Rede des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen, Dr. Jürgen Linden

Rede des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen, Dr. Jürgen Linden

Verehrte Festgäste!

Die Europäische Union ist der einzigartige Versuch, Europa zu einem einheitlichen Raum des Friedens, der Freiheit und der Demokratie zu gestalten. Viele der bisherigen Anstrengungen waren erfolgreich.

40 Jahre nach Unterzeichnung der Römischen Verträge sind wir dankbar für eine nie gekannte Periode politischer Stabilität, ökonomischen Wohlstands und weitgehender sozialer Gerechtigkeit.

Die vor uns liegenden Aufgaben bleiben gewaltig: wirtschaftlich durch die Internationalisierung der Arbeit, die Globalisierung der Märkte und den Übergang in das Informationszeitalter, politisch durch die notwendige Erweiterung der Union, der damit verbundenen institutionellen Neuordnung und der Klärung der europäischen Identität gegenüber nationalstaatlichem Souveränitätsdenken.

Die Europäische Union steht vor einer entscheidenden Reformphase. Sie muß sich befreien von diplomatischen Floskeln und Kleinkrämerei, statt dessen den europäischen Konsens neu begründen und die Gemeinschaft auf das ganze Europa ausrichten. Die Union braucht Fortschritte, braucht Hoffnung und Ermutigung. Dazu bedarf es überzeugender Visionen, auch überzeugender Visionäre. Es bedarf der Persönlichkeiten, die diese Herausforderung annehmen und Vertrauen in den Erfolg haben.

Eine solche Persönlichkeit ist der Träger des Internationalen Karlspreises der Stadt Aachen 1997. Ich begrüße sehr herzlich den Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Prof. Dr. Roman Herzog. Unser herzlicher Willkommensgruß gilt auch der Gattin des Bundespräsidenten, Frau Christiane Herzog, und den weiteren Mitgliedern ihrer Familie.

Mit dem Karlspreisträger 1997 begrüße ich die Karlspreisträger früherer Jahre:

·für die Karlspreisträger 1969, die Kommission der Europäischen Gemeinschaften, den damaligen Vizepräsidenten Dr. Fritz Hellwig und Kommissar Dr. Hans von der Groeben
·den Karlspreisträger 1976, den ehemaligen belgischen Ministerpräsidenten, Herrn Leo Tindemans
·den Karlspreisträger 1977, den vormaligen Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Herrn Walter Scheel
·den Karlspreisträger 1979, den früheren Präsidenten des Europäischen Parlaments, Herrn Emilio Colombo
·die Karlspreisträgerin 1981, die frühere Präsidentin des Europäischen Parlaments, Frau Simone Veil
·den Karlspreisträger 1982, Seine Majestät König Juan Carlos I. von Spanien
·für den Karlspreisträger 1986, Seine Königliche Hoheit Großherzog Jean von Luxemburg
·die Karlspreisträgerin 1994, die ehemalige Ministerpräsidentin des Königreichs Norwegen, Frau Gro Harlem Brundtland
·die Karlspreisträgerin 1996, Ihre Majestät Königin Beatrix der Niederlande.

Eine besondere Freude bereiten uns mit ihrer Anwesenheit Ihre Königliche Hoheit Großherzogin Josephine-Charlotte von Luxemburg sowie Ihre Majestät Königin Sofia von Spanien.

Ich begrüße mit besonderer Hochachtung den spanischen Außenminister, Herrn Abel Juan Matutes, den bulgarischen Außenminister, Herrn Dr. Stoyan Shivkov Stalev, den Präsidenten des Bundesrates der Republik Österreich, Herrn Prof. Dr. Herbert Schambeck.

Sehr gerne begrüße ich heute im Aachener Krönungssaal die Botschafter und Gesandten der Länder: Belgien, Bulgarien, Dänemark, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Israel, Italien, Luxemburg, Malta, Niederlande, Norwegen, Polen, Portugal, Russische Föderation, Schweiz, Spanien, Slowakei, Tschechien, Ungarn, Zypern sowie die Botschafter Deutschlands in Spanien und Luxemburg und den Vertreter der Bundesrepublik Deutschland bei der EU sowie den Leiter der Vertretung der Kommission in Bonn.

