Rede von Timothy Garton Ash

Rede von Timothy Garton Ash

Ein Europa, viele Europas

Dankrede anlässlich der Verleihung des Internationalen Karlspreises 2017

Es gilt das gesprochene Wort!

Sehr verehrter Herr Bundespräsident, sehr verehrter Herr Oberbürgermeister, sehr verehrter Dr. Linden, meine sehr geehrten Damen und Herren! 

[Auf Englisch im Original]

Ich fühle mich tief geehrt, in diesem Jahr mit dem Internationalen Karlspreis ausgezeichnet zu werden, und ich nehme diese Ehrung als englischer Europäer entgegen. In diesen Tage ist so mancher ein wenig überrascht von der Kombination aus diesem Adjektiv und diesem Substantiv: englischer Europäer. Doch immerhin war einer der wichtigsten Berater Kaiser Karls des Großen ein Angelsachse, nämlich der Gelehrte Alkuin von York. Meine Universität in Oxford ist seit 900 Jahren eine europäische Universität. Eine Geschichte Europas, die all die eigenständigen und gemeinsamen Beiträge von Engländern, Schotten, Walisern und Iren, von Shakespeare, Adam Smith, Winston Churchill und George Orwell unerwähnt ließe, wäre wie ein Symphonieorchester ohne Streicher (oder vielleicht eher ohne die Blechbläser?). Wie ich am Tag nach dem Brexit-Votum schrieb, kann Großbritannien Europa genauso wenig verlassen wie der Piccadilly Circus London.

Doch jeder gelangt auf seinem ganz eigenen Weg zu einem bewussten Selbstverständnis als Europäer. Ich wurde zu einem leidenschaftlichen Europäer durch meine intensive, unvergessliche persönliche Erfahrung, in einem geteilten Deutschland zu leben, die Entstehung der Solidarność-Bewegung in Polen mitzuverfolgen und zusammen mit bedeutenden mitteleuropäischen Karlspreisträgern wie Václav Havel, Bronisław Geremek und György Konrad, in Warschau, Prag, Budapest und Berlin die Befreiung mitzuerleben. In diesen inspirierenden Zeiten marschierten die Sache der Freiheit und die Sache Europas vereint, Arm in Arm: Freiheit bedeutete Europa, Europa bedeutete Freiheit.

Bekanntlich verstehen sich nicht alle meine Landsleute so freudig als Europäer. Als ich die Dankrede des letzten britischen Preisträgers, Tony Blair, noch einmal las, konnte ich mir ein ironisches Lächeln nicht verkneifen, als ich seine zentrale Botschaft vernahm: „Großbritannien muss seine ambivalente Einstellung gegenüber Europa überwinden.“ Diese ambivalente Haltung ist freilich keine britische Besonderheit mehr – sozusagen das politische Pendant zu Fish ‘n‘ Chips. „Britische“ Euroskepsis und nationalistischer Populismus finden sich heute in allen Ecken des Kontinents.

Ebenso wenig ist die britische Ambivalenz mit dem Brexit-Votum wie von Zauberhand irgendwie verschwunden. Tatsächlich habe ich noch nie in meinem Leben so viel leidenschaftliches Pro-Europäertum erlebt wie im heutigen Großbritannien, insbesondere in Schottland, in London und unter jungen Menschen. Nicht wenige der 48 Prozent, die für den Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union stimmten, haben sich noch immer nicht mit dem Ergebnis abgefunden. Mit der EU-Mitgliedschaft ist es wie mit der Gesundheit: Man weiß sie erst dann wirklich zu schätzen, wenn sie verloren geht. Aber seien Sie versichert: Wir britischen Europäer haben nicht aufgegeben.

Das bringt mich zu einer wichtigen Frage, die das Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv betrifft. Die Idee einer formellen, rechtlichen Art von individueller EU-Staatsbürgerschaft für britische Post-Brexit-Europäer ist sicherlich unrealistisch, aber einer politischen Gemeinschaft, die ihre Mitglieder lediglich über ihre Zugehörigkeit zu einem Mitgliedstaat definiert und die einen selbst in intellektuellen und politischen Debatten ständig nach dem Pass fragt, fehlt etwas. Wenn wir unser europäisches Gemeinschaftsgefühl vertiefen wollen, müssen wir lernen, uns gegenseitig als individuelle Europäer zu sehen und anzuerkennen.

