Rede des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen

Rede des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen, Dr. Albert Maas

Exzellenzen, meine sehr verehrten Gäste aus Italien, meine Herren Vertreter der Nachbarstaaten, Herr Ministerpräsident Arnold, meine Herren Minister, Magnifizenz, Herr Dompropst, meine Damen und Herren!

Der ehrwürdige Raum, in dem wir uns befinden, der Kaisersaal des Aachener Rathauses, der in der Geschichte des deutschen Volkes eine so große Rolle gespielt hat, erlebt heute einen seiner großen Tage! Der Ministerpräsident des neuen Italien, Seine Exzellenz, ALCIDE DE GASPERI, ist zu uns gekommen, um den Internationalen Karlspreis der Stadt Aachen, der jährlich an einen hervorragenden Förderer der europäischen Einigungsbewegung verliehen wird, in Empfang zu nehmen!

Ich darf Sie, Exzellenz, und Ihre Frau Gemahlin im Namen der Stadt Aachen auf das Herzlichste begrüßen und Ihnen danken für Ihren Besuch!

Noch starren uns die Wunden an, die dieser ehrwürdige Raum in dem wahnsinnigsten aller Kriege empfangen hat. Sie starren uns an, diese Wunden, wie eine furchtbare Mahnung, wohin Europa gekommen ist. Lernen die Völker nicht aus der Geschichte, wie die Pessimisten sagen? Dann müßten wir verzweifeln. Oder stimmt das Wort, daß Gott die Völker heilbar erschaffen hat? Wir wollen das Letztere glauben!

Der drohende Zusammenbruch der christlich-abendländischen Kultur, die Erkenntnis, daß eine endgültige Wende in den Beziehungen der europäischen Völker zueinander kommen mußte, hat die europäische Bewegung aufkommen lassen, die die Vereinigung aller europäischen Völker in einem gemeinsamen Staatswesen erstrebt. Seitdem haben alle Europäer, die noch den göttlichen Funken der Hoffnung in sich tragen, neuen Lebensmut bekommen. Mit der ganzen Leidenschaft, deren sie fähig sind, rufen sie wie die Kreuzfahrer vor 1000 Jahren: Gott will es.
Das einige Europa muß werden, jetzt, noch in dieser Generation, solange die Wunden des furchtbaren Krieges noch brennen!

Dieser Ruf mußte ganz besonders in der Stadt Aachen zünden! War doch unsere Stadt vor mehr als 1000 Jahren unter dem großen Karl einmal Mittelpunkt des damaligen europäischen Reiches. Diese geschichtliche Tradition ist in unserer Stadt immer lebendig geblieben. So sehr auch diese Stadt in den kommenden Jahrhunderten ein Mittelpunkt der deutschen Geschichte wurde, so ist sie doch stets eine europaoffene Stadt geblieben, die gute Beziehungen aufrecht erhielt zu ihren Nachbarn, zu der die Wallfahrer Europas pilgerten alle sieben Jahre, um ihre großen Heiligtümer zu verehren, zu deren heißen Quellen die Kranken kamen, um Heilung zu finden, zu der die Staatsmänner reisten, um nach blutigem Ringen wieder Frieden zu schaffen!

So schuf eine noch sehr lebendige, geschichtliche Tradition in Verbindung mit den furchtbaren Kriegserleben und der Qual der Grenzen, die die Stadt einengen und in ihrem Wachstum behindern, eine sehr militante, europäische Gesinnung! Und aus dieser Gesinnung heraus schufen Bürger dieser Stadt vor nunmehr 3 Jahren den Internationalen Karlspreis der Stadt Aachen. Wir wollten mithelfen in der europäischen Bewegung. Wir wollten durch die jährliche Verleihung des Karlspreises immer wieder der großen Idee einen neuen Anstoß geben. Mehr wollten wir nicht! Wenn das einige Europa kommt, wird ein neues Zeitalter anbrechen und wir alle werden gesegnet werden. Wir halten uns an das Wort: "Suchet zuerst das Reich Gottes, und alles andere wird Euch hinzugegeben werden!"

