Rede des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen, Hermann Heusch

Rede des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen, Hermann Heusch

Als am 18. Mai 1950 der Internationale Karlspreis der Stadt Aachen zum ersten Male verliehen wurde, und zwar an den großen Promotor des Europäischen Einigungswerkes in diesem Jahrhundert, den Grafen Richard Coudenhove-Kalergi, hielt in den gleichen Tagen die Welt den Atem an: am 9. des Monats hatte Frankreichs Außenminister Robert Schuman, vor der Kammer seines Landes eine Erklärung abgegeben, in der er den Plan eines Pools der französischen und deutschen Kohle- und Stahlproduktion, dem auch andere Länder beitreten könnten, verkündete. Seine Initiative, ausgehend von einem Gedanken Jean Monnets, des ersten Präsidenten der auf dieser Grundalge entstandenen Hohen Behörde der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, nahm schnell Gestalt an. Am Himmelfahrtstage 1953 wurde Jean Monnet hier mit dem Karlspreis ausgezeichnet, im Jahre 1958 stand Robert Schuman im Mittelpunkt unserer Feier.
Trotz der auch in früherer Phase schon unvermeidlichen Rückschläge - ich erinnere an das Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft - ging das Werk schnell weiter: am 25. März 1957 wurden in Rom die Verträge zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der europäischen Atomgemeinschaft unterzeichnet. Zu denen, die die Vertragswerke unterschriftlich vollzogen, gehörten die Karlspreisträger Adenauer, Bech, Hallstein, Luns, Segni und Spaak, ausnahmslos Männer, die an dessen Zustandekommen selbst mitgewirkt hatten. Mit deren Ausführung traten nun auch die Organe ins Leben, von deren Arbeit das Gelingen des Werkes zu einem großen Teil abhängen sollte. Eine besondere Rolle, die im einzelnen zu würdigen ich mir heute erlauben werde, wurde dabei den beiden Kommissionen der Gemeinschaften zugedacht, die neuerdings mit der Hohen Behörde der Montanunion zur Kommission der Europäischen Gemeinschaften zusammengeschlossen wurden. Nachdem es heute darum geht, in Ausführung des einstimmigen Beschlusses unseres Direktoriums dieser Kommission den ihr verliehenen Karlspreis 1969 zu überreichen, darf ich mir erlauben, die hier anwesenden Mitglieder dieser Kommission zu begrüßen: An erster Stelle den Präsidenten, Herrn Jean Rey.

Ich habe mir in meinen einleitenden Worten erlaubt, einige Daten zu erwähnen, die für das Europäische Einigungswerk von Bedeutung sind: sie alle liegen inzwischen weit in der Vergangenheit, das erste wird sich im kommenden Jahre zum 20. Male jähren! Viele junge Menschen, die heute dem öffentlichen Geschehen - zum Glück - ein waches Interesse entgegenbringen, waren damals noch nicht geboren. Sie üben an diesem und jenem harte Kritik und schießen dabei sicherlich - wie es das gute Recht dieser Jahrgänge ist - hier und da über das Ziel hinaus. An uns, von denen ein abgeklärtes Urteil erwartet wird, ist es nun uns zu fragen, ob das harte Urteil, das wir immer wieder hören, nicht weitgehend berechtigt ist. Ich stelle zunächst nur die Frage, ohne sie gleich zu beantworten.

Bei der Karlspreisverleihung des Jahres 1967 habe ich von der kurz zuvor feierlich besiegelten Verschwisterung der Städte Reims und Aachen berichtet. Wir hatten uns dabei viel vorgenommen, und ich gestehe offen, daß ich zu Anfang ein wenig besorgt war, ob die Bürger unserer Städte auch bereit sein würden, das zu honorieren und in die Tat umzusetzen, was in festlichen Reden beschworen worden war. Die Öffentlichkeit ist nach mancherlei Enttäuschungen heute ja vielfach geneigt, davon auszugehen, daß zwischen der, im Falle Reims auch mutmaßlich noch vom Champagner beflügelten, festlichen Rede und der nüchternen Wirklichkeit eine große Lücke klafft. Lassen sie mich zu meiner großen Freude hier feststellen, daß in diesem Falle die Realität all das weit übertroffen hat, was wir vorher zu hoffen gewagt hatten. Das ist besonders deswegen erfreulich, weil an diesem Austausch alle Berufsstände, alle Schichten der Bevölkerung und in diesen zu einem ermutigenden Teil die Jugend mitwirkt. Wenn man das, wie wir hier, aus der Nähe mitansieht, dann kann man Mut schöpfen und wieder den Glauben gewinnen, daß eine Generation heranwächst, die das kleinkarierte nationalistisch bornierte Denken, das uns in vielem noch hindernd im Wege gestanden hat, eines Tages hinwegfegen wird wie dürres Laub im Herbst.

