Rede von Jean Deniau

Rede von Jean Deniau

Herr Oberbürgermeister, Exzellenzen, meine Damen und Herren, liebe Kollegen!

Die Europäische Kommission hat beschlossen, daß die ehrenvolle Auszeichnung, die Sie uns verliehen haben, vom Präsidenten unseres Kollegiums – wie dies recht und billig ist – und von seinem jüngsten Mitglied – was symbolisch erscheinen mag – entgegengenommen werden soll.

Lassen Sie mich daher dem Kuratorium des Karlspreises und der Stadt Aachen, aber auch Herrn Präsident Rey und meinen Kollegen meinen tief empfundenen Dank für diese Absicht aussprechen.

Und da ich die Ehre, vor Ihnen hier sprechen zu dürfen, meinem relativen Alter verdanke, lassen sie einen Mann, der seine ersten politischen Überlegungen in einem Kontinent angestellt hat, dessen östlicher Teil amputiert und dessen westlicher Teil zerstört wurde und dessen Länder – hier erschöpft und durch ihren Sieg gleichsam überrascht, dort tödlich getroffen oder zerrissen durch ihre Niederlage – erst wieder zu sich selbst finden mußten, lassen Sie also ein Mitglied dieser Generation, die im Chaos einer Welt erzogen wurde, für die sie sich nicht verantwortlich fühlte, aber zu früh durch die unseligen Zeiten zum Verantwortungsbewußtsein aufgerufen wurde, Ihnen heute sage, was Europa für ihn bedeutet. Verantwortung tragen heißt, Antworten geben können. Welche Antworten müssen und können wir von Europa erwarten?

Europa – das ist zugleich eine Tradition und eine Hoffnung. Die Tradition beginnt mit Wunschvorstellungen. Die Hoffnung darf nicht in Träumen enden. Warum und wie soll die vage Vorstellung von einer früher vielleicht vorhandenen europäischen Zusammengehörigkeit und ihrer künftigen Form feste Gestalt gewinnen – dies sind die zwei Fragen, deren Beantwortung, so scheint es mir, schon immer unser Anliegen war.

Gewiß hat es in Teilbereichen in gewissen Epochen ?europäische? Konstellationen gegeben. Im Mittelalter konnte die Universität ?europäisch? genannt werden, und, um nur ein Beispiel zu nennen, unter den größten Namen der Universität von Paris finden sich ein Deutscher, Albertus Magnus, ein Italiener, Thomas von Aquin, und ein Brite, Duns Scott. Heute ist in den meisten unserer Länder einem Ausländer die ordentliche Professur verwehrt. Andere Gebiete ließen sich nennen, in denen in früheren Jahrhunderten gemeinsame Sprache und völlige Freizügigkeit das verwirklichten, was heute mitunter leider nur als Ziel angestrebt wird.

Was aber allumfassend und bleibend war, ist eine Art ?europäischer Sehnsucht?: wie die Erinnerung an eine durch unser Verschulden verlorengegangene Einheit, Erinnerung an das römische Imperium (das Heilige Reich setzte dem deutschen das römische Element voran, und selbst der Frankenkönig Chlodwig versäumte es nicht, sich Konsul von Rom zu nennen), sodann Erinnerung an den Beherrscher des Abendlandes, dessen Name mit Ihrer Stadt verknüpft ist, Erinnerungen, die mit Bedauern darüber gemischt sind, daß die religiöse und kulturelle Einheit keinerlei politische Harmonie und nicht einmal den Frieden im Gefolge hatten.

Und kam es zu einem wirklichen Zusammenschluß, dann unter negativem Vorzeichen: unter einer Drohung, die nicht mehr auf einem Land, sondern auf unserem ganzen Lebens- und Kulturkreis lastete. In Lepanto und später vor Wien war ein Teil Europas für einige Tage freiwillig vereinigt. Es ist bezeichnend, daß das Wort ?Europa?, mit dem die griechischen Geographen das diesseitige Ufer der Dardanellen bezeichneten und das dann jahrhundertelang in Vergessenheit geriet, erstmals wieder – übrigens in einem Plan zur Organisation Europas – im Jahre des Falls von Konstantinopel verwendet wurde!

