Begründung des Direktoriums

Begründung des Direktoriums

Begründung des Direktoriums der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen an den britischen Historiker und Publizisten Professor Timothy Garton Ash

Timothy Garton Ash
Foto: Stadt Aachen/Andreas Herrmann

In Würdigung seines herausragenden wissenschaftlichen und publizistischen Werkes ehrt das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen am 25. Mai 2017 den Historiker Prof. Timothy Garton Ash, einen überzeugenden und bedeutenden englischen Europäer und europäischen Engländer, der das Vereinigte Königreich zur europäischen Wertegemeinschaft zählt und wertvolle Beiträge zum Selbstverständnis Europas leistet; der gegen den Brexit argumentierte, heute unter dem Ergebnis leidet, aber nicht aufgeben will, für eine enge Bindung des Vereinigten Königreichs und der EU einzutreten.

Garton Ash bewertet als Historiker den europäischen Integrationsprozess nicht nach kurzfristigen oder tagespolitischen Ereignissen. Er sieht die Krise vor dem Hintergrund komplexer Zusammenhänge und weist darauf hin, dass unsere Welt durch die digitale Revolution und Vernetzung große Umwälzungen erlebt und dabei die vertraute Ordnung überwunden wird. Er tritt dafür ein, dass die Demokratie und ihre Prinzipien, eine liberale und offene Debattenkultur sowie die Verteidigung der Wahrheit gegenüber der Lüge in der Kommunikation erhalten bleiben. Garton Ash bietet den Populisten und Vereinfachern unserer Zeit die Stirn und entwickelt Ideen wie wir uns in der globalisierten Welt verhalten sollten. Dabei gibt er wichtige Anstöße für den Erhalt unserer Werte wie Freiheit, Frieden und Demokratie sowie Wahrhaftigkeit, Toleranz, Recht und Selbstbestimmung.

Wenn Timothy Garton Ash über das Vereinte Europa reflektiert, dann schreibt er als Europäer, der – ironisch und zugleich bewundernd – „die Europäische Union für das denkbar schlechteste Europa hält – abgesehen von allen anderen Europas, die zeitweilig ausprobiert wurden“. Und er schreibt „als Engländer, wenn auch häufig mit einer frustrierten Zuneigung zu unserem schrulligen, kunterbunten Land – England und Großbritannien zugleich“. Kurzum: Er schreibt mit der notwendigen Distanz des kritischen Beobachters und Analysten, der dennoch seine Liebe zu einem in Freiheit und Vielfalt geeinten Europa nicht verhehlen kann – und will. Ein leidenschaftlicher Kämpfer für den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der Union, der den Tag des Referendums am 23. Juni 2016 als „die größte Niederlage seines politischen Lebens“ erfahren musste. Ein Brite, der „rein rechtlich gesehen ab 2018 oder 2019 kein EU-Bürger mehr sein, der aber, genau wie Großbritannien immer ein europäisches Land sein wird, komme, was da wolle, immer ein Europäer bleiben“ wird.

„Europa hat den Faden verloren“, diagnostizierte er bereits vor einem Jahrzehnt. „Während wir das fünfzigjährige Bestehen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, der Vorgängerinstitution der Europäischen Union, feiern, hat Europa vergessen, welche Geschichte es uns eigentlich erzählen will. Über drei Generationen wurde das Nachkriegsprojekt der (west)europäischen Integration von einem gemeinsamen politischen Erzählstrang zusammengehalten, doch der ist mit dem Ende des Kalten Krieges abgerissen. Die meisten Europäer wissen heute nicht mehr, woher sie kommen, und haben keine gemeinsame Vorstellung davon, wo es hingehen soll. Wir haben vergessen, warum es die EU überhaupt gibt und wozu sie nütze ist. Wir brauchen dringend eine neue Geschichte.“

Dabei ging es ihm keineswegs darum, „eine einzige einheitliche Mythologie über die gemeinsame Vergangenheit [Europas zu] konstruieren“. Vielmehr müsse Europa seinem früheren Selbst gegenübergestellt werden, den „selbstzerstörerischen, manchmal auch barbarischen Kapiteln in der Geschichte der europäischen Zivilisation“; denn: „Historisches Wissen und Gewissen sind hier von maßgeblicher Bedeutung, aber es muss eine aufrichtige Geschichte sein, die auch Runzeln und Falten zeigt, keine geglättete mythistoire.“