Wir freuen uns herzlich über die Anwesenheit der Präsidentin des Deutschen Bundestages, Frau Prof. Dr. Rita Süssmuth.

Herzlich begrüße ich unseren Landesvater, den Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen, Herrn Dr. Johannes Rau sowie die Landesminister Frau Anke Brunn, Herrn Dr. Fritz Behrens, Herrn Prof. Dr. Manfred Dammeyer und den Präsidenten des nordrhein-westfälischen Landtages, Herrn Ulrich Schmidt.

Grüßen möchte ich auch das Mitglied der Europäischen Kommission, Frau Dr. Monika Wulf-Mathies sowie den Generalanwalt des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaft, Dr. Carl Otto Lenz.

Willkommen heiße ich den Präsidenten des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks, Herrn Dieter Philipp.

Besonders freue ich mich über die Anwesenheit des Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland, Herrn Ignaz Bubis.

Darüber hinaus grüße ich die Vertreter der Kirchen und Religionsgemeinschaften, der Streitkräfte, der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste, des Club of Rome, meine Bürgermeisterkollegen aus Arlington/Virginia, Bonn und den Nachbarstädten sowie viele weitere, namhafte Persönlichkeiten, die uns durch ihre Anwesenheit ehren. Ihnen allen, die Sie an diesem heutigen Ereignis hier im Krönungssaal oder an Radio und Fernsehen teilnehmen, gilt der aufrichtige Gruß der Stadt Aachen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

die bislang bedeutsamste Errungenschaft der Europäischen Union ist der gemeinsame Binnenmarkt, der rund 370 Millionen Menschen den freien Austausch von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital gewährt. Seine Vorteile lassen sich auf Dauer nur sichern durch die gemeinsame Wirtschafts- und Währungsunion.
Der Euro ist dazu die Voraussetzung. Durch den Euro stärkt Europa seine Wachstums- und Beschäftigungsgrundlagen, verbessert die Investitionsbedingungen, steigert die Preisstabilität und macht sich konkurrenzfähig für den globalen Wettbewerb. Der Euro dient so nicht nur dem Interesse der Gemeinschaft in ihren Außenwirtschaftsbeziehungen, sondern auch der jeweiligen Nationalökonomie.

Wenn die soeben veröffentlichte Frühjahrsprognose der EU-Kommission erhebliche Fortschritte bei der wirtschaftlichen Konvergenz feststellt, gibt es trotz verbleibender Zweifler und Bedenkenträger kein Hindernis, den Euro, wie vereinbart, Anfang 1999 einzuführen. Wer ihn vertagt, vertagt auch den Fortschritt der Gemeinschaft.

Die Einführung der gemeinsamen Währung ist eine Schicksalsentscheidung und doch - meine sehr verehrten Damen und Herren - nur ein Meilenstein auf dem Weg, der noch vor uns liegt; denn Europa ist mehr als nur der Binnenmarkt oder die Währungsunion.

Václav Havel, Karlspreisträger 1991, beschrieb im letzten Jahr in diesem Saal Europa - als "ein gemeinsam geteiltes Schicksal, eine gemeinsame komplizierte Geschichte, als gemeinsam geteilte Werte und eine gemeinsame Kultur des Lebens". Er forderte ein zielgerichtetes Wollen und Verantwortungsbewußtsein der Menschen für das Europa von morgen. Daran mangelt es noch häufig. Sicher: es gibt noch eine Menge ungelöster Probleme; es gibt die Ängste und Zweifel vieler Menschen. Auf all das muß man argumentativ reagieren, muß konkreter als bisher erklären, was die Gemeinschaft dem einzelnen bedeutet, welche Vorteile er hat und so das Zusammengehörigkeitsgefühl in Europa sowie den Willen zu seiner Vollendung fördern.

