Rede von Klaus von Dohnany, Bundesminister für Bildung und Wissenschaft

Rede von Klaus von Dohnany, Bundesminister für Bildung und Wissenschaft

Der Bundeskanzler hat mich gebeten, die Versammlung und natürlich ganz besonders den diesjährigen Preisträger, seinen Freund Roy Jenkins, willkommen zu heißen und ihm seine Glückwünsche und die der Bundesregierung zu überbringen.

Ich hätte selbstverständlich die Aufgabe, anläßlich der Verleihung des Karlspreises zu sprechen, gern für jeden mit dieser Auszeichnung geehrten Preisträger übernommen – aber anläßlich der Ehrung von Roy Jenkins sprechen zu können, hierum habe ich im Kabinett ausdrücklich gebeten. Ohne der Laudatio vorzugreifen, will ich dies damit begründen, daß für mich mit dem Namen Roy Jenkins politische Positionen verbunden sind, in denen ich entscheidende Markierungen für Europas politische Zukunft erkenne.

Europas Zukunft wurzelt in Europas Vergangenheit. Viele sprechen heute resignierend von der politischen Schwäche Europas und sehen die Verantwortung für das, was in der Welt geschieht, in erster Linie bei den Supermächten. Dabei vergißt man offenbar, daß – im guten wie im Bösen – weder Washington noch Moskau ihre europäische Herkunft verleugnen können.

Denn Europas Aufbruch aus der Enge dumpfer Tabus und Vorurteile in das Wagnis sich stets selbst in Frage stellender Erkenntnis war der Beginn des wissenschaftlichen Zeitalters. Die Suche nach Erkenntnis ist der Quell, das uneinschränkbare Recht auf Erkenntnis und das Recht auf freie Meinungsäußerung bleiben die Voraussetzung menschlicher Entwicklung. Eine demokratische Industriegesellschaft ist ohne diese Voraussetzungen undenkbar.

Die neue Gesellschaft wird heute in der ganzen Welt durch Kräfte bestimmt, die ihren Ausgang von unserem europäischen Kontinent genommen haben – wiederum im Guten wie im Bösen. Und für das, was einmal von Europa ausging, bleibt Europa in der Verantwortung. Politische Schwäche kann uns von dieser Verantwortung nicht entbinden. Die Verpflichtung ist vielmehr, unsere politischen Kräfte für diese Verantwortung zu bündeln.

Denn die Zeit, in der wir leben, verlangt darüber zu befinden, wie die großen, oft blutig erstrittenen Freiheiten der demokratischen Industriegesellschaft die Freiheit der Wissenschaft zum Beispiel oder die Freiheit der Presse, die Freiheit des Eigentums oder die Freiheit zur politischen Betätigung, in einer Welt zu verstehen sind, die eben aus diesen Freiheiten entstanden ist. Unsere politische Aufgabe ist es, in Freiheit und zur Erhaltung der Freiheit nun auch die ökonomischen , sozialen und politischen Folgen der Freiheiten zu bewältigen.

In den Wissenschaften zum Beispiel stoßen wir schon heute auf Fragen, die uns konventionelle Weisheit nicht mehr beantworten kann. Nicht nur die Möglichkeit genetischer Manipulation des Menschen wirft die Problematik der Grenzen der Wissenschaftsfreiheit auf . Wir wissen: Die Labors werden so wenig in den Himmel wachsen wie die Bäume – aber wenn wir nicht wollen, daß Grenzen wissenschaftlicher Forschung durch Zwang gezogen werden, müssen wir sie, dann müssen auch die Wissenschaftler die Grenzen der Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnis in Freiheit formulieren.

Oder, zur Meinungsfreiheit: Sie ist in erster Linie die Freiheit des Andersdenkenden, formulierte Rosa Luxenburg. So wollen auch wir es halten. Ich sage ?wollen? – denn nicht immer halten wir es so. Die Erhaltung einer freien politischen Ordnung verlangt von uns Mut in der Ablehnung engstirniger, aber wieder in Mode kommender Dogmen, die alle historischen Erfahrungen außer Acht lasse, aber auch Mut in der Toleranz unbequemer und radikal neuer Ansichten. Wir müssen sie anhören im Vertrauen auf die heilende Kraft der Meinungsfreiheit.

