Rede von Franz Blücher, Vizekanzler

Rede von Franz Blücher, Vizekanzler

Es hat wenige Anlässe gegeben, bei denen ich mit solcher Freude gesprochen habe wie heute. Soll doch am heutigen Tage Paul Henri Spaak geehrt werden, durch die Verleihung des Karlspreises, die nach den Willen der Stifter diejenigen auszeichnen soll, die sich durch ihren Beitrag zu dem Gedanken der europäischen Verständigung besonders hervortaten. Sollen wir uns doch heute in Bescheidenheit selbst geehrt fühlen, wenn wir durch die Überreichung des Karlspreises für ganz Europa den Dank abstatten, der Herrn Spaak für seine unablässigen Bemühungen um die Verwirklichung des großen Zieles unserer Zeit, um die Herstellung eines vereinigten Europas gebührt. Erinnern Sie sich an die Namen: Graf Coudenhove-Kalergi, Jean Monnet, Alcide de Gasperi, Hendrik Brugmans, Konrad Adenauer, Sir Winston Churchill, dann werden Sie bestätigen, daß auch im Jahre 1957 die Verleihung des Karlspreises einen Würdigen getroffen hat.

Ich weiß nicht, ob es viele Staatsmänner im heutigen Europa gibt, die so lange in der vordersten Front des politischen Geschehens stehen wie Sie, lieber Herr Spaak. Sie haben Ihrem Lande bereits vor über zwei Jahrzehnten gedient, als das Aufkommen der Diktatoren die Hoffnung auf eine vertrauensvolle und gleichberechtigte Zusammenarbeit der europäischen Staaten zur Illusion werden ließ. Als verantwortlicher Minister führten Sie die belgische Außenpolitik durch die schweren Kriegs- und Nachkriegszeiten. Vor wenigen Tagen erst haben Sie das Ihnen 1954 erneut übertragene Amt des Belgischen Außenministers niedergelegt, um sich anderen, nicht weniger wichtigen Aufgaben zuzuwenden. Es steht mir nicht zu, über die Verdienste, die Sie sich um die belgische Heimat erworben haben, im einzelnen zu sprechen. Was uns aus der Zeit Ihres Wirkens in Ihrem Lande Vorbild ist, das ist Ihre Fähigkeit, sich in jeder Lebenslage den weiten Blick, das Verständnis für die größeren Zusammenhänge und – was mir als Deutschem wesentlich erscheint – das Verständnis auch für die politischen Lebensbelange des Nachbarn zu bewahren.

Lassen Sie mich zu dieser Frage einige Worte sagen! Ich berühre hiermit ja ein Problem, vor das sich der handelnde Politiker stets von neuem gestellt sieht. Soll er der Mann der Sonderinteressen sein, soll er in erster Linie nur die Belange von Teilen der Gemeinschaft wahrnehmen und sich damit eine zweifellos leichte, unkomplizierte, wenn auch einseitige Art der Auseinandersetzung mit den politischen Problemen zu eigen machen? Oder sollte er nicht bemüht sein, sich bei der Erfüllung seiner politischen Aufgaben stets der größeren Gesichtspunkte und der Verantwortung für das Ganze bewußt zu sein, - auf die Gefahr hin, daß er es vielfach keinem recht macht? Ich glaube, daß die Antwort nicht schwer ist. Der im öffentlichen Leben Tätige findet die Rechtfertigung seines eigenen Tuns und die wahre Befriedigung im Beruf letztlich nur dann, wenn er sich zu dem Wege bekennt. Hier ist die Grenzlinie zwischen dem Staatsmann und dem Politiker.