Indes wäre Garton Ash nicht jener herausragende Grenzgänger zwischen Geschichtswissenschaft, Journalismus und präziser politischer Analyse, würde er allein in der Historie verbleiben. Vielmehr fügte er schon damals seinen Vorschlag an, wie Europas neue Geschichte erzählt werden könnte: eine ehrliche und selbstkritische Darstellung jenes Fortschritts, der uns von den jeweiligen Vergangenheiten hin zu den gemeinsamen Zielen einer gemeinsamen Zukunft führt: unserem Erbe der europäischen Werte. Denn klar ist, „dass wir nicht einfach stehen bleiben können. Wenn wir nicht vorwärts gehen, gehen wir rückwärts. Nicht vorwärts, betone ich, zu irgendwelchen idealisierten Vereinigten Staaten von Europa, sondern zu einer praktischen Konstruktion, die stark genug ist, dem Sturm zu widerstehen“.

Und wenn Garton Ash in einem späteren Gespräch als ein weiteres Schlüsselargument, das uns für Europa motivieren könnte, die Rolle der EU in der Welt benennt und konstatiert, dass wir „eine der großen internationalen Transformationen [erleben], das 21. Jahrhundert wird von aufstrebenden Mächten wie China, Indien und Brasilien dominiert“, die ihre jeweils eigenen historischen Erfahrungen und ihr eigenes kulturelles Erbe in die Wertediskussion einbringen, dann klingt hierbei an, womit sich der Historiker in den zurückliegenden Jahren in einer Weise beschäftigt hat, die ihresgleichen sucht: den Interaktionen in einer Welt, die immer enger zusammengerückt und immer tiefgreifender vernetzt ist, einer Welt, in der wir alle Nachbarn sind, in der es mehr Telefone als Menschen gibt, „kein globales Dorf, sondern eine globale Großstadt, eine virtuelle Kosmopolis“, in der nahezu jedermann Autor, Journalist und Verleger sein und theoretisch Milliarden Menschen in Höchstgeschwindigkeit erreichen kann; in der es mehr Gelegenheiten gibt, seine Meinung kundzutun denn jemals zuvor – im positiven wie im negativen Sinne.

Garton Ash stellt die Frage nach dem Funktionieren der künftigen Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund rief er eine breite Debatte über die Redefreiheit (http://freespeechdebate.com) als Forschungsprojekt des „Dahrendorf Programme for the Study of Freedom“ am St Antony’s College in Oxford, ins Leben: Wissenschaftliche Einrichtungen und Journalisten, Nichtregierungsorganisationen und Privatpersonen – Teilnehmer aus der ganzen Welt diskutieren seither Konflikte, die aus der Kollision unterschiedlicher Überzeugungen entstehen.

Diese Debatte lieferte dem Historiker den Stoff für sein 2016 unter dem geradezu schlicht anmutenden Titel „Redefreiheit“ erschienenes Werk, in dem er die liberale Idee der Rede- und Meinungsfreiheit in das 21. Jahrhundert übersetzt und zehn Grundprinzipen der Kommunikation in einer vernetzten Welt vorschlägt – gleichsam die Antwort eines großen Wissenschaftlers und Publizisten auf „fake news“ und „hate speeches“, auf Populismus und Vereinfachung; ein flammendes Plädoyer für die Freiheit des Wortes, den offenen Diskurs und für eine Stärkung der Zivilgesellschaft.