Diese Gefühl der Beschämung über unsere Unfähigkeit, zu einer dauerhaften und organisierten Form des Zusammenlebens unter Europäern zu gelangen, hat uns all die Jahrhunderte hindurch begleitet und, ohne jeglichen Erfolg, in allen Jahrhunderten seinen Niederschlag in ?europäischen? Plänen von Königen, Päpsten, Dichtern, Ministern, Offizieren, Ökonomen und sogar Diplomaten gefunden. Die beiden letzten Weltkriege, die ihren Ausgang in Europa nahmen, konnten dieses Gefühl des Unverständnisses, ja des Skandals vor dem tristen Schauspiel unserer inneren Rivalitäten nur verstärken. Die Erinnerung an die Kriegserklärungen von 1939 und 1940 ist mir noch lebendig. Wenn man heute unsere europäische Aufbauarbeit, ihre Fortschritte, ihre Grenzen und auch ihre Beweggründe beurteilt, darf niemals dieser Wille und dieses Ergebnis vergessen werden, (und ich meinerseits werde es nie vergessen): daß das, was ich vor dreißig Jahren gehört habe und was heute den Jüngeren unglaubwürdig und damit irreal erscheinen mag, aber doch so qualvolle Realität war, nicht mehr möglich ist, sich nicht mehr wiederholen kann.

So komme ich zum gemeinsamen Markt. Erlauben Sie mir einige persönliche Kommentare zu seinem Geist und seinen Einrichtungen.

Nach verschiedenen Versuchen entschied man sich, den Wunsch nach einer europäischen Ordnung im wirtschaftlichen Bereich zu verwirklichen.

Alle Bestimmungen des Vertrages von Rom haben somit einen zweifachen Aussagewert:

Einmal als Aktion, die dem auserwählten Bereich immanent ist: Schaffung eines umfassenden Marktes mit seinen technischen Vorteilen auf Gebieten wie Wettbewerb, Arbeitsteilung, Ausweitung des Handels, Hebung des Lebensstandards und Koordinierung der Wirtschaftspolitik.

Zum andern als Absicht: die Verwirklichung all dieser handels- und wirtschaftspolitischen Ziele und die Anwendung dieser technischen Mechanismen schaffen - unabhängig von ihrer unmittelbaren Bedeutung - indirekt ein festes Band und eine echte Solidarität, die die Grundlage aller weiteren Fortschritte sein kann und sein muß und die bereits an sich schon einen immensen politischen Fortschritt bedeutet. Der Gemeinsame Markt bietet die Mittel und gleichzeitig die ständige Gelegenheit, sich als Europäer zu fühlen.

Heute erscheint diese Konzeption, geben wir es ruhig zu, mitunter weniger überzeugend, und dies in erster Linie wegen ihrer Erfolge, was ungerecht ist, aber dem Lauf der Dinge entspricht.

Vor zwanzig oder noch vor zwölf Jahren stand die Notwendigkeit einer engeren wirtschaftlichen Zusammenarbeit in Europa klar vor Augen: unsere Länder waren durch eine Vielzahl von Zoll- und Kontingentsmauern getrennt, ihre Währungen waren nicht frei konvertierbar und selbst die Bewegungsfreiheit ihrer Bewohner war in vielfältiger Weise eingeengt. Heute erscheint uns die größere Freizügigkeit, die wir erreicht haben, zumindest in den üblichen Beziehungen gesichert. Was sollte uns veranlassen, weiterzugehen? Noch schlimmer: welche technischen Gründe sollten uns veranlassen, in Europa weiterzugehen?

Während sich die europäische Meinung an das Erreichte gewöhnt hat und damit weniger die Notwendigkeit neuer Fortschritte empfindet, macht sich ein – im übrigen seit jeher vorhandener – Druck stärker spürbar, die noch ungelösten Probleme auf weltweite Ebene zu projizieren. Wozu etwas ?Eigenes? in Europa, etwas ?Europaeigenes? unternehmen, wo doch Handel, Wirtschaftskonjunktur, Investitionen und Währung von Entscheidungen oder Bedingungen abhängen, die bei weitem über diesen Kontinent hinausgehen?

Die nächstliegende Antwort hierauf lautet: weil es auch bei einer weltweiten Abstimmung von Nutzen sein kann, innerhalb dieser einen geographischen fester gefügten und dynamischeren Raum zu haben. Und die zweite Antwort: weil unsere Arbeit auch als eine Absicht gewertet werden will. Die Zollunion hatte in dieser zweiten Hinsicht den Verdienst, zur Wirtschaftsunion überzuleiten, und diese wiederum zur politischen Union.

