer Pakt an Zusammenhalt verliert, muß unser wertgebundenes Bündnis zukunftsfähig gemacht werden, in einem Sinne, der der sicherheitspolitischen Kooperation mit der Sowjetunion neue Möglichkeiten eröffnet. Das West-Ost-Verhältnis muß entmilitarisiert und unser Bündnis muß noch politischer werden. Ich unterstütze James Bakers Aufforderung an die WEU und die NATO, mit der Sowjetunion und anderen osteuropäischen Ländern einen soliden politischen und militärischen Dialog zu entwickeln. Aus diesem Dialog und den Entwicklungen im Rahmen der KSZE muß sich zwischen dem Bündnis und der Sowjetunion und allen anderen Staaten Europas eine neue Stabilitätspartnerschaft herausbilden. Neue kooperative Strukturen der Sicherheit müssen entstehen. Vertrauensbildung ist gefordert, Mißtrauen ist zu überwinden. Wo die Bedrohung schwindet, tritt die weitere Risikoverminderung in den Vordergrund. Das ist zuallererst eine politische Aufgabe. Es ist aber auch Grund für die Schaffung gesamteuropäischer Sicherheitsstrukturen, in denen unser Bündnis eine neue rolle und unsere Streitkräfte eine neue Bestimmung finden. Dies ist für die langfristige Stabilität und Prosperität Europas eine unverzichtbare Voraussetzung. Wir können uns das Gegeneinander in Europa nicht länger leisten. Das neue Europa der Freiheit, der Menschenrechte und der Demokratie muß seine Kräfte verbinden. Der ideologischen muß die militärische Abrüstung folgen.

Dem Fall der Mauer aus Steinen muß alles andere folgen, das uns heute noch trennt. Wir müssen das Bewußtsein stärken, daß unsere Generation eine größere Verantwortung trägt, als alle Generationen vor uns. Die technologische Entwicklung hat es uns in die Hand gegeben, unsere Welt humaner zu gestalten. Wenn wir aber versagen, dann laufen wir Gefahr, die Grundlagen menschlichen Daseins auf der Erde zu verspielen. Und das nicht nur für uns, sondern für alle künftigen Generationen. Damit hat unsere Verantwortung eine neue, eine zeitliche Dimension erhalten. Das ist die geistige, die moralische, die politische Herausforderung, vor der wir stehen. Das bedeutet, den Krieg der Menschen gegen die Menschen ein und für allemal unmöglich zu machen. Es bedeutet, den Krieg der Menschen gegen die Natur zu beenden. Denn dieser Krieg dauert an. In einer vermeintlich friedlichen Umwelt werden die natürlichen Lebensgrundlagen zerstört. Deshalb fordern wir Europa auch als Umweltgemeinschaft und deshalb wollen wir, daß Europa, das ganze Europa, endlich seine weltweite Verantwortung wahrnehmen kann, nicht machtpolitisch, sondern bei der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen, bei der Entwicklung der Dritten Welt, bei der weltweiten Überwindung von Hunger, Krankheit und Unwissenheit.

Europa, das so viele Kriege ertragen hat, von dem so viele Kriege in die Welt getragen wurden, hat heute eine weltweite Friedensmission. Das sind die globalen Herausforderungen, denen sich alle Völker stellen müssen. Aber Europa wird dabei seine Verantwortung nur erfüllen können, wenn es das Denken von gestern überwindet, wenn es sich eint, wenn es zusammenarbeitet, wenn es die Friedensdividende der Abrüstung den Zukunftsaufgaben widmet.

Vor 40 Jahren begriff Jean Monnet, daß man in einer Situation des Umbruchs das Problem des deutschen Gewichts zum Hebel für eine föderative europäische Ordnung machen und damit Wohlstand und Stabilität in Europa auf qualitativ neue Art sichern könnte. Es ist eine legitime Frage, was annähernd 80 Millionen Deutsche in einem Staat für Europa bedeuten. Der Wille der Deutschen zur Teilnahme an einer föderativen Europäischen Gemeinschaft, an der Politischen Union und am KSZE-Prozeß ist die Antwort auf diese Frage. Und die friedliche Freiheitsrevolution in der DDR und die gewachsenen Demokratien bei uns sind es auch. Das Konzept Jean Monnets, das Konzept der Gleichberechtigung großer und kleiner Staaten, der Machtbeschränkung durch Souveränitätsverlagerung an Gemeinschaftsorgane, der wirtschaftlichen Interessenvernetzung und der regionalen Solidarität und nicht die Macht- und Gleichgewichtspolitik von gestern, ist das zukunftsträchtige Modell für gesamteuropäische Stabilität und Wohlstand.