Für einen europäischen Historiker ist es ein ganz besonderes Erlebnis, hier in diesem geschichtsträchtigen Krönungssaal zu sprechen, nur ein paar Meter entfernt von der Kirche, die Karl der Große vor mehr als 1200 Jahren errichten ließ. An diesem Ort fühlt man sich förmlich dazu gezwungen, in historischen Dimensionen zu denken. Politik und Geschichte haben unterschiedliche Zeitrechnungen. Ein britischer Premierminister bemerkte einmal, eine Woche sei in der Politik eine lange Zeit. Die Uhr der Geschichte dagegen misst in Jahrhunderten. Nun lässt sich die europäische Geschichte über die Jahrhunderte deuten als fortwährendes Oszillieren zwischen Zeiten europäischer Ordnung, so hegemonial und ungerecht diese Ordnungen auch immer sein mochten, und Phasen üblicherweise gewaltsamer Unordnung. So gesehen ist unsere Epoche ziemlich exzeptionell. 

Denn in den zweiundsiebzig Jahren seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs haben wir in Europa keinen großen zwischenstaatlichen Krieg mehr erlebt. Ich finde in den letzten zehn Jahrhunderten keinen vergleichbar langen Zeitraum ohne einen großen Krieg. Nun muss man natürlich sofort dazusagen, dass es in Europa seit 1945 ganz schreckliche Kriege gegeben hat, vom griechischen Bürgerkrieg über die blutigen Kriege im ehemaligen Jugoslawien bis zum bewaffneten Konflikt in der Ostukraine, der von Wladimir Putin weiter auf kleiner Flamme am Köcheln gehalten wird. Aber es gab keine großen Kriege. Das ist umso bemerkenswerter, als es in diesem Zeitraum zu einer tektonischen Verschiebung von einer Ordnung zu einer anderen kam: zum Ende des sowjetischen Imperiums und des Kalten Krieges in den Jahren 1989 bis 1991. In der Vergangenheit wäre ein solch grundstürzendes Ereignis mit einem Krieg einhergegangen. Nie zuvor waren so viele europäische Länder freiheitliche Demokratien, von denen sich die meisten in den gleichen politischen, wirtschaftlichen und sicherheitsspezifischen Gemeinschaften wiederfinden. Um Winston Churchills berühmte Bemerkung über die Demokratie aufzugreifen: Das ist das denkbar schlechteste Europa, abgesehen von allen anderen Europas, die zeitweilig ausprobiert wurden.

Doch der Historiker mag auf diese Zeitspanne von zweiundsiebzig Jahren blicken und sagen: „Nun ja, eine große Krise ist wahrhaft überfällig.“ Und zweifellos verbinden sich die zahlreichen Krisen, mit denen verschiedene Teile Europas heute zu kämpfen haben, zu einer existenziellen Krise des gesamten europäischen Projekts, wie es sich seit 1945 entwickelt hat.

Hier spielen der Historiker und der Politiker, oder allgemeiner Intellektuelle und Politiker, zwangsläufig unterschiedliche Rollen. Meine Aufgabe lässt sich ganz einfach so zusammenfassen: Es geht darum, nach der Wahrheit zu suchen, die Wahrheit ausfindig zu machen, soweit das kritisch überprüfte Belege und rationale Argumente erlauben, und dann diese Wahrheit so sorgfältig, deutlich und lebendig wie möglich auszusprechen. Ich tue also meinen Job, wenn ich versuche, die Ursachen dieser existenziellen Krise auszumachen und auf die Schwachstellen hinzuweisen, die nationalistische Populisten ausnutzen. So übt beispielsweise ein direkt gewähltes Europaparlament tatsächlich beträchtliche demokratische Kontrolle über europäische Gesetze und politische Maßnahmen aus, doch die meisten Europäer haben nicht das Gefühl, dass sie in Brüssel direkt vertreten werden und ihre Stimme dort Gehör findet. Viele europäische Gesellschaften haben große Schwierigkeiten damit, Ausmaß und Tempo der Zuwanderung zu akzeptieren, nicht zuletzt derjenigen, die durch den Abbau der Binnengrenzen in Europa bei gleichzeitiger unzureichender Sicherung der Außengrenzen des Schengenraums erleichtert wird. Und ich hoffe, dass sich der Karlspreisträger des Jahres 2002 – der Euro – nicht persönlich beleidigt fühlt, wenn ich darauf hinweise, dass die Eurozone, die ursprünglich die europäische Einigung vorantreiben sollte, in den letzten Jahren schmerzliche Gräben zwischen Nord- und Südeuropa entstehen ließ. Das sind unbequeme Wahrheiten, aber ich glaube, der Geist des Alkuin von York würde mir beipflichten, dass es Aufgabe des Wissenschaftlers ist, sie auszusprechen.