„Meinungsfreiheit hilft uns dabei, mit Vielfalt umzugehen, mit einer immer diverseren Welt, in der alle mit allen verbunden sind“, ist Garton Ash überzeugt, denn „wie sollten wir vernünftige politische Entscheidungen treffen, wenn wir nicht alle Fakten kennen? Und es gibt noch ein wichtiges Argument: Redefreiheit hilft uns beim Suchen und Streben nach der Wahrheit.“

Und für dieses Streben nach Wahrheit bieten seine Prinzipien gleichsam Leitplanken an, mit deren Hilfe er die weltweite Kommunikation zivilisieren will. Dabei legt er ausführlich dar, weshalb er – der zunehmend vergifteten Stimmung im Netz zum Trotz – gegen eine zu starke Regulierung durch Gesetze oder Maßnahmen von Regierungen oder Konzerne ist. Natürlich, wer durch sein Reden das Leben anderer gefährdet, der muss juristisch belangt werden können, aber „man soll Verhetzung nicht per Gesetz verfolgen, das bewirkt wenig. Ich propagiere eine robuste Gegenrede in der Zivilgesellschaft und in den Medien. Ohne uns gibt es kein Facebook und kein Google. Ohne uns gibt es kein Anzeigengeschäft. Also müssen wir klarmachen, was wir wollen. Wir haben Potenzial. Denn wir sind genauso wichtig – wenn nicht wichtiger – als die jeweilige Regierung“, setzt Garton Ash vor allem auf gesellschaftliche Sanktionierung. Und wenn es einen Kernsatz seines jüngsten Werkes gibt, dann dürfte dies Regel Nummer 5 sein, nach der wir „offen und mit robuster Zivilität über alle Arten von Unterschieden zwischen Menschen [sprechen]“.

Man muss Garton Ash in diesem oder anderen Punkten nicht uneingeschränkt zustimmen – und er selbst stellt als Wissenschaftler seine Prinzipien sehr bewusst auch weiterhin zur Diskussion –, in jedem Falle ist sein Werk Anstoß und herausragender Beitrag zu einer Debatte, die in Europa und weit darüber hinaus dringend geführt werden muss, die Debatte, wie wir mit unseren Normen und Werten, speziell dem Recht auf Redefreiheit, in einer vernetzten Welt umgehen, eine Debatte, die uns alle angeht, wollen wir nicht den Hasspredigern und Populisten das Feld überlassen.

Für sich selbst, den „unbekehrbaren englischen Europäer“, sieht Garton Ash für die nahe Zukunft zwei weitere Aufgaben, die in einem gewissen Spannungsverhältnis stehen: Nachdem sich das britische Volk für den Brexit entschieden hat, will er alles daransetzen, „den Schaden für dieses Land zu beschränken. Da wir in bestem Glauben vorhergesagt haben, dass der Brexit katastrophale Folgen haben werde, liegt es nun an uns, sicherzustellen, dass wir nicht recht behalten. Andererseits müssen wir als Europäer alles dafür tun, um sicherzugehen, dass die Europäische Union ihre Lektion aus diesem schmerzlichen Rückschlag lernt […]. Denn sollten die EU und die Eurozone unverändert bleiben, werden sie von Tausenden kontinentaleuropäischen Versionen [von EU-Gegnern] überschwemmt werden. Trotz ihrer Schwächen ist die Union es immer noch wert, gerettet zu werden.“

Die Gestaltung der gemeinsamen europäischen Zukunft braucht heute mehr denn je den offenen Dialog, und sie braucht die Beteiligung vieler – der Bürgerinnen und Bürger, der Politik und der Wirtschaft, der Kultur und der Wissenschaft. Denn nur wenn im öffentlichen Diskurs Ziele und Erwartungen ebenso wie Schwächen und Grenzen der Gemeinschaftspolitik definiert werden, können die europäischen Völker wieder an die Europäische Union glauben und ihr vertrauen.

Mit dem Historiker und Publizisten Prof. Timothy Garton Ash ehrt das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen im Jahre 2017 einen herausragenden englischen Wissenschaftler, der mit Leidenschaft und intellektueller Schärfe den Weg der Europäischen Union begleitet und kommentiert und der der Gemeinschaft auch gedankliche Tiefe gibt. Mit seinem wissenschaftlichen und publizistischen Werk gibt Timothy Garton Ash bedeutende Anstöße, den Herausforderungen einer globalen und vernetzten Welt mit Prinzipien zu begegnen, die auf zutiefst europäischen Werten basieren.