Heute verleihen wir nunmehr unseren Karlspreis zum dritten Male.

Der erste Preisträger konnte nur der Graf Coudenhove-Kalergi sein, der schon seit dem ersten Weltkriege unablässig für ein einiges Europa gekämpft hatte.

Der zweite Preisträger wurde der bekannte noch jugendliche holländische Föderalist Professor Brugmans, dem die herrliche Aufgabe gestellt wurde, durch sein Europa-Kolleg in Brügge eine geistige Elite für Europa heranzubilden.

Heute sind wir so glücklich, einem aktiven europäischen Politiker Italiens den Karlspreis antragen zu können. Es ist eine Sache mit agitatorischer Kraft eine große Idee in den Völkern lebendig zu machen, es ist eine andere Sache in zähem Ringen mit Kleinmut und Egoismen aller Art diese Idee ihrer Verwirklichung näher zu bringen! Und das ist, Exzellenz, Ihr geschichtliches Verdienst! Ich brauche Ihr kluges Verhandeln auf den zahlreichen europäischen Konferenzen nicht zu schildern. Wir haben mit leidenschaftlicher Anteilnahme schon das Wirken Ihres Vorgängers, des Grafen Carlo Sforza, verfolgt. Noch unvergessen ist das Wort, das er auf der Europa-Tagung 1950 in Straßburg gesprochen hat: "Welch ein herrlicher Tag wird es für die ganze Welt sein" - und dieser Tag muß kommen, wenn wir freie Menschen bleiben wollen - "an dem wir in Straßburg ausrufen können: Wir, das europäische Volk!" Sie aber, Exzellenz, haben zielbewußt Italien auf den europäischen Weg gebracht! Ohne Italien wären wir nicht so weit, ohne Italien kann Europa nicht werden. Sie haben die Voraussetzung für Ihr europäisches Wirken durch Ihren erfolgreichen Kampf für die Verteidigung der christlich-abendländischen Kultur in Italien geschaffen. Sie werden stets zu den großen Baumeistern des werdenden Europa gezählt werden!

Und so hat denn das Direktorium der Karlspreisgesellschaft einstimmig beschlossen, Ihnen den "Internationalen Karlspreis" anzutragen. Möge der Segen des größten Baumeisters Sie begleiten, ohne den auch das europäische Haus nicht werden kann! Möge unsere bescheidene Ehrung für Sie ein Zeichen sein, wie sehr Ihr politisches Handeln in Deutschland und insbesondere in unserer Stadt Aachen ein Echo gefunden hat! Diese Preisverleihung ist ein neues Band, das uns nicht nur mit Ihnen, Exzellenz, verbindet, sondern auch mit Ihrem schönen Lande Italien und mit dem ewigen Rom. Dieser Tag gehört in die Reihe der großen historischen Tage dieser Stadt, die anfingen mit dem Tage, da Papst Leo III im Jahre 804 mit Karl dem Großen das Weihnachtsfest feierte und sich fortsetzten im Jahre 1333, als der große italienische Dichter Petrarca unsere Stadt besuchte und mit dem Jahre 1927, da der päpstliche Nuntius Pacelli, unser jetziger Papst Pius, bei Verhandlungen zur Errichtung des Aachener Bistums in unserer Stadt weilte. Wir freuen uns heute durch diese Verleihung geben zu können, wie der große Sohn unserer Stadt, der Historiker Ludwig von Pastor, der zuletzt Gesandter Österreichs beim päpstlichen Stuhl war, Italien und Rom gegeben hat durch seine große "Geschichte der Päpste".

Wir sind glücklich darüber, daß durch die Kunst der Staatsmänner die europäische Idee gerade im letzten Jahre so große Fortschritte gemacht hat. Vor wenigen Tagen ist in Straßburg die erste Versammlung der Montanunion zusammengetreten und damit der Schuman-Plan Wirklichkeit geworden.

Damit beginnt die erste übernationale Organisation Europas ihre bedeutungsvolle Arbeit. Sie hat zugleich den Auftrag bekommen, eine gesamteuropäische Verfassung auszuarbeiten. So können wir hoffen, bald das Richtfest der gemeinsamen Verfassung zu feiern!