Dem Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung steht ein Recht auf Information gegenüber. Die Freiheit der Presse findet deswegen ihre Grenzen in der Verantwortung des Journalisten und des Zeitungsverlegers für eine wahrheitsgemäße Information der Bürger. Europa ist in der Pressefreiheit ein Lebensnerv der Demokratie gewachsen: Um sie zu erhalten, müssen wir nun die Informationsverantwortung der freien Presse in den Gesetzen wirksam verankern und die Vielfalt der Presseorgane auch im Rahmen unseres Wirtschaftssystems sichern.

Oder: Das Recht der Bürger auf Eigentum an Grund und Boden war ein entscheidender Beitrag zur sozialen Befreiung des Einzelnen. Heute geht es um die Grenzen dieser Freiheitsrechte, zum Beispiel durch ein das Leben der Städte und Landschaften erhaltendes soziales Bodenrecht.

Wie das freie Streben nach Erkenntnis des Menschen der Motor geschichtlicher Entwicklung ist, so sind Wissenschaft und Technik die Treibriemen zur wirtschaftlichen Expansion. Von Europa gingen entscheidende Impulse für die technische und wirtschaftliche Erschließung dieser Welt aus, auch wenn die Vereinigten Staaten in unserem Jahrhundert die Führungsrolle übernommen haben. Doch Expansion der Produktion und Erhöhung des Lebensstandards haben schon im 18. und 19. Jahrhundert auch diejenigen Konflikte aufgezeigt, mit denen alle Nationen heute immer offenkundiger ringen: Die ungezügelten Kräfte des Wettbewerbs drohen zunehmend sowohl die soziale als auch die natürliche Umwelt der Menschen zu zerstören. Die Freiheit des Wettbewerbs muß deswegen ihre Grenzen suchen, um die ökonomische Expansion so zu kanalisieren und zu kontrollieren, daß wir dieser Zerstörung der Umwelt Einhalt gebieten können. Diese Grenzen des Wachstums – The Limits of Growth, wie ein kürzlich veröffentlichtes Buch des Club of Rome heißt – zu finden, heißt politische Entscheidungen wie zum Beispiel die Durchsetzung des Verursacher- und Verbotsprinzips im Umweltschutz zu treffen.

Das wird also die politische Aufgabe der Europäer sein: Freiheit und Gleichheit zu verschmelzen; individuelle Freiheiten und soziale Verpflichtungen politisch miteinander vereinbar zu machen. Europa kann eine Politik der sozialen Expansion an die Stelle einseitiger Produktionssteigerung einleiten. Ich sage: Europa muß dies tun, wenn wir verantwortlich die Konsequenz aus unserer Geschichte ziehen wollen.

Ein drittes Element in der Entwicklung unserer heutigen Welt, das ebenfalls zuerst in Europa seine moderne Ausformung gefunden hat, darf nicht ungenannt bleiben.

Aus unserem Raum stammt die politische Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Völker, aber auch seine Entartung, die nationalistische Eigenbrötelei oder die noch gefährlichere nationalistisch-imperialistische Expansion. Europa hat begonnen, den Nationalismus seiner Geschichte zu begraben. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und ihre Erweiterung durch den Beitritt Großbritanniens und der anderen Beitrittsstaaten sind beispielhaft hierfür. Und wenn es jetzt gelingt, die noch immer blutende Wunde zwischen Ost- und Westeuropa zu schließen, dann kann Europa auch zeigen, daß auch im Leben der Völker Selbständigkeit und Solidarität nicht unvereinbar sein müssen.

In der vergangenen Woche hat dem Bonner Parlament in erster Lesung das Vertragswerk über die Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft vorgelegen, und ich freue mich, hier berichten zu können, daß die bevorstehende Erweiterung in der Bundesrepublik von allen parlamentarischen Kräften getragen wird.

Daß die Kräfte für eine weitere Einigung Europas sowohl in der Gemeinschaft als auch in den Beitrittsländern allen Hindernissen zum Trotz lebendig blieben und schließlich gewannen, ist entscheidend Politikern wie dem heutigen Preisträger zu danken. Sie, Mr. Jenkins, haben sich über viele Jahre nicht entmutigen lassen und auch unter widrigen Umständen mutig an Ihrer Überzeugung festgehalten. Wir danken Ihnen dafür.

