Rede des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen, Hermann Heusch

Rede des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen, Hermann Heusch

Exzellenzen! Meine Damen! Meine Herren!

Als unsere Vorväter in einer Zeit, von der uns heute mehr als fünf Jahrhunderte trennen, dieses stolze Bauwerk errichteten, da war es ihre Absicht, daß der festliche Raum in seinem oberen Geschoß nur feierlichen Anlässen dienen sollte. Die Bürger der Kaiserlich Freien Reichsstadt nahmen ihre Pflicht gegen Kaiser und Reich so ernst, daß sie den gesamten Bauplan darauf ausrichteten, daß der wichtigste Festakt, der nörlich der Alpen veranstaltet wurde, die Krönung der Könige, hier nach der Vollziehung in Karls des Großen Pfalzkapelle beim feierlichen Mahle in würdigem Rahmen seinen Ausklang finden konnte.

Entschwunden sind die Zeiten des Hl. Römischen Reiches Deutscher Nation, vergangen die wahrhaft königlichen Feste, die Kurfürsten und Herzöge, Bischöfe und Standesherren hier an der festlichen Tafel des neuerwählten Königs versammelten. Abgelöst sind sie in unserem 20. Jahrhundert von einer Periode der Sachlichkeit und Nüchternheit. Das Volk ist aufgerufen sich selbst zu regieren. Man kann sehr verschiedener Ansicht darüber sein, ob es gut und nützlich ist, daß den wichtigen Staatsakten heutiger Tage Pracht und Glanz genommen sind; vielleicht sollten wir etwas annehmen von dem Beispiel Großbritanniens, das - in der Entwicklung demokratischen Staatswesens weiter fortgeschritten und gefestigter als irgendein anderes Land - sehr wohl ein gewisses Gepränge mit den Erfordernissen der neuen Zeit zu vereinbaren versteht.

Wir Aachener sind stolz und glücklich darüber, daß dieses ehrwürdige Bauwerk, das wie wenige seiner Art vom Atem der Geschichte durchweht ist, uns die Möglichkeit gibt, auf diesem durch Jahrhunderte geweihten Boden einen Beitrag zu leisten zu dem, was eine neue Epoche verlangt! So freuen wir uns auch in ganz besonderem Maße über die große Zahl erlauchter Gäste, die diese Stunde mit uns gemeinsam begehen wollen. Ich gestatte mir, Sie alle hier willkommen zu heißen, an erster Stelle die Preisträger vergangener Jahre, und zwar den Karlspreisträger 1950, Richard Graf Coudenhove-Kalergi, den Karlspreisträger 1951, Professor Hendrik Brugmans, den Karlspreisträger 1953, Jean Monnet. Die neben dem leider verstorbenen ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten de Gasperi heute abwesenden Preisträger, Sir Winston Churchill, Paul Henri Spaak und Konrad Adenauer haben mir den Ausdruck ihres aufrichtigen Bedauerns übermittelt, daß widrige Umstände ihre heutige Anwesenheit hier unmöglich machen.

Ein besonders herzlicher Gruß gilt dem erwählten Preisträger 1958, dem Präsidenten des Europäischen Parlaments und ehemaligen französischen Ministerpräsidenten und Außenminister, Herrn Robert Schuman. Es ist für mich eine große Ehre und eine Freude, hier begrüßen zu dürfen die Herren Botschafter von Belgien, Luxemburg, Schweden, Frankreich, Kanada und Österreich, die Herren I. Botschaftsräte der Botschaften von Großbritannien, Italien und der Schweiz, ferner den Leiter der Handelsvertretung der Republik Finnland und die Herren Generalkonsuln Belgiens, der Niederlande, Frankreichs, Großbritanniens, Italiens und der Vereinigten Staaten von Amerika. Ein besonderer Gruß gilt dem Herrn Präsidenten der Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Professor Hallstein, dem Herrn Präsidenten der Hohen Behörde der Montanunion, Finet, dem Herrn Vizepräsidenten der Beratenden Versammlung des Europarates, Bundestagsabgeordneten Kiesinger, dem Herrn Vizepräsidenten des Europäischen Parlaments, Professor Furler, gleichzeitig in seiner Eigenschaft als Präsident des Deutschen Rates der Europäischen Bewegung.