Ich sage dies mit Bedacht in einer Stunde, die Herrn Spaak ehren soll. Sein politischer Lebenslauf bietet, wie wenig andere, ein Beispiel dafür, welche Möglichkeiten der persönlichen Entfaltung für den Handelnden in einer unbegrenzten Aufgeschlossenheit allen Fragen der Zeit gegenüber begründet liegen können. Sie haben, Herr Spaak, das Verständnis für die politischen Anliegen des anderen Staates mit der Tat bewiesen. Als patriotischer Belgier haben Sie nie übersehen, daß auch jenseits der Grenzen Ihres schönen Landes Menschen leben, denen das politische Schicksal ihrer eigenen Heimat genauso am Herzen liegt wie das Schicksal Ihnen Ihres Landes. Der Vertrag über die Deutsch-Belgische Grenzbereinigung vom 24.9.1956 trägt auch Ihre Unterschrift und ich darf gerade an dieser Stelle in der Grenzstadt Aachen sagen, daß es wenige Verträge aus den letzten Jahren gibt, die bei den Völkern beider vertragsschließender Parteien eine solche einmütige Zustimmung gefunden haben.

Der Staatsmann, der den Dingen auf den Grund zu gehen sucht, sieht auch über die Grenzen seiner Nachbarländer hinaus. Die Erkenntnis der Schicksalsverbundenheit der europäischen Völker konnte niemandem fehlen, der die Ursachen des Zusammenbruchs Europas während des zweiten Weltkrieges mit offenen Augen zu ergründen suchte. So wuchs der Wille: Es darf nicht nur in Negativem, im Kriege so etwas wie eine unlösbare Verbindung des Geschicks der eng zusammengedrängten Völker geben. Im Frieden schon müssen wir anstelle des selbstzerstörerischen ?Gegeneinander? das ?Miteinander? setzen. Die dunkelste Stunde unserer jüngsten Vergangenheit ist zur Geburtsstunde einer lebensfähigen, weil von der politischen Notwendigkeit getragenen europäischen Bewegung geworden.

Es mag zunächst der Fall gewesen sein, daß das Verhältnis zum Nachbarn den Vorrang bei diesen Gelegenheiten besaß. Aber ich glaube, daß keiner von uns längere Zeit bei dieser Überlegung stehen geblieben ist, denn es ist ja nun einmal so, daß sich die Beziehungen der europäischen Staaten nicht als eine Summe lediglich zweiseitiger Beziehungen definieren lassen. Das Problem ist unendlich vielschichtiger und läßt sich nur dann befriedigend lösen, wenn über dem bloßen institutionellen Aufbau Europas nicht die Aufgabe übersehen wird, gleichzeitig – von einem übergeordneten Standpunkt aus – an die Regelung des Gesamtkomplexes der Beziehungen der europäischen Völker untereinander zu denken. Die politischen Probleme unserer Zeit lassen sich nun einmal nicht mehr aus der nationalen Kirchturmperspektive erfassen; wir alle müssen lernen, wenn es nottut, unseren geistigen Standort auch an anderen Punkten unseres Kontinents aufzurichten, um von dort aus die politischen Verhältnisse in neuer Sicht verstehen zu lernen.

Sie sind uns auf diesem Wege vorangegangen. Es gibt wohl wenige unter uns, die mit gleich leidenschaftlicher Vitalität und – was selten ist – mit gleichbleibender Zähigkeit der Verwirklichung der einmal gewonnenen Erkenntnisse zu dienen suchten. Europarat, Kohle- und Stahlgemeinschaft, OEEC, Westeuropäische Union, überall begegnen wir Ihrer Stimme, vorwärtstreibend, mitunter warnend, niemals an Kraft nachlassend. Sie sind die letzten Jahre über hart am Feinde des europäischen Immobilismus geblieben und haben bei mehr als einer Gelegenheit nicht nur Europa, sondern auch den ?Europäern? den Vorkämpfern des europäischen Zusammenschlusses die Leviten lesen müssen. Sie haben es mit Recht getan. Wir alle wissen, wie schwer es mitunter war, das europäische Fähnlein angesichts der Rückschläge und angesichts der Ströme skeptischer Betrachtungen, die noch vor nicht allzu langer Zeit über uns ausgegossen wurde, aufrecht zu halten.

Sie haben nun vor wenigen Tagen Ihren Wirkungskreis gewechselt, aber es wird sich kaum jemand finden, der Ihre Zuwendung zu den atlantischen Problemen als Abwendung von Europa verstehen würde. Möge es Ihnen auch in Ihrer neuen Tätigkeit gegeben sein, direkt und indirekt die Voraussetzungen für eine sich vertiefende Zusammenarbeit der europäischen Völker zu schaffen. Ich bin gewiß, daß es Ihnen auch weiterhin gelingen wird, schöpferisch in das Geschehen einzugreifen, dieses Mal im Rahmen der größten Aufgabe, die uns gestellt ist, in der Aufgabe die Güter der Freiheit in Gegenwart und Zukunft vor den Mächten des Dunkels zu bewahren.