Der Politiker dagegen muss immer von den aktuellen Gegebenheiten ausgehen, er muss stets auf seine Worte achten und ein Gefühl des „yes, we can“ – oder auf Deutsch „wir schaffen das“ – vermitteln. Der Intellektuelle muss die Wahrheit aussprechen, dass kein Imperium, kein Staatenbund, kein Bündnis und keine Gemeinschaft auf Erden je ewig währte, und das wird auch im Falle der Europäischen Union nicht anders sein. Der Politiker muss darauf hinarbeiten, dass unser beispielloses, freiwilliges, friedliches europäisches Imperium so lange wie menschenmöglich Bestand hat.

Doch wenn Sie wie ich ein spectateur engagé sind, können Sie durchaus einen Beitrag zu diesem politischen Unterfangen leisten, indem Sie schlicht die historische Wahrheit deutlich machen. Ich würde behaupten, dass der wichtigste Antriebsfaktor der europäischen Integration für drei Generationen nach 1945 individuelle, persönliche Erinnerungen an Krieg, Besatzung, Holocaust und Gulag, an Diktaturen, ob faschistische oder kommunistische, sowie an extreme Formen von Nationalismus, Diskriminierung und Armut waren. Nun haben wir zum ersten Mal eine ganze Generation von Europäern, die überwiegend – nicht alle, aber die meisten – seit 1989 ohne traumatische und prägende Erfahrungen dieser Art aufgewachsen sind. Sie kennen nur ein Europa, das weitgehend geeint und überwiegend frei ist. Fast zwangsläufig neigen sie dazu, das für selbstverständlich zu halten; denn der Mensch neigt ganz allgemein dazu, das, womit er aufgewachsen ist und was er um sich herum wahrnimmt, als in gewisser Weise normal, ja sogar natürlich zu betrachten. Czesław Miłosz beschreibt dieses Phänomen eindrücklich in seinem Buch Verführtes Denken. Er vergleicht uns darin mit Charlie Chaplin in dem Film Goldrausch, wo dieser vergnügt in einer Holzhütte herumwuselt, die bedrohlich über einem Abgrund hängt.

Ich hoffe, wir sind noch nicht so weit, aber wir müssen dieser Generation irgendwie vermitteln, dass das, was sie heute als normal betrachtet, historisch gesehen tatsächlich zutiefst abnormal ist – außergewöhnlich, außerordentlich. In seiner Dankesrede erwähnte Papst Franziskus im vergangenen Jahr Elie Wiesels Forderung nach einer „Erinnerungstransfusion“ an jüngere Europäer. Genau darum geht es. Natürlich lässt sich nichts mit der Wirkung unmittelbarer, persönlicher Erfahrung vergleichen. Doch die Beschäftigung mit der Geschichte hat unter anderem den Zweck, von den Erfahrungen anderer Menschen zu lernen, ohne sie selbst durchmachen zu müssen. Zu den ermutigenden Zeichen der letzten Monate gehört eine neue Mobilisierung bei dieser Nach-89er-Generation von Europäern, die zeigt, dass ihr Puls für Europa schneller schlägt.