Bei allem guten Willen und vorbehaltloser Aufgeschlossenheit der Beteiligten läßt sich allerdings nicht leugnen, daß es ein Faktum gibt, das der Verständigung im wörtlichen Sinne immer wieder Schwierigkeiten bereitet. Die Verschiedenheit der Sprachen. Lassen sie mich zu dieser in ihrer praktischen Bedeutung gar nicht hoch genug einzuschätzenden Frage in Anknüpfung an eine bei anderer Gelegenheit von mir geäußerte Anregung einige Bemerkungen machen: Es ist eine pure Selbstverständlichkeit, daß es ganz ausgeschlossen ist und dazu noch sehr töricht wäre, daran zu denken, irgendwem seine ererbte Umgangssprache nehmen zu wollen und ihn auf eine andere Sprache sozusagen "umzuschulen". Diese Erkenntnis ist aber ganz und gar nicht Beweis dafür, daß man nun vor dem Problem einer weltweiten Verständigung kapitulieren sollte. So gibt es doch sehr bemerkenswerte Vorbilder, die Anhaltspunkte für mögliche Lösungen des Problems liefern. Vor unser aller Augen hat in jüngster Vergangenheit das zweite Vatikanische Konzil stattgefunden. Dort gab es eine Verständigung der sämtlichen aus allen Erdteilen kommenden Teilnehmer durch die Anwendung der seit vielen Jahrhunderten von allen katholischen Theologen beherrschten lateinischen Sprache. Für die weisen Männer der Kirche war es von je her eine Selbstverständlichkeit, daß eine weltweite sprachliche Verständigung eine unerläßliche Vorbedingung für die Wahrung ihrer Katholizität ist. Nun nehmen Sie bitte nicht an, ich wollte mir jetzt den besonderen Beifall der Altphilologen verdienen. Es wäre wohl sicherlich eine Utopie, eine tote Sprache zu neuem Leben erwecken zu wollen. Aber es gibt noch andere Modelle, so z. b. die Tatsache, daß das Französische während langer Zeiten in aller Welt die anerkannte Sprache der Diplomaten gewesen ist. In der Gegenwart wissen wir alle, daß in der Luftfahrt überall das Englische gilt. Mir geht es nur um den Grundgedanken. Sollte man nicht dazu kommen, sich international auf eine lebende Sprache zu einigen, um sie dann im internationalen Verkehr einheitlich und überall anzuwenden? Das würde voraussetzen, daß diese Sprache überall in der Welt, wo sie nicht schon sowieso Umgangssprache ist, in allen Schulen als erste Fremdsprache gelehrt wird. Der menschliche Geist hat gerade mit Hilfe des Computers die Lösung schwierigster Denkaufgaben auf großartige Weise ermöglicht. Wir sehen es schon fast als selbstverständlich an, daß wir den Weltraum erforschen und uns den Meeresboden dienstbar machen. Wir nehmen es aber als gegeben hin, daß die meisten Menschen auf dieser immer kleiner werdenden Welt sich nicht verstehen. Verständigung im politischen Raum hat immer zur Vorbedingung das rein sprachliche Sichverstehen. Wie viele Pannen passieren immer noch durch unzureichende Übersetzungen. Wäre es nicht eine epochemachende Errungenschaft für unsere Generation, wenn wir unseren Kindern als selbstverständliche Aussteuer die Möglichkeit mit ins Leben geben könnten, überall in dieser Welt sich verständlich machen zu können. Stellen sie sich doch bitte einmal vor, bei allen internationalen Institutionen im gesamten diplomatischen Verkehr, im Wirtschaftsverkehr würde nur eine Sprache verwandt, die jeder Mensch in der Schule lernt, welch unermeßlicher Gewinn! Oder sollte auch ein solches Beginnen an nationalen Prestigeüberlegungen scheitern? Würde dann die Kritik einer zornigen Jugend nicht berechtigt sein?