Alle Länder der EU leiden heute mehr oder weniger unter den Folgen des Strukturwandels. Der Niedergang ganzer Industriezweige, die Rationalisierung und die Rezession führten zu rd. 25 Millionen Erwerbslosen in der Gemeinschaft, darunter viele Jugendliche, Frauen und Langzeitarbeitslose. Vielfach ist soziale Ausgrenzung die Folge. Auf diese Entwicklung muß die Europäische Union eingehen, nicht unbedingt Brüssel mit der Gestaltung einer gemeinsamen Beschäftigungspolitik beauftragen und dafür auch noch mehr Geld fordern, sondern der Ministerrat und die Kommission sollen endlich die nationalen Arbeitspolitiken, die Steuergesetzgebungen, die ökologisch notwendigen Maßnahmen auf Gemeinschaftsebene koordinieren, damit die Nationalstaaten besser voneinander lernen und zusammenarbeiten können.

In Europa darf nicht nur über Geld und Märkte geredet werden, sondern man muß auch über die sozialen Perspektiven sprechen. Wenn angesichts der Sozialleistungen und der wachsenden Arbeitslosenzahlen der Sozialstaat reformiert werden muß, muß man das den Menschen erklären und nicht darauf warten, bis rechtsradikale Parteien den Umbau besorgen - und dabei unsere sozialen Errungenschaften opfern. Wer den europäischen Sozialstaat zerstört, wird auch Europa zerstören.

Europa braucht Wahrheit und Klarheit. Nur so kann die Entscheidung für die Union in Anlehnung an Ernest Renan "un plébiscite de tous les jours", ein Ja mit Herz und Verstand eines jeden einzelnen werden.

Europa braucht das Vertrauen und die Unterstützung seiner Bürger. Es reicht nicht, wenn 15 oder mehr Lokomotivführer einen Zug in die richtige Richtung steuern; der Zug sollte auch Passagiere haben, die die Wegstrecke und vor allem das Ziel kennen.

Europa ist mehr als eine politische Landkarteneinheit, mehr als eine wirtschaftliche Vorteilsgemeinschaft, mehr als eine Pflegestätte alter Kulturen. Die EU muß aber erst noch von einer Nutzen- und Schicksalsgemeinschaft zu einer Erfahrungsgemeinschaft werden.

Heute umfaßt die Gemeinschaft nur einen Teil Europas. Zehn mittel- und osteuropäische Staaten sowie Zypern haben einen Beitrittsantrag gestellt. Sechs Monate nach Abschluß der Regierungskonferenz sollen die Beitrittsverhandlungen beginnen.

Wir wissen: Vor einem Erdbeben wird selten geläutet. Eine sprunghafte Erweiterung würde nicht nur den bisher gebildeten Integrationskern der Union gefährden, sondern vielen Beitrittsanwärtern auch einen "Anpassungsschock" versetzen, den sie nicht verkraften können. Es gilt deshalb zu differenzieren ohne zu diskriminieren. Die EU-Kommission muß den Heranführungsprozeß gemeinsam mit den Beitrittskandidaten, gemeinsam mit den Mitgliedsstaaten betreiben, koordinieren und steuern.

Nur eine mit Umsicht betriebene Erweiterung der Union bedeutet auch eine Erweiterung des europäischen Stabilitätsraumes. Sicherheitspolitisch ist dies unverzichtbar. Vertiefung und Vollendung der EU bleiben die maßgebenden Leitideen der kommenden Jahre, eine europäische Heimat unsere Vision.

Hier im Dreiländerland mit Maastricht, Lüttich und Aachen haben wir die Erfahrung gemeinsamer Geschichte, haben wir auch die Erkenntnis, daß unsere Zusammenarbeit für jeden existenznotwendig ist. Hier mühen wir uns an kommunalen Projekten, von denen die Menschen, die schon lange nicht mehr danach fragen, ob sie als Deutsche in Belgien oder den Niederlanden wohnen, als Niederländer in Deutschland arbeiten oder Belgier in den Niederlanden Kultur und Freizeit erleben, auch ganz persönlich etwas haben.