Aber auch diese Bewegung oder Entwicklungsfolge, die in unseren Verträgen gewollt und in gewissem Umfang in Gang gesetzt ist, wird heute in Frage gestellt. Es ist die Zeit der kritischen Fragestellungen, die Zeit, wo die zweite Generation der europäischen Probleme auf uns zukommt: die Probleme der Absprache und Harmonisierung auf allen Gebieten der wirtschaftlichen Maßnahmen der Staaten, in Haushalts-, Lohn- und Währungsfragen.

Ist es wirklich möglich, von der Wirtschaft ganz natürlich in die Politik hinüberzuwechseln, und handelt es sich nicht um zwei völlig verschiedene Gebiete, die eine Überprüfung und eine Trennung der Ziele, der Verfahren und sogar der Institutionen erfordern? Müssen nach zwölfjährigen Erfahrungen mit dem Vertrag die Erfordernisse der laufenden Führung einer derart umfassenden Wirtschaftsgemeinschaft - die in der Landwirtschaft bereits zu interessanten institutionellen Entwicklungen geführt haben – und die Probleme der allgemeinen Entwicklungskonzeption, die grundsätzlichen Fragen, gewissermaßen die Rahmengesetze unseres Fortschritts, nicht schärfer voneinander getrennt werden?

Ist dem nicht entgegenzuhalten, daß der politische Fortschritt unerläßliche Voraussetzung für jeden ernstzunehmenden Fortschritt in der Wirtschaftsunion ist und somit diesem vorausgehen muß?

Stellt die etwaige Erweiterung der Gemeinschaft von sechs auf zehn oder zwölf Länder den Dynamismus der neu zu schaffenden Mechanismen und damit diese selbst nicht in Frage?

Sollen wir uns mit Fragen der Verteidigung und insbesondere der atomaren Verteidigung auseinandersetzen oder nicht?

-Nein, denn dies fällt nicht in unsere Zuständigkeit, es ist Sache der Vereinigten Staaten, das deutsche Problem könnte niemals gelöst werden;
-Ja, denn was wäre ein sogenanntes politisches Europa, das in der Außenpolitik nur fromme Wünsche aussprechen könnte, und das vor allem nicht für sich selbst, das heißt zuerst für seine Verteidigung, verantwortlich wäre?

Wenn in Reden der Begriff des politischen Europa auftaucht, so hat es mitunter den Anschein, daß es sich in erster Linie oder ausschließlich um institutionelle Fortschritte handelt. Vertrauen in die Institutionen zu setzen ist gewiß eine Lösung, oft die beste, und ich würde mich hierüber nicht beklagen. Übersehen wir aber nicht, daß jede institutionelle Lösung nur bis zu einem gewissen Problemgrad, genauer gesagt, bis zu einer gewissen ?Schwierigkeitsmenge? brauchbar ist. Wenn die Meinungsverschiedenheiten in grundsätzlichen Fragen zu schwerwiegend oder die Ungewißheiten über die Zielsetzung zu groß sind, dann muß nicht in erster Linie oder ausschließlich von den Institutionen, sondern von den Sachproblemen und Zielen, also von den Problemen und Zielen des europäischen Aufbaus, gesprochen werden. Das politische Europa setzt schließlich auch voraus, daß man weiß, welchen Kurs Europa in der Politik nehmen will.

Wenn Europa heute insbesondere die Jugend weniger anspricht, so sind daran, wie ich gesagt habe, unsere Erfolge schuld, aber auch das für unsere Arbeit gewählte Gebiet, das zu einer wirtschaftlichen Übertechnisierung mit einem mitunter entmutigenden Esoterismus führt, und hier sind wir ein wenig unsere eigenen Gefangenen. Aber mehr noch: es geht auch um die Beweggründe unserer Arbeit.

Es ist ohne Zweifel eine ernste Sache, daß zwischen den Unterzeichnerländern eines Vertrags kein Einvernehmen mehr über dessen ?Hintergedanken? besteht. Es ist aber mindestens genau so schwerwiegend, daß für die breite Masse hinsichtlich der Ziele – oder wenn ich so sagen darf: der Vordergründe – kein klarer und machtvoller Anreiz mehr besteht.