Herzlich willkommen heiße ich, in Vertretung der Bundesregierung Herrn Bundesaußenminister Dr. von Brentano und die Herren Staatssekretäre Thedieck und Dr. Wandersleb, für den Landtag des Landes Nordrhein-Westfalen dessen Präsidenten Herrn Gockeln, für die Regierung des Landes NRW den stellvertretenden Ministerpräsidenten, Herrn Finanzminister Weyer, Se. Exzellenz den Herrn Bischof von Aachen, Dr. Pohlschneider, den Herrn Präsidenten des Deutschen Roten Kreuzes, Dr. Weitz, den Vizepräsidenten des Deutschen Rates der Europäischen Bewegung, Dr. Pünder, den Herrn Gouverneur der Provinz Lüttich, Clerdent, den Herrn Präsidenten des Association "Le Grand Liège", Thone, die zahlreich erschienen Herren Bundestags- und Landtagsabgeordneten, den Herrn Regierungspräsidenten von Aachen und die Herren Oberbürgermeister und Oberstadtdirektoren benachbarter Städte und die Herren Landräte und Oberkreisdirektoren der Kreise des Aachener Bezirks.

Meine Damen und Herren!

Der Internationale Karlspreis der Stadt Aachen ist in Europa ein Begriff geworden. Es soll daher an diesem Tage nicht meine Aufgabe sein, dessen Sinn zu erläutern, Ihnen die Gedanken der Männer darzulegen, die an seiner Wiege gestanden haben. Gestatten Sir mir dahingegen einige Bemerkungen zu unserer heutigen speziellen Situation, soweit sie mit dem Werden und Wachsen des von uns ersehnten, in Frieden und Freiheit vereinigten Europas in unmittelbarem Zusammenhang stehen:

Zunächst eine Feststellung an die Adresse derjenigen, die meinen, ihre Kritik darauf richten zu sollen, daß dieser Preis das Gedächtnis jenes Mannes wachruft, der vor mehr als elfhundert Jahren das damalige zivilisierte Europa unter seiner Herrschaft einigte. Man glaubt, daraus den Schluß ziehen zu sollen, daß hier der Gedanke eines Europa gepflegt werden solle, das im Osten durch die Elbe begrenzt wird. Dieser Gedanke ist ebenso abwegig wie die Annahme, daß ein Physiker, der Galilei oder Kepler ehrt, damit der Absicht nachginge, die seitherigen Errungenschaften dieser Wissenschaft aus der Welt zu schaffen. Für uns endet Europa nicht an irgendeiner Linie, die auf der Landkarte nachgezeichnet werden kann, für uns gehören zu Europa auf diesem Kontinent alle Länder und Landschafaten, in denen der Geist echter Humanitas in Freiheit walten und sich entwickeln kann! Gebe Gott, daß dies recht bald überall dort der Fall sein möge, wo wir als Kinder gelernt haben, daß Europa sei!

Das Jahr 1958 hat für die Idee, unter deren Signum wir uns hier zusammengefunden, eine besondere Bedeutung: an seinem ersten Tage sind auf Grund der Beschlüsse der Parlamente der sechs beteiligten Länder die Verträge über den "Gemeinsamen Markt" und "Euratom" in Kraft getreten. Hier wird konsequent der Weg weiter verfolgt, der mit der Schaffung der "Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl" vor Jahren begonnen wurde. Noch läßt sich über die praktischen Auswirkungen nichts berichten. Am Anfang steht eine Unmenge organisatorischer Schwierigkeiten, die gemeistert werden müssen. Daß dies gelingen wird, dafür bürgen uns die Namen der Männer, die mit dieser Aufgabe betraut wurden, von ihnen wissen wir, daß sie sich an europäischer Gesinnung nicht übertreffen lassen. In dem Augenblick aber erst, in dem Organisationen restlos stehen und die sachliche Arbeit ohne Hemmungen getan werden kann, beginnt die echte Auswirkung. Es gibt keinen Vertrag, dessen Formulierungen - mögen sie auch noch so bedachtsam gewählt sein - den Wechselfällen des Lebens Genüge tun. Im Entscheidenden kommt es eben darauf an, daß der Buchstabe des Gesetzes mit dem rechten Geist erfüllt wird, und da haben wir nur das eine Anliegen, daß dies nicht der Geist des kleinlichen nationalen Egoismus, sondern der Geist großmütiger und großzügiger Gemeinschaft sein möge; dieser kennt kein anderes Ziel als das Zusammenwachsen unserer Volkswirtschaften und damit der Völker selbst.