Eine weitere, allgemeinere Lehre aus der Geschichte ist: Was ursprünglich nur Mittel zum Zweck war, kann im Laufe der Zeit zum Selbstzweck werden. (Wer je versucht hat, ein Universitätsgremium oder irgendeine andere Institution abzuschaffen, weiß, wovon ich spreche.) In seiner Eröffnungsrede auf dem Europa-Kongress in Den Haag im Mai 1948 sagte Graf Richard Coudenhove-Kalergi, der Mann, der später als erster diesen Preis entgegennehmen sollte: „Denken wir daran, liebe Freunde, dass Europäische Union ein Mittel und kein Zweck ist.“ Und das von einem Hohepriester der europäischen Einigung zu einer Zeit, als die Europäische Union nur ein Traum war. Seine Warnung ist heute von besonderer Relevanz. All die europäischen Institutionen, die wir geschaffen haben, sind Mittel für einen höheren Zweck, nicht Selbstzweck. Wir sollten uns stets fragen: „Erfüllt diese Institution oder jenes Instrument noch immer ihren oder seinen Zweck, ist es das am besten für diesen Zweck geeignete?“ Es bringt nichts, einfach immer nur „mehr Europa, mehr Europa“ zu fordern. Die richtige Antwort wird oftmals sein, dass wir von diesem mehr, von jenem aber weniger brauchen. Nur eine Organisation, die in der Lage ist, Macht sowohl nach unten wie nach oben umzuverteilen, je nach wechselnden Bedürfnissen, wird von ihren Bürgern als lebendig und responsiv betrachtet werden.

Und schließlich ist da der Gegensatz, der die europäische Geschichte am stärksten charakterisiert – der von Einheit und Vielfalt. Hier in Aachen denken wir unvermeidlich an das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, das europäische Imperium, das am längsten Bestand hatte. Wie der Historiker Peter Wilson zeigt, hatte das vor allem einen Grund: Man hatte das Gefühl, dass seine übergreifenden Strukturen die enorme Vielfalt an politischen, kirchlichen und rechtlichen Gemeinschaften, die unter seiner Ägide versammelt waren, nicht übermäßig zu zentralisieren und zu homogenisieren drohten, sondern sie im Gegenteil sicherten und schützten. Seine Legitimität und seine Langlebigkeit bezog dieses Reich aus seiner Fähigkeit, mit dieser Komplexität und damit auch mit einem gewissen Maß an chronischer Uneinigkeit zu leben: „Obwohl das Reich nach außen Einheit und Harmonie betonte, funktionierte es in Wirklichkeit dadurch, dass es Streit und Verstimmung als dauerhafte Bestandteile seiner Innenpolitik akzeptierte.“ Ich glaube, darin steckt eine Lehre für die Europäische Union.

Unsere heutige europäische Vielfalt ist nicht nur die von Staaten und Geschichten, sondern auch die von Kulturen und den Sprachen, in die diese eingebettet sind. Diese grundlegenden Unterschiede in Kultur, Sprache und Denktraditionen haben auch prägenden Einfluss auf unsere Vorstellungen von Staat, Recht und Politik und damit von der politischen Ordnung, die zwischen unseren Staaten und Völkern errichtet werden soll.

Europa wird stärker sein, wenn es all diesen Formen von Vielfalt Platz bieten kann. Wenn es um Gelenke geht, kennt die Medizin zwei gegensätzliche Probleme: die Hypermobilität, d.h. das Gelenk ist zu locker, und Hypomobilität, d.h. das Gelenk ist zu wenig beweglich. Europa wird geschwächt, wenn sich seine Strukturen zu sehr lockern, aber auch, wenn sie zu rigide sind. Wie ein olympischer Wettkämpfer muss Europa beides sein, stark und flexibel: stark, weil es flexibel ist, flexibel, weil es stark ist.

Sie werden inzwischen gemerkt haben, dass ich Sie in einer Art rasantem Wiener Walzer durch eine ganze Reihe von Gegensätzen geführt habe: das Individuum und das Kollektiv, historische Zeit und politische Zeit, der Intellektuelle und der Politiker, Mittel und Zweck, national und europäisch, Realismus und Idealismus und, last but not least, Komplexität und Einfachheit. Denn letztlich ist das, was wir wollen, recht einfach: Wir wollen, dass die Menschen in Europa Freiheit, Frieden, Würde, Rechtsstaatlichkeit, angemessenen Wohlstand und soziale Sicherheit genießen. Wie wir diese schlichten Ziele erreichen, ist das, was zwangsläufig reichlich kompliziert ist.