Ich habe dieses Thema angeschnitten, meine Damen und Herren, weil wir hier ja an einer Grenze wohnen, auch an einer sprachlichen Grenze, wo der niederländische, der französische und der deutsche Sprachraum aneinanderstoßen. Hier gibt es viel Freundschaft über die Grenzen hinweg, aber auch hier könnte im Alltag manches kleinliche Mißverständnis vermieden werden, wenn es kein Sprachenproblem gäbe.
Als Sie, verehrte Anwesende, auf dem Wege hierher Aachens Straßen durchquerten, haben Sie sich durch eine Stadt bewegt, die vor fünfundzwanzig Jahren nicht anderes war als ein Trümmerhaufen. Als Robert Schuman 1950 seine ersten Pläne einer wirtschaftlichen Teilintegration vorlegte, prozedierte man in der Außenwirtschaft nicht viel anders als im Jahre 1900. Was ist in diesen fünfundzwanzig Jahren an Trümmer geräumt, an Aufbauarbeit geleistet worden, mit welchen Erfolgen wurden wirtschaftliche und geistige Barrieren beseitigt! Das sind erfreuliche Fakten, aber, meine Damen und Herren, diese Fakten interessieren heute niemanden mehr, vor allem nicht eine kritische Jugend, die selbst keine Erinnerung an Bomben und Trümmer, an wirtschaftliche Not besitzt und alles, was heute da ist, als naturgegeben und selbstverständlich ansieht. Wenn Sie von mir etwas über diese Stadt hören wollen, dann werde auch ich - von dem Vorhandenen ausgehend - eine lange Liste aufzählen von Dingen, die uns fehlen, die noch im Argen liegen und unbedingt einer besseren Lösung zugeführt werden müssen. Genau so müssen wir die Kritik unserer Jugend verstehen. Man hat ihr seit vielen Jahren gesagt, wir seien dabei Europa zu bauen; man hat ihr dieses Bauwerk gezeigt und lange Zeit darauf hinweisen können, wie ein Stockwerk über das andere gesetzt wurde. Nun stellt sie fest, daß die Bauleute schon seit Jahren nicht mehr höher kommen. Daß in den unteren Stockwerken inzwischen vielleicht schon manches für die Ausstattung geschehen ist, wird kaum vermerkt; in die Augen fällt hingegen, daß die Baukonstruktion als solche ins Stocken geraten ist. Dazu wird dann erklärend gesagt, daß die Bauherren sich nicht einig sind. Dies Bild, meine Damen und Herren, ließe sich wunderbar weiter zeichnen bis hin zu den sogenannten "guten Freunden", die ihre helle Freude daran haben, daß nun vielleicht alles ein Torso bleibt und die Beteiligten sich in Unkosten gestürzt haben, die sich nicht auszahlen. Ich möchte dieser Versuchung widerstehen; aber müssen wir nicht die Frage stellen, ob wir nicht - gerade unserer Jugend gegenüber - unglaubwürdig werden, wenn wir uns als unfähig erweisen, das zu Ende zu führen, was mit solch überzeugenden Argumenten begonnen wurde, Argumenten, die mit der Zeit an Gewicht nur noch weiter gewonnen haben.

Eines sollten wir ganz klar sehen: wir werden niemals zu abgerundeten und endgültigen Ergebnissen gelangen, wenn wir nicht verhindern, daß zweitrangige Probleme so hochgespielt werden, daß sie den Blick auf das wirklich Entscheidende versperren. Nicht ist wahrer als der Satz, den ich kürzlich in einer Analyse unserer gegenwärtigen Situation las: " Ein mutiger Wurf muß getan werden, sonst verfällt die Anziehungskraft der europäischen Idee". Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat in ihrer zum 1. Juli 1968 herausgegebenen Erklärung gesagt: "Europa, das sind nicht nur die Zolltarife. Europa, das ist mehr als das Europa der Industriellen, der Bauern und der Technokraten. Mehr auch als ein Zusammenschluß von 180 Millionen Europäern in der Gemeinschaft. Es soll auch das Europa der Völker, der Schaffenden, der Jugend, kurz des Menschen sein."