Der Weg ist begonnen, ein Anfang ist gemacht und damit auch die Richtung bestimmt. Es soll hier kein Werturteil abgegeben werden über Probleme, die in diesen Monaten auf höchster Ebene beraten werden. Aber ich gebe nur einer weitverbreiteten Ansicht Ausdruck, wenn ich sage, daß die fruchtbare Ungeduld der Völker, die das Tempo des Zusammenwachsens beschleunigt sehen möchten, eine weitestgehende Ausdehnung der wirtschaftlichen Freizügigkeit herbeisehnt. Wir meinen, daß es - auch bei tunlicher Berücksichtigung berechtigter Bedenken - möglich sein müßte, viele andere europäische Länder so eng wie möglich an die Zone des Gemeinsamen Marktes zu binden. Nennen Sie das Freihandelszone oder nennen Sie es anders, entscheidend muß die Entschlossenheit sein, die Türen offen zu halten für alle, die guten Willens sind. Daß dazu wohlabgewogene Regelungen erforderlich sind, die eine einseitige Verteilung von Vor- und Nachteilen vermeiden, bedarf keiner besonderen Betonung.

Robert Schuman selbst fand für die Aufgabe, die hier gestellt ist, vor wenigen Tagen Worte, die ich anführen möchte, da sie genau das ausdrücken, was wir alle empfinden:

"Es darf nicht dazu kommen", sagt er, "daß das römische Vertragswerk als eine Bedrohung Dritter angesehen wird. In einem so komplexen Gebilde wie der Wirtschaft Europas gibt es ganz natürliche Abstufungen im Zusamengehen derer, die an sich ausnahmslos die Notwendigkeit der Einheit und der Zusammenarbeit empfinden."

Die angestrebte enge Gemeinsamkeit, die auf immer weitere Gebiete auszudehnen unser Ziel ist, setzt eine wachsende Solidarität der Partner voraus. Ob heute schon der Inhalt der Verträge davon berührt wird oder nicht: es kann uns Deutsche ebensowenig wie alle anderen Angehörigen der sechs Länder gleichgültig lassen, ob Frankreich in seinen afrikanischen Teilen großen Schwierigkeiten ausgesetzt ist. Die Zukunft und das Schicksal des Abendlandes werden entscheidend mitbestimmt werden von der Lösung dieser Konflikte. Wir kennen die bewundernswerten Pionierleistungen Frankreichs in Afrika, wir kennen auch die nicht abzuschützende wirtschaftliche Bedeutung dieser Länder; um so wichtiger erscheint es uns, daß die vorhandenen Gegensätze überwunden werden. Wir Deutsche, die wir aus der Teilung des eigenen Landes die solchen Spannungen innewohnende Gefahr täglich vor Augen haben, werben ganz naturgemäß immer wieder um die Solidarität unserer Partner in dieser Schicksalsfrage; um so mehr kommt es uns zu, das Ringen Frankreichs mit ernster Anteilnahme zu verfolgen.