Auch wenn der Kampf um den Beitritt in den neuen Mitgliedsstaaten noch nicht ausgefochten ist und es dabei oft um knappe Mehrheiten gehen kann, so bin ich doch zuversichtlich, daß das Vertragswerk in Erkenntnis der politischen und wirtschaftlichen Vorzüge des Beitritts von allen Beitrittsländern angenommen wird.

Für uns geht es jetzt darum, gemeinsam mit den Beitrittsländern die Aufgaben anzupacken, die wir uns für die Zukunft gestellt haben und für deren Bewältigung wir uns auch von der Europäischen Gipfelkonferenz im Oktober dieses Jahres wichtige Anstöße in allen genannten Bereichen erwarten. Es geht um:

-Fortschritte beim Aufbau der Wirtschafts- und Währungsunion, wobei wir eben aus den genannten Gründen auch die Fragen des Umweltschutzes, der Regional- und Sozialpolitik einbeziehen müssen;

-Stärkung der Organe der Gemeinschaft und ihrer parlamentarischen Kontrolle;

-Verbesserung der politischen Zusammenarbeit und der Außenbeziehungen der Gemeinschaft, eine größere Verantwortung gegenüber den Ländern der Dritten Welt und eine wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den Ländern Osteuropas;

-und schließlich – Sie werden diese besondere Erwähnung dem Minister für Bildung und Wissenschaft erlauben – eine verstärkte Zusammenarbeit auch in der Forschungs- und Erziehungspolitik.

Die Bundesregierung erhofft von der Zusammenarbeit mit den neuen Mitgliedsstaaten eine Stärkung des wirtschaftlichen und politischen Gewichtes der Europäischen Gemeinschaft in unserer Verantwortung für eine freiere und zugleich gerechtere Welt. Ich möchte hier den Preisträger zitieren:

?Wir können uns wirksam um die weitgehende Erhaltung der nordatlantischen Freundschaft bemühen, können für eine Entspannung zwischen Ost und West arbeiten, deren Zukunft von Deutschland abhängt, und können den unter Armut leidenden Nationen der Welt eine größere Unterstützung zuteil werden lassen. Und wir können das tun – nicht als Wächter einer überholten, engstirnigen nationalen Souveränität ..., sondern als Protagonist einer umfassenderen Einheit, die Bedeutung für die ganze Welt hat.? Das sagte Roy Jenkins in seiner Rede auf dem Jahresparteitag der Londoner Labour-Party am 13. Mai 1967.

Wir sollten uns jedoch nicht darüber täuschen, welche Kraft zur Vollendung dieses Werkes von uns und unseren Kindern verlangt werden wird. Denn wenn auch an der Wiege des Nationalismus die Sehnsucht nach Selbstbestimmung gestanden hat: Heute ist, und zwar auch noch in unserem Europa, wirtschaftlicher Wettbewerb eine Quelle, aus der nationaler Egoismus zunehmend gespeist wird. Deswegen ist die Wirtschafts- und Währungsunion der Europäischen Gemeinschaft von entscheidender Bedeutung. Und diese wiederum wird ohne zunehmende politische Zusammenarbeit nicht möglich sein.

Wir wissen, daß es nicht genügt, schöne Vorstellungen von einer besseren Welt zu haben. Es reicht nicht aus, vom Gipfel zu träumen. Der harte und schwierige Weg zum Gipfel, den wir bewältigen müssen, setzt Phantasie ebenso wie intime Kenntnis der Schwierigkeiten voraus, und Mut ebenso wie Augenmaß für den jeweils möglichen nächsten Schritt. Europa hat durch seine Geschichte große Kräfte der Menschheit freigesetzt. Die Aufgabe unserer und der kommenden Generationen wird es sein, eine humane Zähmung dieser Kräfte zu erreichen. Das Ziel einer Gesellschaft mit mehr menschlichem Glück muß keine Utopie sein. Aber dieses Ziel ist nur dann realistisch, wenn solche es in sich tragen, die die Schwierigkeiten nicht unterschätzen, die harte politische Arbeit nicht scheuen und die – wenn es um Gewissensfragen geht – ihre persönliche Überzeugung uneingeschränkt in die Waagschale werfen.

All dies zeichnet Roy Jenkins auch als Europäer aus. Das wollte ich für die Bundesregierung hier sagen.