Das heißt mit anderen Worten: Über die Verwirklichung der in den Römischen Verträgen formulierten Ziele hinaus, über die Erweiterung der Zahl der Beitrittswilligen, wie auch die Verträge sie schon vorsehen, hinaus müssen wir zu einer gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik, einer gemeinsamen Währungspolitik und gemeinsamen Vorgehen auf dem Gebiete der Technologie kommen; das alles mit Hilfe eines weitgehenden Souveränitätsverzichts der Mitgliedsstaaten unter Gewährleistung des dazu gehörenden demokratischen Unterbaus.

Ein sehr treffendes Wort stammt aus der Feder des Mitgliedes der Kommission Hans von der Groeben, der zu den Männern der ersten Stunde gehört:
"Buchstäbliche Vertragserfüllung reicht nicht aus, um die gesteckten Ziele zu erreichen. Es bedarf vielmehr eines ständig sich erneuernden politischen Willens, der Schaffung neuer oder der Erweiterung der Befugnisse bestehender Institutionen entsprechend den Fortschritten des Integrationsprozesses. Integration, auch wirtschaftliche Integration, ist deshalb eine eminent politische Aufgabe."
Der besorgte Beobachter der Entwicklung des europäischen Einigungswerkes weiß, daß für uns nicht nur die Frage ansteht, ob die europäischen Staaten in Zukunft noch irgendwelchen Einfluß auf das Weltgeschehen werden ausüben können, daß darüber hinaus unsere fernere Existenz in Freiheit von ihm abhängt. Sollte irgendwer noch daran gezweifelt haben, dann müssen ihm allerspätestens auf Grund der Ereignisse der letzten neuen Monate die Augen aufgegangen sein. Daß dieses Europa nicht auf die sechs Mitgliedsstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beschränkt bleiben darf, wird durch unzählige Willensbekundungen aus allen Ländern des freien Westens immer wieder bestätigt. Am bedeutsamsten erscheinen mir hierzu die Erklärungen und Entschließungen, die das von dem unentwegten Europäer Jean Monnet präsidierte Aktionskomitee für die Vereinigten Staaten von Europa gelegentlich seiner Tagung von 11. März d. J. in London veröffentlicht hat. Die Erklärung gipfelt in der Feststellung: Das Komitee ist der Überzeugung, daß durch den Vollzug des Beitritts Großbritanniens zum Gemeinsamen Markt die Bedingungen geschaffen werden, die die Verwirklichung seiner Ziele erlauben werden, wie sie in seiner Brüsseler Erklärung vom 15. Juni 1967 formuliert waren und die es neu bekräftigt:

"In der gegenwärtigen Phase muß Europa daher unter Einschluß Großbritanniens, durch die Verwirklichung der wirtschaftlichen Einheit und Stärke, durch die Herstellung von Beziehungen zu den Vereinigten Staaten auf der Grundlage der Gleichberechtigung, durch die Herbeiführung einer wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit der Sowjetunion und den Ländern Osteuropas, neue Bedingungen schaffen, die es gestatten, die politische und demokratische Einheit Europas, die Gestaltung des Friedens, die Demokratisierung der bestehenden Institutionen in Europa und, unter anderem, die Lösung des deutschen Problems konkret in Angriff zu nehmen. Durch die schrittweise Verwirklichung dieser Ziele werden wir den Zusammenhang ändern, in dem die Probleme im Bereich der Außenpolitik und der Verteidigung auftreten und der heute eine Lösung dieser Probleme unmöglich macht."
Der Katalog der zu lösenden Probleme wurde dann verschiedenen Arbeitskreisen überwiesen, die den Auftrag erhielten Lösungen zu suchen, die am 22. Mai in Hamburg geprüft und nach Möglichkeit am 15. Juli d. J. in Brüssel verabschiedet werden sollen. Da das Komitee sich aus den führenden Männern der großen Mehrzahl der für die Regierungsarbeit in unseren Ländern verantwortlichen Parteien einschl. der drei großen Parteien Großbritanniens zusammensetzt, wird hier eine neue Chance sichtbar. Die dargestellten Ziele des Aktionskomitees weisen in die Zukunft und gehen über das derzeitige Arbeitspensum der Europäischen Gemeinschaften hinaus. Die damit angestrebte Weiterentwicklung muß aber Hand in Hand gehen mit der konsequenten Weiterführung der durch die Römischen Verträge gestellten Aufgaben. In dem wohl verständlichen Unmut über so manchen Mißerfolg in Brüssel neigt die Öffentlichkeit der Auffassung zu, es gäbe dort nun gar kein Vorwärtskommen mehr. Bei der Vorlage des Jahresberichts 1968 der Kommission an das Europäische Parlament hat am 12. März d. J. deren Präsident, Herr Jean Rey, nicht nur auf die Verwirklichung der Zollunion am 1. Juli 1968 - 18 Monate früher als im Zeitplan der Verträge vorgesehen - hingewiesen, er hat auch große Fortschritte in der so unendlich schwierigen Liberalisierung des Warenverkehrs mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen, die angelaufene Harmonisierung der indirekten Steuern und die Verwirklichung der Freizügigkeit der Arbeitskräfte in der Gemeinschaft aufgezeigt. Dabei hat er es aber nicht unterlassen, auch in aller Offenheit die Probleme anzusprechen, die noch zur Lösung anstehen. Bekanntlich sehen die Römischen Verträge für die Erfüllung der vertraglichen Bestimmungen eine Übergangsfrist von zwölf Jahren vor, d. h. daß normalerweise am 31. Dezember d. J. diese Frist abläuft und sämtliche Vertragsbestimmungen voll zum Zuge kommen.