Diese unmittelbare Parallelität der Problemstellung in Frankreich und Deutschland führt uns heran an ein Thema, das bei der heutigen Veranstaltung sozusagen in der Luft liegt: das für Europa in seiner Gesamtheit so ausschlaggebende deutsch-französische Verhältnis. Ich meine, es ist an der Zeit, dieses Verhältnis nicht mehr im Lichte der Gegensätzlichkeiten zu sehen, die die letzten Jahrhunderte beherrscht haben. Das ist am wenigsten hier angebracht. Als im Jahre 1838 Victor Hugo den Platz betrat, über den Sie alle soeben in dieses Haus gekommen sind, rief er, überwältigt von geschichtlicher Erinnerung aus: "Charlemagne est encore là tout entier", und ich meine, auch die seit dem vergangenen Jahre hätten diese Atmosphäre nicht zerstört. Noch einmal - diesmal in einem seiner dramatischen Werke - legt Victor Hugo seinem Helden im Angesicht der Gruft des großen Kaisers die Worte in den Mund: "Charlemagne est ici! Comment, sépulcre sombre. Peux-tu sans éclater contenir si grande ombre. Ah! c'est un beau spectacle à ravir la pensée. Que l'Europe ainsi faite et comme il l'a laisée!"

Kein Dichterwort vermöchte uns besser aufzuzeigen, was uns hier und in dieser Stunde gefangen nimmt: Das Bewußtsein der geschichtlichen Realität dessen, was uns als Ziel vorschwebt. Gewiß haben die schmerzlichen Erlebnisse des letzten Krieges eine tiefe Kluft aufgerissen zwischen Deutschland und seinen Nachbarn; nirgends war der Gegensatz so gefahrdrohend, wie im Verhältnis zu Frankreich, mit dem uns in den von Victor Hugo beschworenen Zeilen schon einmal eine staatliche Einheit verbunden. Wenn der Aachener aus seinem eigenen Geschichtsbewußtsein heraus die Verpflichtung empfindet, einen eigenen Beitrag zur Einigung Europas zu leisten, dann spricht aus ihm die Erfahrung des Menschen, der jenem Mittelreich entstammt, das einst im lotharingischen Dominium während einer kurzen Zeitspanne seine politische Form gefunden hatte. Dieser Raum ist in seinem ganzen Umfang im Hin und Her des Waffenglücks während vieler Jahrhunderte Grenzraum, Schicksalsraum europäischen Daseins gewesen.