[Von hier an auf Deutsch im Original]

Lassen Sie mich zum Schluss ein paar Worte an Deutschland und die Deutschen richten. 

Als ich zum ersten Mal nach Deutschland kam, Anfang der Siebzigerjahre, waren die Schatten des Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Diktatur noch allgegenwärtig. (Mein erstes Forschungsthema war Berlin im Dritten Reich.) Das Land war schmerzlich geteilt, und ich erlebte aus nächster Nähe jene zweite deutsche Diktatur, welche die ganze Welt heute mit einem hässlichen Kurzwort assoziiert: Stasi. 

Dann kam plötzlich das annus mirabilis 1989, und Deutschland erhielt völlig unerwartet seine „zweite Chance“, um Fritz Sterns zu Recht berühmte Formulierung aufzugreifen. Über mehr als ein Vierteljahrhundert habe ich seitdem mit wachsender Bewunderung beobachtet, wie gut das vereinigte Deutschland diese zweite Chance genutzt hat. Ich persönlich finde es unglaublich bewegend, dass sich heute Flüchtlinge aus aller Welt nach Deutschland sehnen, als wäre es das Gelobte Land. Es ist doch wunderbar, dass Deutschland heute wie eine Insel der Stabilität, der Besonnenheit und der Liberalität aus einem Ozean des nationalistischen Populismus herausragt. Wenn ich diese historische Wende vom Dunkel zum Licht betrachte, erfüllt mich das jedes Mal mit echter und großer Freude. 

Aber – es gibt immer ein „Aber“ – die zweite Chance, genauer gesagt: die zweite Hälfte der zweiten Chance, liegt noch immer vor Ihnen – nämlich die gesamteuropäische Hälfte. Mit einem neuen, entschieden proeuropäischen französischen Präsidenten ergibt sich für Deutschland und Frankreich erneut die Gelegenheit, wie schon so oft zuvor in der Geschichte der europäischen Integration, gemeinsam voranzugehen. Diese zweite Hälfte der zweiten Chance wird aber nicht leicht sein. Deutschland steht noch immer vor dem alten Problem der „kritischen Größenordnung“ – zu klein, aber doch zu groß; zu groß, aber doch zu klein. Kluge Führung in Europa bedarf der ausgeprägten Fähigkeit, Europa immer auch mit den Augen der anderen Europäer zu sehen, sie braucht Einfühlungsvermögen. Sie braucht auch Gelassenheit, Zuversicht und Mut. 

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat das Wort „Mut“ zum Schlüsselbegriff seiner Antrittsrede gemacht. Dazu gehört der „Mut zur Wahrheit“, von dem Präsident Emmanuel Macron sehr eindrucksvoll gesprochen hat. Dazu gehört aber auch der Mut zum Kompromiss. Der Mut, mit Ungewissheit, Unvollkommenheit, ja sogar Unverbindlichkeit zu leben – so wie im Heiligen Römischen Reich. Kurzum: das Leben ist kein Gesamtkonzept! Das gilt erst recht für das politische Leben Europas. 

In seiner Studie zur Geschichte Berlins schrieb Karl Scheffler vor hundert Jahren, die Stadt sei „dazu verdammt, immerfort zu werden und niemals zu sein“. Das Gleiche könnte man von Europa sagen. Es wird nie jener hehre Augenblick kommen, in dem man ausrufen kann: „Da ist es, das fertige Europa! La belle finalité européenne – verweile doch, Du bist so schön!“

Nein, auch Europa ist dazu verdammt, immerfort zu werden und niemals zu sein. Aber das muss nicht unbedingt ein Fluch, es kann auch ein Segen sein. Wenn man etwas älter ist, sieht man, dass die Jahre des Werdens oft die schönsten Jahre des Lebens sind. So hat das ewig unfertige Europa die Chance, immer jung zu bleiben. Gestalten wir es also gemeinsam: das niemals endende Werden Europas.

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[Übersetzung von Andreas Wirthensohn]