Es wird sich nun in einigen Monaten erweisen müssen, ob die Kommission in der uns verbleibenden kurzen Zeit die Dinge so zügig wird weitertreiben und den Rat zu sachgerechten Entscheidungen wird veranlassen können, daß sie guten Gewissens die Übergangsfrist für abgeschlossen wird erklären können. Abgeschlossen ist sie nur, wenn die Gesamtheit der in den Verträgen vorgesehenen Maßnahmen durchgeführt ist.

Ehe ich auf weitere Einzelheiten eingehe, erscheint es mir richtig, einige Sätze der Vertragskonstruktion als solcher zu widmen: Während das Europäische Parlament auf die Entgegennahme des Jahresberichts der Kommission mit dessen Erörterung beschränkt ist, steht ihm lediglich das Recht zu Anregungen und Kritik sowie zur Abberufung der Kommission in toto durch Annahme eines Mißtrauensantrages mit 2/3 Mehrheit zu. Echte Entscheidungsbefugnis dagegen steht dem Rat zu, der sich aus je einem Vertreter der Regierungen der sechs beteiligten Länder zusammensetzt. In diesem Gremium hat die Inanspruchnahme des Vetorechtes - und zwar nicht nur durch eine Regierung - in entscheidenden Fragen den Fortschritt in neuerer Zeit entscheidend blockiert. Hiermit hat sich auch Herr Präsident Rey am 12. März d. J. in Straßburg befaßt und dabei ausgeführt: "von den politischen Schwierigkeiten - davon gibt es natürlich eine ganze Reihe - will ich nur einige nennen: Die erste betrifft die Schäden, die die Politik des Veto verursacht. Sie werden sich erinnern, daß wir in unserer Erklärung vom 1. Juli folgendes gesagt haben: "Dem lähmenden und überholten System des Vetorechtes muß ein Ende gesetzt werden." Was nun seit dem 1. Juli geschehen ist, bestärkt uns nur in der Meinung, daß der Mechanismus des Veto ein schlechter Mechanismus ist, und daß nach besseren Methoden gesucht werden muß. Das Vetoverfahren ist eine Rücksichtslosigkeit dessen, der es anwendet gegenüber seinen Partnern." Entschließt man sich nicht, von dieser Möglichkeit zu Gunsten von Mehrheitsentscheidungen abzugehen, dann ist hierin auf die Dauer eine tödliche Gefahr für den Bestand der Gemeinschaft zu sehen. Hier kann eben der für Europa in seiner Geschichte schon so häufig unheilbringende Nationalismus Orgien feiern und statt der von den Vertragschließenden beabsichtigten Integration die absolute Desintegration herbeiführen.