Der Herr Oberbürgermeister der Stadt Aachen wird es mir nicht verübeln, wenn ich an dieser Stelle auch auf die besondere Rolle zu sprechen komme, die der Stadt Aachen als einem der Kristallisationspunkte des europäischen Denkens in Vergangenheit und Gegenwart zukommt. Ich weiß nicht, ob bei der Verleihung des Karlspreises dieses Mal in der Ferne der Gedanke mitgespielt hat, durch die Überreichung des Preises an Herrn Spaak die Beziehungen Aachen zu dem benachbarten Lande besonders zu pflegen. Wir sind hier ja schließlich nur wenige Kilometer von der belgischen Grenze entfernt. Wenn dem so ist, so handelt es sich bei dem Kontakt mit Herrn Spaak auch um die Wahrnehmung eines für den Grenzlandbewohner legitimen Anliegens. Gerade für die historisch interessierten Menschen ist aber auch die Feststellung von besonderem Reiz, in welchem Umfang noch heute frühere historische Verbindungen in diesem Teile Europas über die Staaten- und Völkergrenzen von heute hinaus kulturell wirksam sind. Es ist etwas Besonderes um die Lage dieser Stadt, die an dem Schnittpunkt mehrerer Kulturen liegt und die ihren Standpunkt zwar nicht mehr im Bereiche Westeuropas aber doch noch nicht im eigentlichen Mitteleuropa hat. Eine solche Lage mag in sich die Aufforderung enthalten, nach allen Seiten wirksam zu werden. Dieser Hinweis soll nicht bedeuten, daß Aachen auf der Stelle europäische Hauptstadtfunktionen zu übernehmen hätte – im Gegenteil, es gibt mehr als genug der Hauptstädte und auch der Sitze von europäischen Organisationen. Was ich aber feststellen möchte, ist die Notwendigkeit der Bildung von geistigen Klammern, die in dem gegenwärtig noch flüssigen Zustand des europäischen Zusammenschlusses die Völker Europas zusammenhalten. Indem die Stadt Aachen den Karlspreis stiftete, übernahm sie eine solche Funktion, die den politischen Sinn ihrer Bürger auszeichnet, und die ich besonders anerkennen möchte.

Die Vergebung des Karlspreises durch diese Stadt erfolgt aber nicht nur, um eine Lücke in der Fülle der Bezeugungen für den europäischen Gedanken zu schließen. Der Name Aachen löst Gedanken und Empfindungen eigener Art aus. Erinnerungen werden wach, an den römischen Ursprung Aachens, an die Bischofsstadt, an die Stadt, in der die Herrscher des mittelalterlichen Deutschlands die Königskrone empfingen. Über all dem steht die Erinnerung an den großen Mann, der sich in dieser Stadt niederließ. Und seien wir ehrlich: Es ist schließlich der Entschluß Karls des Großen gewesen, Aachen zur Hauptstadt seines Reiches zu wählen, der dieser Stadt ihre besondere Rolle in der Geschichte zugewiesen hat, und es ehrt diese Stadt, wenn sie auch heute den Namen und das Wirken dieses Mannes im Bewußtsein der Gegenwart durch ihre Taten wachzuhalten sucht. Was zeichnet Karl den Großen in der Geschichte der europäischen Völker vor den Reichsgründern späterer Jahrhunderte und Epochen aus? Es ist – so möchte in meinen – die Tatsache, daß er in unserer geschichtlichen Erinnerung von Niederländern, Deutschen, Belgiern, Franzosen, Italienern zugleich ist. Die Kernzelle des Frankenreiches lag ja nicht nur in dem Lande am Rhein und an der Mosel, sondern auch in Nordfrankreich, in Luxemburg und in der Heimat unseres verehrten Karlspreisträgers von heute, des Herrn Spaak. Die gleichzeitige Zugehörigkeit und das erfolgreiche Wirksamwerden in den verschiedenen Lebensbereichen zeichneten ihn auch vor den anderen Kaiserlichen Trägern seines Namens in der Geschichte des Mittelalters und in der früheren Neuzeit aus. Um nur einen zu nennen: Karl IV., der bedeutende König Böhmens und Schöpfer der ?Goldenen Bulle?, dem zu Ehren kürzlich ebenfalls um den Ausgleich zwischen dem deutschen und dem tschechischen Volkstum zunächst nur der ?Vater Böhmens? gewesen und war für sein Nachfahren – gewiß ungerechtfertigter Weise – ?des Heiligen Römischen Reiches Erzstiefvater?.