Hier haben wir die Erkenntnis, daß der Weg zum gemeinsamen Haus Europa bei allen Zweifeln und Vorurteilen, bei allen nationalen und Brüsseler Hemmnissen noch lang und mühsam sein wird und doch zu ihm keine Alternative besteht.

Ob bei dieser Alltagsarbeit, ob bei der Gestaltung der großen europäischen Leitlinien - immer wieder kommt es auf Menschen an, die Verantwortung für die europäischen Ziele übernehmen - Menschen, die auf neue Tatbestände mit neuem Denken reagieren, die der europäischen Jugend Hoffnung und Mut machen, die die schöpferische Funktion fruchtbaren Streitens erkennen und selbst in ihrem Leben vorbildliche Europäer sind. Zu diesen Menschen gehört unser Bundespräsident Prof. Roman Herzog.

Prof. Herzog steht mit seiner Person und seinem Amt nicht nur für die ständigen ökonomischen Bemühungen, sondern auch für die politische, die soziale Einheit Europas und den Fortbestand der europäischen Kulturvielfalt.

Die ethische Lektion der europäischen Geschichte, die er von den Enkeln Karls des Großen 842 in den Eiden von Straßburg ableitet, die er in den Entwürfen von Monnet, Schuman, de Gasperi, Adenauer und Havel wiederfindet, und die für ihn im Vertrag von Maastricht als neue Herausforderung erscheint, ist Triebkraft seines Handelns. Sein Ziel lautet Versöhnung und Integration. Seine Vision ist ein geeintes und friedliches Europa.

Sehr geehrter Herr Bundespräsident, Ihre Auftritte in Polen, Tschechien oder auch den Niederlanden, Ihre jüngste Erklärung zu Guernica, waren wichtige Schritte auf dem Weg zur Vollendung der Gemeinschaft und zur Stabilisierung des Friedens. Sie leisten wertvolle Verständigungs- und Versöhnungsarbeit. Dafür danken wir Ihnen.

Jetzt stellen Sie mit Begeisterung und Tatendrang die osteuropäische Erweiterung der Union als wichtigste politische Aufgabe auf die Tagesordnung, weisen auf das Gemeinsame hin, auch darauf, daß die Sicherheit in Europa unteilbar ist und fordern von uns den Mut zum Erfolg.

Wir lernen dankbar von Ihnen, daß wir alle in der Verantwortung für die Integration stehen.

Prof. Roman Herzog, meine Damen und Herren, drängt, wo immer er Gelegenheit findet, auf rasche Verständigung.

Der für ihn bedeutsamste Wegweiser zu den Nachbarn ist die Kultur. Wenn auch Europa die Weltregion sei mit der höchsten Vielfalt an Sprachen, Sitten und Lebensformen, so habe Europa sich von der Antike bis heute stets als Einheit verstanden. Vier Fünftel unserer inneren Habe seien europäisches Gemeingut.

Bildung, Wissenschaft und Forschung fordert er deshalb zu stärken, damit den Menschen auf der Grundlage bester geistiger Traditionen schneller der Weg zueinander geebnet werden kann.

Unser Bundespräsident plädiert schließlich für ein einiges und demokratisches Europa, das sich als Europa der Bürger versteht. Er will "die Köpfe und die Herzen der Menschen" gewinnen. Der Karlspreisträger 1997 weiß: ,,Die Europäische Union kann nur weiterentwickelt werden, wenn sie von den Unionsbürgern akzeptiert wird, und sie kann nur mit Leben erfüllt werden, wenn sie in den Herzen der Bürger fest verankert ist".

Verehrte Festversammlung,

Prof. Dr. Roman Herzog lebt und wirkt im Geiste der Völkerverständigung und Friedenswahrung. Das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen ehrt mit der Verleihung des Karlspreises I 997 einen großen Europäer.

Sehr geehrter Herr Bundespräsident, ich gratuliere Ihnen.