Europa, das in diesem Jahrhundert die schrecklichsten und ungeheuerlichsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit erlebt hat, bekommt im letzten Jahrzehnt noch einmal eine historische Chance. Sie dürfen wir nicht verspielen. Die Geschichte wiederholt ihre Angebote nicht. Das gilt für die europäische Vereinigung und es gilt für die deutsche Vereinigung.

Am Freitag, dem 18. Mai 1990, wurde in Bonn der Vertrag über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion unterzeichnet. Ein historischer Schritt, ein Schritt hin zu dem Ziel der staatlichen Einheit der Deutschen. Denn die deutsche Einheit ist mehr als die Einführung der D-Mark in der DDR. Die deutsche Einheit hat eine demokratische, sie hat eine freiheitliche, sie hat eine historische, sie hat eine kulturelle, sie hat eine moralische Dimension, und sie hat ihre europäische Dimension. Wir dürfen sie nicht auf eine Geldumtauschaktion reduzieren. Es ist nicht ungetümes Drängen, sondern Verantwortung, wenn der Zeitraum zwischen der wirtschaftlichen und der staatlichen Einheit nicht möglichst lang, sondern so kurz, wie innen- und außenpolitisch verantwortbar, gehalten wird.

So notwendig die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion ist, sie eröffnet nur eine Zwischenphase bis zur Vereinigung. Gerade in dieser Phase wird viel demokratische Gemeinsamkeit und Verantwortung notwendig sein. Niemand darf sich dabei ausschließen und niemand darf ausgeschlossen werden. Die deutsche Vereinigung ist keine Sache eines deutschen Alleingangs, sie ist mit der europäischen Entwicklung untrennbar verbunden. Loslösung aus dem europäischen Prozeß wäre ebenso gefährlich, wie unbegründeter Aufschub, der auch Aufschub für den europäischen Vereinigungsprozeß bedeuten würde.

Indem wir einen ungarischen Europäer ehren, der zu europäischer Freiheit und Einheit beigetragen hat, und der sich untrennbar verbunden hat mit deutscher Freiheit und Einheit, wird nur noch deutlicher, wie sehr das Schicksal des ganzen Europa miteinander verbunden ist, und daß die Entwicklungen in Europa nicht voneinander getrennt werden können.

Mit der deutschen Vereinigung auch die Trennung Europas zu überwinden, das ist die europäische Berufung der Deutschen. Sie hat ihre Wurzel in der Geschichte unseres Volkes, die niemals außerhalb Europas verlief, die immer zutiefst eingebettet war in das Schicksal Europas in guten und in schlechten Zeiten. Sie liegt in der geographischen Lage unseres Landes und in der zahlenmäßigen Größe unseres Volkes. Diese europäische Berufung der Deutschen hat Thomas Mann in die Worte gekleidet: "Wir wollen ein europäisches Deutschland und nicht ein deutsches Europa."

Das ist die Absage an die Machtpolitik der Vergangenheit, es ist die Hinwendung zu der Verantwortungspolitik, die allein die Zukunft bestimmten kann. Es ist Ausdruck des Auftrages unserer Verfassung, die uns aufgibt, in einem vereinigten Europa dem Frieden der Welt zu dienen. In dem wir uns diesem Auftrag verpflichtet fühlen, ehren wir die Vorkämpfer eines besseren Europa, die es in allen europäischen Völkern gibt. Indem wir uns diesem Friedensauftrag verpflichtet fühlen und ihn zur Richtschnur unseres Handelns machen, danken wir Gyula Horn, dem Träger des Karlspreises 1990.