Aus ihm stammt auch Robert Schuman, der Mann, dem heute die Ehren des Internationalen Karlspreises der Stadt Aachen zukommen sollen. Sein persönliches Schicksal hat weitgehend im Zeichen der Tragik des Menschen gestanden, der an einer unruhigen Grenze zu leben bestimmt ist. Seine Wiege stand, mehr oder weniger zufällig, in der Stadt Luxemburg, da sein Vater gerade in dieser Zeit dort beruflich tätig war. Schon im Kindesalter kam er nach Metz, in jene uralte, ehrwürdige Bischofsstadt, die Hauptstadt des damals zum Verbande des Deutschen Reiches gehörigen Lothringen; in Metz genoß er seine schulische Ausbildung und hier ließ er sich auch nach seinem Universitätsstudium im Jahre 1912 als Anwalt nieder. Wer weiß, wie stark unter der Oberfläche eines unnachgiebigen Regimes in Lothringen französische Überlieferung und Kultur gepflegt wurde, der kann sich auch eine Vorstellung davon machen, wie sehr Schuman schon in jungen Jahren in die Problematik hineingewachsen ist, die den Menschen an der Grenze ganz allgemein, ganz besonders aber an solch neuralgischem Punkt eines Grenzlandes formt und prägt. Das Erlebnis des ersten Weltkrieges stellte ihn erst recht mitten in den Zwiespalt dessen, der weiß, daß zu beiden Seiten dieser irgendwann einmal auf der Landkarte gezogenen Linie Menschen leben, die nicht geschaffen sind, um sich gegenseitig zu befehden, daß es hier wie dort unschätzbare Werte zu erhalten gilt, vor deren geheiligtem Anspruch keine Zwietracht bestehen darf. So war denn auch seine persönliche Schlußfolgerung aus dem Erlebten, daß er eine Wiederholung solchen Tuens unmöglich zu machen trachtete. Seit 1919 vertrat er seinen heimatlichen Wahlkreis in der Pariser Deputierten-Kammer, wuchs als junger Politiker schnell in die Verantwortung hinein und mußte es nach mehr als 20jährigem Wirken ansehen, daß der Konflikt, der auf seine ganze Jugend schon einen schweren Schatten geworfen hatte, wieder offen ausbrach. Seine heimatliche Scholle wurde erneut Kriegsschauplatz wie schon so oft in vergangenen Jahrhunderten, und die Menschen an der Grenze waren wieder die ersten Leidtragenden dieser Orgie der Zerstörung, die über fünf Jahre ihren Fortgang nehmen sollte. Sein mannhafter Protest gegen die Verschickung seiner Landsleute trug ihm schon im Spätsommer 1940 die Verhaftung ein, der er erst im Jahre 1942 sich entziehen konnte. Die folgenden Jahre verbringt er in der Verborgenheit wirkend. Sie mögen manche Überlegungen bei ihm zur Reife gebracht haben, die seine nun folgende Wirksamkeit in höchsten politischen Funktionen maßgebend beeinflußten. Zunächst Finanzminister, dann Ministerpräsident nimmt er von 1948 - 1953 die Schlüsselstellung des Außenministers ein. Er ist es, der in dieser Zeit die erste praktische Initiative aufgreift, die zum Abschluß des Vertrages über die "Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl" führt, der für alle Zeiten mit seinem Namen verbunden bleiben wird. Ausgehend von dem nüchternen Gedanken, daß das gemeinsame Wirken in den praktischen Aufgaben des täglichen Lebens eine festere Bindung erzeuge als jeder politische Pakt, unternahm man hier erstmalig den Versuch, lebenswichtige Fragen der Politik auf dem Wege über die wirtschaftliche Zusamenarbeit zu lösen. Typisch ist ein eindrucksvolles Zwischenspiel aus einer Nachtsitzung der "Assemblée Nationale", in dem es um die Ratifizierung ging. Ein Skeptiker aus der Reihe der Abgeordneten verstand es meisterhaft, in langer, wohlformulierter Rede die nach seiner Darstellung unzähligen Mängel der Vorlage darzutun, um dann schließlich an Robert Schuman die Frage zu richten, ob er unter diesen Umständen noch gesonnen sei, die Verantwortung dafür zu übernehmen. Der also Angesprochene erhob sich, hielt aber nicht die von vielen vielleicht erwartete Verteidigungsrede, sondern sprach nur die schlichten Worte: "Je l'assume": Klare Köpfe haben sofort erkannt, daß es verhältnismäßig irrelevant ist, ob die eine oder andere Vertragsbestimmung Ewigkeitswert hat: ganz entscheidend ist, daß eine Plattform geschaffen wurde, wo unabhängig von nationalen Bindungen praktische Fragen in gemeinsamen Bemühungen einer Lösung näher gebracht werden. Hier ist der Zwang zur Sachlichkeit gegeben und Sachlichkeit ertötet das Ressentiment. Wer wollte - rein menschlich gesprochen - den Völkern, die während der furchtbaren Jahre des Krieges unendlich gelitten, die Berechtigung zum Ressentiment absprechen? Und dennoch hat der überlegene Geist Robert Schumans die Notwendigkeit erkannt, der Ära der immer wiederkehrenden gegenseitigen Zerfleischung der Völker Europas ein Ende zu bereiten. Vor wenigen Tagen würdigte er selbst das Ergebnis mit folgenden Worten: "Der Erfolg lag vor allem auf psychologischem Gebiet; man mußte mit veralteten Gewohnheiten Schluß machen, mit einem Traditionalismus der Gedanken und der Methoden. Um die Hindernisse zu überwinden, galt es zunächst in den sechs Delegationen, die die Verträge ausarbeiten sollten, einen Gemeinschaftsgeist zu schaffen. Männer unterschiedlicher Herkunft mußten mit einem gemeinsamen Glauben erfüllt werden." Man kann die Erinnerung an dieses Ereignis nicht wachrufen, ohne dabei die entscheidenden Verdienste zweier anderer Karlspreisträger zu erwähnen: Die Rolle Jean Monnet's ist bei seiner Ehrung im Jahre 1953 in diesem gleichen Raum gewürdigt worden. Gesagt sei aber auch, daß die Initiative wohl kaum so rückhaltlos anerkannt worden wäre, wenn die französischen Staatsmänner nicht in Konrad Adenauer an der Spitze der Bundesregierung einem Partner begegnet wären, in dessen Entschlossenheit zur Überbrückung säkularer Schwierigkeiten sie vollstes Vertrauen setzten. Wer um die Zusammenhänge der inneren Arbeit der Delegationen weiß, der weiß auch, welch entscheidender Anteil Prof. Hallstein am Zustandekommen des Vertragswerkes hat.