Darum hat die Kommission auch in ihrer von mir schon einmal zitierten Erklärung zum 1. Juli 1958 den Finger auf die Wunde gelegt mit den Worten: " Der Ministerrat der Gemeinschaft muß wieder zu einem normal funktionierenden Beschlußorgan werden, das Mehrheitsentscheidungen treffen kann, dem überholten paralysierenden System des Vetorechtes muß ein Ende gesetzt werden." Es hat sich in diesen letzten Jahren rundgesprochen, daß eine Vielzahl von entscheidenden Initiativen, mochten sie nun von der Kommission oder einem Mitglied des Ministerrates ausgehen, von vornherein zum Scheitern verurteilt war, weil die weitere Behandlung am Veto eines der Beteiligten scheiterte. Das widerspricht allen Gesetzen der Demokratie, denn damit wird dem Willen des Volkes entgegen gehandelt. Gestatten Sie mir hier auch die ergänzende Bemerkung, daß auch die nationalen Parlamente sich fortgesetzt damit beschäftigen, für ihren Bereich neue Gesetze zu beschließen, die die Einigung zunehmend erschweren.

Im Gegensatz zu diesem Ministerrat ist die Kommission ein auch seiner ganzen Konstruktion nach supranationales und integriertes Gremium. Sie ist, um mit ihrem ehemaligen Präsidenten, Walter Hallstein, zu sprechen, "ein unabhängiges Organ, das die allgemeinen Interessen der Gemeinschaft zu formulieren und zu wahren hat." Hallstein fährt dann fort: "Vor allem gibt die Kommission zu den Entscheidungen des Rates die Anregung. Ihre Aufgabe ist es, die gesamte gesetzgeberische Tätigkeit des Rates durch ihre Vorschläge einzuleiten. Von ganz seltenen Ausnahmen abgesehen, kann der Rat nur auf Vorschlag der Kommission tätig werden. Das Vorschlagsrecht liegt ausschließlich bei der Kommission, es ist bei ihr monopolisiert." Eine weitere starke Hervorhebung der Bedeutung der Kommission ergibt sich aus der Vertragsbestimmung, die da lautet: "Wird der Rat auf Vorschlag der Kommission tätig, so kann er Änderungen dieses Vorschlages nur einstimmig beschließen. Die Kommission kann dagegen ihren Vorschlag in jedem Punkte ändern, wenn sie glaubt, das Zustandekommen einer Entscheidung dadurch erleichtern zu können. Wichtig ist auch, daß die Kommission dem Rat weder de jure noch de facto unterstellt ist. Es wäre wohl sehr reizvoll, auf die in jeder Einzelheit sehr durchdachte Rechtsstellung der Kommission noch näher einzugehen. Dies kann aber hier nicht meine Aufgabe sein. Es kam mir nur darauf an, in aller Deutlichkeit darzutun, daß alle Bestimmungen darauf hinauslaufen, die Unabhängigkeit dieses Organs zu gewährleisten und seine Möglichkeiten sehr extensiv zu gestalten. Eine Vertragsbestimmung unterstreicht diese Tendenz noch mit ganz besonderer Deutlichkeit: Artikel 157 des Vertrages besagt in seinem Absatz 2: "Die Mitglieder der Kommission üben ihre Tätigkeit in voller Unabhängigkeit zum allgemeinen Wohl der Gemeinschaft aus. Sie dürfen bei der Erfüllung ihrer Pflichten Anweisungen von einer Regierung oder einer anderen Stelle weder anfordern noch entgegennehmen ... Jeder Mitgliedsstaat verpflichtet sich, diesen Grundsatz zu achten und nicht zu versuchen, die Mitglieder der Kommission bei der Erfüllung ihrer Aufgabe zu beeinflussen."