Worin ist Europa noch eine Erwartung, worin noch eine Antwort, das ist es, was wir uns zu fragen haben. Gewiß darf man Fortschritt nicht mit Agitation verwechseln. Wenn man sieht, daß auf den politischen Bühnen oder unter den Figuren des politischen Lebens, die die Leidenschaft der zwanzig Jahre nach mir Geborenen zu entfachen scheinen, sei es der Vietnam-Krieg oder das Negerproblem in Amerika, Che Guevara oder Mao-tse-tung, kein einziges europäisches Thema, kein einziger europäischer Name zu finden ist, dann mag man sich Sorgen oder zumindest Gedanken machen.

Wie kann nach außen hin das, was wir tun, sagen, planen, auf Anhieb als eine konkrete Antwort auf das Streben nach Entspannung in Europa und in der Welt verstanden werden, wie kann es als eine Hoffnung, hier wie in Prag, und nicht nur als ein Herumflicken an einem Status quo bewertet werden, wie ihn die etablierte Macht ganz natürlich beizubehalten trachtet? Und wenn unsere internen Probleme, die in allen Ländern unser Bewußtsein bewegen, Probleme der menschlichen Beziehungen – von den schulischen oder sozialen Beziehungen bis zu den Beziehungen zwischen Bürger und Staat – sind, welche Verbindung besteht dann zu unseren Bemühungen, welche Konsequenzen müssen wir dann aus unseren Erfolgen oder Mißerfolgen ziehen?

Während die Welt dieses traurige und paradoxe Bild einer immer stärkeren Gleichschaltung bei immer geringerer innerer Ordnung bietet, während in der Landwirtschaft, in der städtischen Struktur, im Hochschulleben und in der parlamentarischen Volksvertretung die sowjetischen Lösungen immer weniger als die Lösungen einer hoffnungsvollen Zukunft, die aus Amerika importierten Lösungen dagegen immer mehr auf unsere Verhältnisse übertragbar erscheinen, liegt die Bedeutung Europas darin, der Rahmen für bestimmte Antworten, nach denen wir alle suchen, und die Heimstatt einer neuen europäischen Kultur – um nicht eines ?European way of life? zu sagen – zu sein.

Wo verlaufen die Grenzen Europas? Ein Skandinavier mag sich in Minnesota heimischer fühlen als in Portugal, ein Italiener in Argentinien heimischer als in Belgien und ein Engländer findet in Neuseeland seine Sprache, seine Religion, seine Sportarten und bis hin zur Farbe seiner Briefkästen wieder. Unser erstes Problem ist es, uns zu definieren: durch unsere Stimme, die wir in der Welt geltend machen können – gewiß. Aber auch durch die Art, wie wir unser eigenes Leben, unseren Lebensstil erfinden und organisieren. Und hier werden wir, vielleicht auf weite Sicht, die beste Rechtfertigung für etwas Konkretes und Eigenständiges dieses Kontinents finden, der bisher immer wie von sich selbst isoliert erschien.

Jahrhunderte lang war Europa eine fast universale Quelle von Ideen, Initiativen, Denk- oder Lebensweisen – zum Glück oder Unglück der anderen. Europa brauchte sich nicht zu definieren, da sich die übrige Welt weitgehend nach ihm definierte, indem sie es Europa gleichzutun versuchte oder sich dagegen sträubte. Für wen sind wir heute auch nur ein Beispiel?

Wir müssen wieder zum Vorbild werden, zunächst für uns selbst. Gewiß liegt dies weder in der Zuständigkeit des Vertrags von Rom noch in derjenigen der Kommission. Ich möchte sogar sagen, daß dies nicht mehr die Sache von Verträgen oder Institutionen ist. Es ist eine Angelegenheit der Kultur und damit eine Angelegenheit der Menschen.

Der Gemeinsame Markt schafft nur ein Fundament, und dieses Fundament darf unter keinen Umständen – weder in seinen wesentlichen wirtschaftlichen Aspekten noch in bestimmten bereits bestehenden Beziehungen – angetastet werden. In diesem Zusammenhang möchte ich die deutsch-französische Wiederversöhnung als eine Bürgschaft des Friedens für uns wie für die anderen erwähnen.

Jetzt muß auf diesem Weg weiter gegangen werden. Goethe hat einmal zu Eckermann gesagt: ?Das Ziel ist der Weg?. Was auf dem Weg zu finden ist, von Schweden bis Spanien, von Irland bis zur Türkei, und was wir finden werden, wenn wir den Weg weiter gehen, sind Europäer.

Foto Präsident der Kommission der Europäischen Gemeinschaft

Präsident der Kommission der Europäischen Gemeinschaft