Es gibt heute in der Tat keine gemeinsame Einrichtung der Völker dieses Erdteils, für deren Entstehung Robert Schuman sich nicht mit der ganzen Kraft seiner Persönlichkeit eingesetzt hätte. Der Mann, der als Staatssekretär für das Flüchtlingswesen im Jahre 1940 das grauenvolle Elend der unzähligen, durch die schreckliche Bedrohung auf die Landstraße getriebenen Menschen seines eigenen Fleisches und Blutes hatte fast ohnmächtig mit ansehen müssen, hat dem Gegner von gestern gegenüber das Gebot der Menschlichkeit über jede gefühlsbetonte Regung gestellt. Reiche Anerkennung ist ihm nicht nur aus seinem eigenen Vaterlande, sondern auch aus vielen anderen Ländern zuteil geworden.Zahlreiche Universitäten verliehen ihm die Würde eines Doctor honoris causa, höchste Ordensauszeichnungen wurden ihm von vielen Staatsoberhäuptern verliehen, die europäische Bewegung wählte ihn zu ihrem Präsidenten und als es kürzlich um die erstmalige Besetzung des Präsidentenstuhles im neugeschaffenen Europa-Parlament ging, verstummten beim Auftauchen seines Namens alle parteipolitischen und nationalen Aspirationen und sämtliche Stimmen vereinigten sich auf ihn. Der an einer blutenden Grenze geborene Mann hat aus dieser seiner eigenen Geschichtserfahrung entscheidende Einsichten gewonnen; er hat einen Weg beschritten, der die des ewigen Streites überdrüssigen Menschen dieses alten Europa, die von Sehnsucht nach Frieden und Eintracht erfüllt sind, in Bewunderung und Dankbarkeit vor ihm stehen läßt. Die Anerkennung, die seinem staatmännischen Wirken gezollt wird, findet auch Ausdruck in den Worten, die mir vor wenigen Tagen Sir Winston Churchill im Hinblick auf die heutige Veranstaltung schrieb: "I think that you have made an excellent choice for the Charlemagne Price and I wish the occasion every success."

Ebenso wie Paul Henri Spaak es tief bedauert, nicht zugegen sein zu können, bei der "remise du prix Charlemagne à mon excellent ami, le Président Robert Schuman" gibt auch der Herr Bundespräsident Prof. Heuss den gleichen Gefühlen Ausdruck und fügt hinzu: "Wollen Sie bitte Herrn Robert Schuman meine Grüße und Glückwünsche übermitteln. Ich habe vor seiner Person wie vor seiner politisch geschichtlichen Leistung sehr großen Respekt."

Wenn ich, sehr verehrter Herr Präsident Schuman, nach Worten suchen würde, um die diesjährige Entscheidung des Direktoriums der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachenzu begründen, dann könnte ich wohl schwerlich bessere finden, als dies der Bundespräsident getan hat. Wir Aachener, die der Einigung Europas dienen möchten, grüßen in Ihnen voller Sympathie den Menschen, dessen persönliches Schicksal in so mancher Beziehung dem unseren ähnlich ist. Wir danken Ihnen dafür, daß Sie Ihr ganzes Tun darauf abgestellt haben, die Uneinigkeit der Völker durch die Kraft Ihres Herzens zu überwinden. Dieser Dankbarkeit gibt das Direktorium Ausdruck durch die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen1958.