Aber nicht nur in den großen, sondern auch in den kleinen Dingen sind wir weiter gekommen. Wir freuen uns, daß im letzten Jahre eine Reihe von Verbesserungen im Grenzverkehr mit unseren Nachbarn eingetreten sind. Wir hoffen, daß größere bald folgen werden!

Wir sind dankbar, daß eine Reihe europäischer Staaten die Visumgebühren für Jugendliche abgeschafft haben. Wir hoffen, daß bald die Visen selbst als überflüssig erkannt werden.

Wir harren sehnsüchtig des Tages, da der Europapaß geboren wird, wir harren des Tages, da wir in Aachen eine Fahrkarte lösen können, die uns ohne anachronistisches Grenzgetue nach Rom bringt. Wir harren des Tages, da eine Währung, für alle Europäer gültig, fest und ständig wieder neuen Wohlstand schafft.

Inzwischen wollen wir die Arbeit der Staatsmänner unterstützen, indem wir mithelfen eine europäische Gesinnung zu schaffen, Brücken zu schlagen von Volk zu Volk, von Mensch zu Mensch. Eine Gesinnung, die nicht mehr in den Wunden der Vergangenheit wühlt, die wir uns gegenseitig zugefügt haben, eine Gesinnung, die einen endgültigen Schlußstrich setzt unter das, was gewesen ist. Möge es sein, was es wolle!

Wir rufen die Jugend Europas, die jetzt schon über alle Grenzen quillt und sich ein größeres Vaterland erwandern möchte. Wir rufen sie, ihren ungebrochenen Glauben für die größte und erhabenste politische Idee einzusetzen, die jemals die Völker bewegt hat!

Unsere Kinder sollen es dereinst besser haben! Der Gedanke, daß Europa dereinst mal ohne Kriege sein wird, daß seine Völker sich gefunden haben wie Liebende, daß seine Landschaften und Kunstschätze allen offen stehen werden, der Gedanke ist so berückend schön, der Gedanke ist so erhaben und groß, daß alle Gutgesinnten ihre letzten Kräfte dafür einsetzen sollten!

Gott schenke Ihnen, Exzellenz, auf Ihren weiteren Wegen Gesundheit und Kraft! Die Verwirklichung der europäischen Idee wird unserem alten müden Kontinent neuen Lebensmut verleihen, sie wird ungeahnte wirtschaftliche Möglichkeiten erschließen, sie wird vor allem den langen Frieden bringen, nach dem die Völker alle sehnsüchtig verlangen.

So darf ich Ihnen nunmehr die Plakette des Karlspreises überreichen. Sie trägt auf der Vorderseite das Bild Karls des Großen, auf der Rückseite die Inschrift: Karlspreis der Stadt Aachen 1952, dem Staatsmann und Europäer ALCIDE DE GASPERI. Die Urkunde aber hat folgenden Wortlaut:
Seiner Exzellenz dem Herrn Ministerpräsidenten und Außenminister der Republik Italien, ALCIDE DE GASPERI, wurde der Internationale Karlspreis der Stadt Aachen für das Jahr 1952 im Krönungssaal des Rathauses, der ehemaligen Kaiserpfalz, überreicht in Anerkennung seiner steten Förderung der europäischen Einigung. Seine von Wirklichkeitssinn getragene unermüdliche Hingabe an die politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit der europäischen Völker mit dem endlichen Ziel der überstaatlichen Bindung hat bedeutende praktische Ergebnisse erzielt. Aachen, den 24. September 1952. Es folgen die Unterschriften der Mitglieder des Direktoriums.

So darf ich Sie nunmehr namens der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises, namens der ganzen Stadt Aachen und namens dieser illustren Versammlung auf Herzlichste beglückwünschen!

Was kann ich Schöneres wünschen, als daß Ihnen nach Ihren großen politischen Erfolgen ein schöner Lebensabend im gemeinsamen europäischen Hause beschieden sein möge!

Foto Alcide de Gasperi

Alcide de Gasperi