So ist die Rückbesinnung auf das Lebenswerk Karls des Großen historisch und politisch gerechtfertigt. In der karolingischen Staatsgründung symbolisiert sich letzten Endes der Wille der germanischen und romanischen Völker in Europa – sich in der Auseinandersetzung mit den fremden Kräften, die von allen Seiten her auf die abendländische Welt eindrangen, die Eigenart zu bewahren. Von Süden und von Südwesten her das Vordringen des Islam, von Norden die Normanneneinfälle, von Osten die Awaren- und Magyarenzüge – das neunte Jahrhundert unserer Geschichte bietet eine erregende Parallele zu unserer heutigen Lage. In dem Karolingerreich wirkten die wertvollsten Kräfte antiker und christlicher Tradition fort und fanden, wenn auch das Reich bald zerbröckelte, in dem Fortbestehen anderer staatlicher Ordnungen genügend Schutz vor fremden Einflüssen, um in den folgenden Jahrhunderten den Gang der Geschichte auch des weiteren Abendlandes wieder ganz bestimmen zu können. So ist es nicht der Geist des Verzichts, den wir aus diesem Rückblick in die europäische Vergangenheit gewinnen sollten. Unsere Folgerung lautet anders. Rückbesinnung ja, aber Besinnung auf die Verpflichtung, es den großen Männern der Vergangenheit gleichzutun und nicht in dem Beharren, sondern in dem Vorwärtsblicken und der Bekämpfung der Kräfte der Barbarei die Lösung der politischen Probleme der Zeit zu suchen. Unvorstellbar der Gedanke, wir Deutsche könnten uns mit der Teilung Deutschlands und mit den Grenzen abfinden, die das Reich Karls bei seinem Tode im Zuge seiner Ausdehnung nach Mitteleuropa erreicht hatte. Das Unglück hat es ja gewollt, daß die Zonengrenze nahezu der gleichen Linie folgt, die vor elf Jahrhunderten die Ostgrenze des Karolingerreiches bildete. Uns liegt eine andere historische Parallele im Sinn. Für das deutsche Volk bleibt eine Haupttat Karls des Großen die erstmalige Einigung der deutschen Stämme. In dieser Tat liegt für uns der Ansporn, es ihm nachzutun und nicht abzulassen in dem Bemühen um die Wiedervereinigung und die Wiederzusammenführung aller derjenigen, die sich politisch bewußt zur Freiheit und zum Deutschtum bekennen.

Ich freue mich darüber, daß mir die Verleihung des Karlspreises an Herrn Spaak gerade in dieser Stadt, der westlichsten Stadt Deutschlands, die Gelegenheit geboten hat, die leidenschaftliche Anteilnahme, die das ganze Deutschland – gleichgültig, ob im Osten oder Westen – an der Wiedervereinigung Deutschlands nimmt, zu unterstreichen. Der Bogen, der zu schlagen war, ist weit, aber es zeigt sich auch hier, wie eng verflochten die geistigen Zusammenhänge sind, die letztlich das deutsche Problem mit der Frage einer europäischen Zusammenarbeit verbinden. Die Aufgabe, die für uns Deutsche heute politisch gestellt ist, ist der Auftrag, über der Förderung der europäischen Zusammenarbeit nicht das große Ziel der Wiedervereinigung unseres Volkes aus dem Auge zu verlieren. Aber gerade dieses Ziel zwingt dazu, die Spannungen im Hinterland der Front Europas zu beseitigen, denn nur dann wird es möglich sein, auch denjenigen europäischen Völkern, die unter dem harten Druck der Knechtschaft leben, die Freiheit in Frieden wiederzubringen. Die Bundesregierung wird deshalb nicht nachlassen, den Gedanken der europäischen Integration zu fördern. Das gilt insbesondere auch für die Verwirklichung der derzeit wichtigsten Vorhaben der Herstellung des gemeinsamen Marktes und der europäischen Atomgemeinschaft. Wir sind ein energisches Handeln auch Ihnen schuldig, Herr Spaak; die Verwirklichung dieser beiden Vorhaben wäre ohne Ihre aufopferungsvolle Mitarbeit in Brüssel kaum möglich gewesen. Wir messen dem raschen Abschluß dieser beiden neuen Vertragswerke deshalb größte politische Bedeutung bei und hoffen inständig, daß sich der baldigen Ratifizierung des Werkes in allen Unterzeichnerstaaten keine neuen Hindernisse in den Weg stellen.