Biographisches:

Timothy Garton Ash wurde am 12. Juli 1955 in London geboren. Nach Abschluss eines Geschichtsstudiums an der Universität Oxford führten seine Forschungen zum deutschen Widerstand gegen Hitler den Doktoranden Ende der 1970er-Jahre an die Freie Universität Berlin – mit Abstechern an die Humboldt-Universität jenseits des Eisernen Vorhangs. Nachdem er in Oxford die Geschichte des Dritten Reiches studiert hatte, war er fasziniert von der Frage, was den einen Menschen zum Widerstandskämpfer gemacht hatte, den anderen zum Kollaborateur. „Am Ende arbeitete ich dann doch nicht über den deutschen Widerstand. Ich entdeckte nämlich, dass jenseits der Berliner Mauer im kommunistisch beherrschten Ostdeutschland lebendige Menschen mit demselben Dilemma zwischen Widerstand und Kollaboration zu kämpfen hatten. Also schrieb ich statt einer Doktorarbeit über Berlin unter Hitler ein Buch über Berlin unter Honecker. In der Folge beschäftigte ich mich mit Dissidenten im kommunistisch regierten Mitteleuropa und begleitete sie auf ihrem steinigen Weg zur Befreiung.“

Zwischen den Brennpunkten Warschau, Prag, Budapest und Berlin hin- und herreisend, führte der Brite Gespräche mit Intellektuellen und maßgeblichen Politikern und wurde zu einem der bedeutendsten Chronisten und publizistischen Begleiter der Freiheitsjahre 1989/90. Hatte er 1981 „‚Und willst Du nicht mein Bruder sein…’ Die DDR heute“ und 1983 „The Polish Revolution: Solidarity“ veröffentlicht, wurde er mit seinem Buch „Ein Jahrhundert wird abgewählt“ 1990 schlagartig in Deutschland bekannt. Sein drei Jahre später erschienenes monumentales Werk „Im Namen Europas“ machte ihn weltberühmt. Für diese Darstellung eines halben Jahrhunderts deutscher Politik im Kontext der Ost-West-Auseinandersetzung führte Garton Ash ausführliche Gespräche mit fast allen damals Beteiligten, nahm Einblick in persönliche Aufzeichnungen und Korrespondenzen – beispielsweise der Bundeskanzler Brandt, Schmidt und Kohl, aber auch von Breschnew und Gorbatschow – und nutzte alle erreichbaren Materialien bis hin zu Stasi-Geheimakten.

„Die Akte ‚Romeo’“, die die Staatssicherheit über den jungen Forscher im Berlin der 1980er-Jahre angelegt hatte, steht im Mittelpunkt der spannenden gleichnamigen Reportage, die der Historiker 1997 veröffentlichte. Auch die zur Jahrtausendwende erschienene Bilanz der postkommunistischen Jahre nach 1989 „Zeit der Freiheit“ und sein 2004 veröffentlichtes leidenschaftliches Plädoyer für eine „Freie Welt“ fanden breite Beachtung. Unter dem Titel „Jahrhundertwende“ erschien 2010 eine Sammlung weltpolitischer Betrachtungen, in der die großen, oft widersprüchlichen Bewegungen im ersten Jahrzehnt des noch jungen 21. Jahrhunderts analysiert werden.

Nachdem Garton Ash mehrere Jahre im noch geteilten Berlin verbracht hatte, nahm er 1986 eine wissenschaftliche Tätigkeit am Woodrow Wilson International Center in Washington DC auf (bis 1987). Seit 1990 lehrt der Experte für Europäische Gegenwartsgeschichte am St. Antony’s College der Universität Oxford, dessen European Studies Centre er als Direktor leitete. 2000 wurde er zudem „Senior Fellow“ der Hoover Institution an der hoch renommierten Stanford University in den USA. Neben seiner wissenschaftlichen Arbeit engagiert er sich unter anderem in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und schreibt regelmäßige Kolumnen im „Guardian“, die darüber hinaus in führenden europäischen Zeitungen veröffentlicht werden, sowie Beiträge für die New York Review of Books u.a.m.