Mit Absicht habe ich in meinen Darlegungen die Stellung der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, so wie die Römischen Verträge sie fixiert haben, genau geschildert. Ich habe Ihnen dazu auch Erklärungen aus dem Munde ihres früheren und ihres jetzigen Präsidenten zitiert. Rein von der Funktion her gesehen ist dieses unabhängige Gremium dazu ausersehen, das große Werk der Einigung vorwärts zu treiben. Trotzdem wird man bei konsequenter Weiterentwicklung in Zukunft ihre Vollmachten noch erweitern und ausbauen müssen. Wie sehr diese Männer ihre Aufgabe ernst genommen, läßt sich an der Liste ihrer Erfolge unschwer ablesen. Leider ist keine Möglichkeit gegeben, über die Vielzahl der Initiativen der Kommission einen Überblick zu geben, deren Verwirklichung an der negativen Einstellung des Ministerrates gescheitert ist. Gemeinsam haben die Mitglieder der Kommission ohne Verdruß in voller Hingabe an ihre große Aufgabe eine Leistung höchster Qualität erbracht. Auch wissen wir, daß einige ihrer Mitglieder - über ihren Anteil am Gesamtwerk hinaus - sich schon seit mehr als elf Jahren durch ihr persönliches Hervortreten und ihren Sachverstand einen Namen in ganz Europa gemacht haben. Wer denkt hierbei nicht auch an ihren ehemaligen Präsidenten, Herrn Prof. Hallstein! Aus dieser Fülle von Überlegungen hat das Direktorium für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachender Kommission als solcher, diesem Team von ihrer Arbeit verschworenen Männern, den Karlspreis 1969 zuerkannt. Es ist die erklärte Absicht des Direktoriums, damit der Überzeugung Ausdruck zu geben, daß Europa nur eins werden kann, wenn unabhängige, supranationale Instanzen demokratisch legitimiert werden, den Willen der sich nach Einheit sehenden Völker zu erfüllen, wenn der Teufelskreis des Nationalismus durchbrochen wird. Es ist dies das erste Mal, daß der Karlspreis nicht einer Person, sondern einem Gremium verliehen wird. Wir halten diese, mit einem klaren Bekenntnis verbundene Verleihung für eine Antwort auf die Erfordernisse unserer Zeit. Wir sind stolz auf diesen Beschluß, weil wir glauben, damit einer guten Sache einen guten Dienst zu erweisen. Dem Sinne der Preisverleihung würde es auch nicht entsprechen, wollte ich nun eine Würdigung der Einzelpersönlichkeiten vornehmen. Nur für eines der Mitglieder bitte ich, mir eine Ausnahme zu gestatten, für den Mann, der stellvertretend für seine Kollegen Urkunde und Plakette entgegennehmen wird, Herrn Präsidenten Rey.

Von ihm wissen wir, daß er seiner tiefsten Überzeugung Ausdruck verliehen hat, als er am 1. Juli 1968 sagte: "Europa wäre schön, wenn es einig wäre, wenn unser alter im Laufe der Jahrhunderte von so vielen Konflikten heimgesuchter Kontinent, der durch den Zusammenprall des Nationalismus der europäischen Länder auf seinem eigenen Boden die beiden letzten Weltkriege entfesselt hat, in der Lage wäre, das Trennende der Vergangenheit, den Nationalismus von gestern zu überwinden und eine Gesellschaft zu errichten, die Freiheit der Menschen, die Aussöhnung der Völker und die sozialen Fortschritt zum Ziel hat! "Fais-nous ton Dieu plus grand si tu veux qu'on l'adore" sagte Voltaire einmal zu einem Christen. Unsere Sache ist es, einen versöhnten und einigen Kontinent zu schaffen, für den zu arbeiten und sich zu engagieren ein junger Mensch von heute als eine lohnende Aufgabe betrachtet."

Herr Präsident Rey gehört neben wenigen anderen zu den Männern der ersten Stunde und trägt nun seit dem 1. Juli 1967 die Bürde des Präsidentenamtes. Es ließe sich vieles zu seiner Person sagen. In seiner Heimatgemeinde ist er zunächst mit der Politik in Berührung gekommen, über sein Mandat in der belgischen Kammer gelangte er in Ministerämter und zur Mitarbeit in europäischen Gremien. Seit Anfang 1958 Mitglied der Kommission vertrat er diese vornehmlich in ihrem Außenressort. Ich beschränke mich bewußt auf diese kurzen Angaben, denn ich habe Sie aus einem ganz anderen Grunde gebeten, mir in diesem Ausnahmefall ein Wort zu Person zu gestatten: Herr Präsident Jean Rey stammt aus der mit Aachen seit vielen Jahrhunderten in Freundschaft verbundenen Nachbarstadt Lüttich. Als treuer Sohn dieser Stadt hat auch er persönlich sich schon als Aachens Freund erwiesen. So wie sie wissen, Herr Präsident Rey, daß die Aachener Lüttich lieben, so werden sie es mir auch nachfühlen können, daß ich es als eine beglückende Fügung ansehe, daß sie es sind, dem ich heute den der Kommission der Europäischen Gemeinschaften verliehenen Karlspreis 1969 überreichen darf.

Foto Präsident der Kommission der Europäischen Gemeinschaft

Präsident der Kommission der Europäischen Gemeinschaft