Rede von Helmut Schmidt, Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland

Rede von Helmut Schmidt, Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland

Majestäten,
meine Damen und Herren!

Durch die Verleihung des Karlspreises an den König von Spanien verbinden wir europäische Geschichte mit europäischer Gegenwart. Der Name Karls des Großen, den diese Auszeichnung trägt, steht für einen alten europäischen Traum. Es ist der Traum von der Einheit in der Vielfalt – einer Einheit, die am Ende des Altertums mit dem Zusammenbruch Roms verlorengegangen war, und einer Vielfalt, die in einem langen geschichtlichen Prozeß zur individuellen Ausprägung der europäischen Nationen führte.

Die politische Einigung des Kontinents – unter Karl dem Großen schien sie gelingen zu können. Zu seinem Einigungswerk zählte auch der Vorstoß, Spanien, das von islamischen Eroberern aus Nordafrika weitgehend überflutet war, für die Europäer zurückzugewinnen. Noch heute zeugt das "Rolandslied" von diesem gescheiterten Versuch – ein Dokument übrigens, das zu dem gemeinsamen literarischen Erbe aller Europäer gehört.

Aus den Freiräumen heraus, die der arabischen Eroberung widerstanden, ist es den Spaniern in jahrhundertelangen Kämpfen dann selber gelungen, den iberischen Subkontinent für den christlichen Glauben und für Europa zurückzugewinnen. Diese Jahrhunderte bedeuteten aber nicht nur ein religiöses und politisches Gegeneinander, sondern in vieler Hinsicht auch ein kulturelles Miteinander.

Bis in das 16. Jahrhundert hinein, in dem unter dem spanischen König Carlos I. oder – wie er sich in Deutschland nannte – Kaiser Karl V. noch einmal die Einheit eines großen Teiles Europas, jedenfalls der Spanier und der Deutschen gelang, hat Spanien als Brücke zwischen islamischer und abendländischer Kultur fungiert.

Die mittelalterliche Kultur des christlichen Abendlandes ist ohne diese Berührung, ohne diesen fruchtbaren Austausch mit dem islamischen Kulturkreis, und das heißt eben ohne Spanien undenkbar. Ohne die arabische Überlieferung wäre Aristoteles verlorengegangen. Über die großen arabischen Gelehrten und ihre maurischen Nachfolger auf spanischem Boden ist der antike Wissensschatz in der Medizin, in der Physik und in den Denkgebäuden der Metaphysik nach Europa gelangt.

Auch die spanische Kultur gibt Zeugnis von diesem fruchtbaren Brückenschlag über die Grenzen Europas hinaus: da sind die großen Zeugnisse spanisch-maurischer Architektur, die so großen Einfluß auf die europäische Architekturgeschichte gewonnen haben und die noch heute Jahr um Jahr die Bewunderung so vieler europäischer Besucher Ihres Landes, Majestät, finden. Davon zeugt aber auch das spanische Heldenepos der Reconquista, der "Cid", das nicht nur von den Kämpfen zwischen Muselmanen und Christen berichtet, sondern auch von ihrer Gemeinschaft in der Achtung ritterlicher Ideale.

Auf spanischem Boden kam es zu dieser Symbiose. In Spanien entstand jener Beitrag zur europäischen Kultur, der für die großen Jahrhunderte spanischer Machtentfaltung die abendländische Kultur insgesamt geprägt hat.

Welche Wirkung dabei Spanien gehabt hat, mag die Erinnerung an das Schicksalsjahr 1492 belegen: Mit dem Abschluß der spanischen Reconquista durch die Eroberung Granadas, mit der Flucht oder Vertreibung zahlreicher Mauren nach Marokko, mit der Vertreibung der spanischen Juden und der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus gingen von Spanien tiefreichende Wirkungen auf Europa und auf die Weltgeschichte insgesamt aus.

Die literarische Spiegelung des Ausklangs der spanischen Ritterzeit gehört in der Gestalt des Don Quijote von der Mancha zum gemeinsamen Kulturerbe aller Europäer. Ohne Zweifel ist der "Ritter von der traurigen Gestalt" die populärste Figur der spanischen Literatur in Europa geblieben. Goethe, einer der größten der deutschen Kultur, hat Cervantes, den Schöpfer dieser Gestalt, als den – neben Shakespeare – bedeutendsten Schriftsteller überhaupt bezeichnet.

Mit den Mauren sind damals auch die Juden aus Spanien vertrieben worden. Viele dieser Juden fanden in Westeuropa eine neue Heimat. Zum Beispiel meine Heimat Hamburg verdankt diesen spanischen Emigranten vieles.

Mit der Entdeckung Amerikas endlich öffnete sich die Geschichte Europas zur Weltgeschichte. In Karls V. Reich ging die Sonne nicht unter, und sie leuchtete über Spaniern und Deutschen.

Aber nicht nur Spaniens Literatur gehört zu diesem gemeinsamen Erbe. Ebenso unverzichtbar für die gemeinsame kulturelle europäische Identität sind die Werke der großen spanischen Maler -–von El Greco und Velazquez über Goya bis hin zu Picasso. Mit der Verleihung des Karlspreises 1982 an König Juan Carlos sind wir uns dieses Erbes dankbar bewußt, aber wir ehren heute den Monarchen der spanischen Demokratie. Seit der liberalen Verfassung von Cadiz von 1812 hat unser politischer Begriff der Liberalität seine Wurzel in dem spanischen Wort Liberales.

Der Karlspreis 1982 ehrt ein europäisch gesonnenes, Demokratie-verkörperndes Staatsoberhaupt. In Ihrem Lande haben Sie, Majestät, eine bewundernswürdige politische Leistung erbracht. Sie haben die schwierige Aufgabe gemeistert, Ihr Volk auf dem Weg der freiheitlichen Demokratie zu führen. Dazu bedurfte es großer Integrationskraft. Dabei haben Sie nicht gezögert, Widerstände durch entschlossenes persönliches Eingreifen zu überwinden.

Erlauben Sie mir ein sehr persönliches Wort. Es kommt von einem an Jahren schon etwas Älteren – und es kommt aus der politischen Berufserfahrung eines der dienstältesten Regierungschefs in Europa: Ich habe Ihre Leistung schon seit November 1975 bewundert – Ihren demokratischen Instinkt und zugleich die Würde, die Sie der spanischen Demokratie verleihen! Ich habe seitdem mehrere jüngere Freunde in mehreren Lagern Spaniens gefunden und bin insgesamt tief beeindruckt von dem Reichtum Spaniens an kraftvollen jüngeren Männern, die zugleich von demokratischer Sicherheit und zugleich von politischer Reife ausgezeichnet sind. Ich möchte diesen Männern Spaniens – vertreten durch Ihre Person, Majestät! – meinen großen Respekt und meine Sympathie bekunden.

Sie, Majestät, haben sich beispielhaft zu den Grundwerten bekannt, die Europa seine politische Identität verleihen und die politischen Grundlagen der Europäischen Gemeinschaft bilden.

Dieses Europa, wie wir es begreifen, steht für die großen Ideen der politischen und sozialen Freiheiten. Die Staaten der Europäischen Gemeinschaft haben es sich zur Aufgabe gesetzt zu zeigen, daß eine freie Gesellschaft und ein freiheitlich demokratischer Staat nicht nur schönes Ideal oder ferne Utopie sind, sondern daß sie sich dauerhaft verwirklichen lassen. Dies ist nicht einfach, und daß Rückschläge und Enttäuschungen dabei nicht ausbleiben, sehen wir gerade in diesen Tagen.

Um so mehr begrüßen wir die Entschiedenheit, mit der Sie, Majestät, und mit Ihnen das spanische Volk den Weg nach Europa eingeschlagen haben. Den Beitritt Spaniens zur Europäischen Gemeinschaft haben wir immer gewünscht, weil wir darin eine Bereicherung sehen. Ich habe von der Brücke der spanischen Kultur zur arabisch-islamischen Welt gesprochen. Spaniens Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft wird uns zu einer nicht weniger bedeutsamen Brücke verhelfen, indem er uns näher an die spanisch sprechenden und der spanischen Kulturtradition verbundenen Völker Lateinamerikas heranführt. Auch mit ihnen brauchen wir eine enge Zusammenarbeit.

Ihr Land, Majestät, hat große Vorkämpfer für ein geeintes Europa hervorgebracht. Bereits 1937 schrieb Ortega y Gasset: "Europa ist als Gefüge kleiner Nationen entstanden. Nationalgedanke und Nationalgefühl waren in gewissem Sinn seine bezeichnendsten Erfindungen. Nun sieht es sich gezwungen, sich selbst zu überwinden. Dies ist das Schema des gewaltigen Dramas, das sich in den kommenden Jahren abspielen wird." Und an anderer Stelle ging er dann weit darüber hinaus: "Einzig der Entschluß, aus den Völkergruppen des Erdteils eine große Nation zu errichten, könnte den Puls Europa wieder befeuern."

Schon einmal, 1973, wurde hier in Aachen ein unbeirrbarer Streiter Spaniens für freiheitliches und demokratisches Denken geehrt – Salvador de Madariaga. Auch er hat wesentlich dazu beigetragen, dem Gedanken der Einheit Europas zum praktischen Durchbruch zu verhelfen; auch er hat darauf beharrt, die Vollendung dieses Einigungswerkes zu fordern.

Die Europäische Gemeinschaft befindet sich gegenwärtig in ihrer wirtschaftlich wohl schwierigsten Lage. Sie steht vor schweren Herausforderungen, denen sich die Staaten der Gemeinschaft nur gemeinsam werden stellen können. Ohne den großen Binnenmarkt allerdings, der allen Ländern der Gemeinschaft große Vorteile gebracht hat, ohne eine enge wirtschafts- und währungspolitische Kooperation, wäre es für die einzelnen Mitgliedsländer kaum möglich, mit den Problemen der Anpassungskrise an die neuen weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen fertig zu werden.

Die Weltwirtschaftskrise erfordert, daß die Gemeinschaft in ihrer Handlungsfähigkeit gestärkt und daß die Zusammenarbeit und der Zusammenhalt unter den Mitgliedstaaten weiter entwickelt und verbessert werden. Nur so kann die Gemeinschaft sich auch den Herausforderungen gewachsen zeigen, die an sie als Partner in der Weltpolitik gestellt sind.

Diese Rolle eines Partners für eine Politik des Friedens und der Freiheiten kann Europa nur im Bündnis mit den Demokratien Nordamerikas verwirklichen. Nur so ist die für den Frieden unabdingbare Bewahrung des Gleichgewichts in Europa und in der Welt möglich.

Daher ist es konsequent, daß Ihr Land, Majestät, auf seinem Weg in die Gemeinschaft westlicher Staaten sich auch entschlossen hat, Mitglied der Nordatlantischen Allianz zu werden, die schon immer mehr bedeutete als ein militärisches Bündnis. Eindrucksvoll hat der Außenminister Ihres Landes bei der Übermittlung des Beitrittswunsches die Zielsetzung des Nordatlantikvertrages hervorgehoben, der Spanien sich nun verpflichtet fühlt, nämlich – und ich zitiere aus dem Vertrag: "die Freiheit, das gemeinsame Erbe und die Zivilisation ihrer Völker, die auf den Grundsätzen der Demokratie, der Freiheit der Person und der Herrschaft des Rechts ruhen, zu gewährleisten".

Wir sehen in dem Bestreben Spaniens, in die Gemeinschaft der freiheitlichen Demokratien des Westens einzutreten, einen Beweis für die Vitalität und trotz großer Schwierigkeiten ungebrochene Anziehungskraft dieser Gemeinschaft. Wir sind uns aber auch der Bedeutung des spanischen Beitrittswunsches zur Europäischen Gemeinschaft und zum Nordatlantischen Bündnis für die Zukunft Spaniens, für die Zukunft seiner europäischen Nachbarn und der gesamten westlichen Welt bewußt.

Die Bundesregierung sieht sehr klar die große Bedeutung zügiger Beitrittsverhandlungen zur EG und ihres erfolgreichen Abschlusses.

Natürlich wissen wir, daß sich an den Abschluß der Verhandlungen eine Anpassungsperiode anschließen wird, die lang und die nicht einfach sein wird. Es mag dabei auch Enttäuschungen geben, weil oft Erwartungen zu kurzfristig gesetzt werden, während die großen Vorteile des gemeinsamen Marktes aber erst auf längere Sicht wirksam sein können. Der wechselseitige Anpassungsprozeß wird erhebliche Zeit benötigen, deshalb muß er durch die Vereinbarung entsprechender Mechanismen und Fristen für den Übergang gestützt werden.

Die Bundesregierung bemüht sich nach Kräften, ihren Beitrag zu einem erfolgreichen Abschluß der Beitrittsverhandlungen und zur Schaffung beiderseits akzeptabler Bedingungen zu leisten, die bei der Überwindung der schwierigen Anpassungsperiode helfen können.

Wir beteiligen uns an allen Überlegungen, die rechtzeitig sicherstellen, daß die erweiterte Gemeinschaft Festigkeit und Zusammenhalt bewahrt. Dies sind wir Spanien, aber auch Portugal, dem anderen europäischen Kulturland auf der iberischen Halbinsel, schuldig.

Majestät, lassen Sie mich Ihnen zum Schluß meine herzlichen Glückwünsche zu dieser Ehrung sagen, die Ihnen und damit auch Ihrem Volk heute ausgesprochen wird.

Das deutsche und das spanische Volk sind einander seit langem in traditioneller Freundschaft verbunden. Neben den zahlreichen Deutschen, die ihre Ferien gern in Spanien verbringen – und ich gehöre zu ihnen – gibt es viele meiner Landsleute, die dort Wurzeln geschlagen haben und mit ihren Kenntnissen zum gegenseitigen Verständnis beitragen. Über 80.000 Spanier arbeiten in unserem Land, mit ihren Familien sind es fast 180.000 Menschen, die hier leben, hier lernen und mit ihrer Leistung zu unserer gesellschaftlichen Zukunft beitragen. Ihren Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland erkennen wir dankbar an.

Ich versichere Ihnen, der Wunsch Spaniens, fortan mit uns gemeinsam den Weg in ein geeintes Europa zu gehen, ist hierzulande besonders herzlich begrüßt worden.

Für die Rolle, die Sie persönlich in dieser Entwicklung gespielt haben, sagt Ihnen nicht nur Ihr eigenes Volk, sondern sagen auch wir Deutschen Ihnen von Herzen Dank!