Es kann sein, daß ein Teil der Volkswirtschaften der europäischen Länder bei der Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes und der Atomgemeinschaft neben den Vorteilen zunächst auch Nachteile in Kauf zu nehmen hat. Ich sage bewußt: zunächst. Denn wer weiß mit Sicherheit, ob in einigen Jahren in der Welt noch die Bedingungen herrschen, die im Augenblick den meisten europäischen Volkswirtschaften noch selbständige Entfaltung und Gedeihen ermöglichen? Herr Spaak hat bei anderer Gelegenheit davon gesprochen, daß Europa im Falle einer Nichtverwirklichung seines Zusammenschlusses Gefahr liefe, in wenigen Jahrzehnten zu den unterentwickelten Gebieten dieser Erde zu gehören. Er hat Recht. Im vollen Bewußtsein ihrer Verantwortung hat die Bundesregierung deshalb den Ratifikationsprozeß bei sich eingeleitet und erwartet, daß auch die befreundeten Mächte das gemeinsame Werk rasch unter Dach und Fach bringen. Denn nur in der rechtzeitigen Absage an den wirtschaftlichen und politischen Partikularismus der europäischen Staaten liegt – daran ist nicht zu zweifeln – die Gewähr dafür, daß sich unser Kontinent angesichts des Aufkommens neuer, in ihrer zukünftigen Bedeutung schwer zu erfassender Machtgebilde seine Eigenständigkeit bewahren und sich auch in Zukunft einen Platz an der Sonne sichern kann. Nur dann, wenn es gelingt, diesem Partikularismus den Todesstoß zu versetzen, nur dann können wir sicher sein, daß sich die europäischen Völker ihre kulturelle und geistige Individualität erhalten werden. Ohne Sicherung der europäischen Zusammenarbeit keine Erhaltung der Eigenart unserer Völker! Über die Methoden des Ausbaus der europäischen Zusammenarbeit mag es Meinungsverschiedenheiten geben – und das ist gut so, denn wo bliebe der Fortschritt, wenn es keinen Wettbewerb der Meinungen gäbe? Über die Notwendigkeit der europäischen Zusammenarbeit besteht aber kein Zweifel.

Ich versuchte vorhin schon anzudeuten, daß unsere heutige politische Generation vor besonders großen Aufgaben, vielleicht größerer Aufgaben als unsere Väter, gestellt ist. Wir alle haben uns irgendwann einmal in unserem Leben vor einer politischen Situation befunden, in der für uns, der tiefere Sinn des politischen Geschehens in Frage gestellt war. Wir leben auch heute am Rande eines Abgrundes. Unerträglich ist uns der Gedanke, daß bei uns ähnliche Lebensbedingungen herrschen könnten, wie in den Ländern jenseits des Eisernen Vorhangs.

Ständig sind wir gezwungen, uns Rechenschaft darüber abzulegen, ob wir alles getan haben, um das, was uns teuer ist, zu erhalten. Frühere Generationen standen vor der Aufgabe, den Lebensbereich der eigenen Nation zu sichern und erfüllten damit – wenn darüber der Blick für das Lebensrecht der anderen Nationen nicht verloren ging, eine große und in sich gerechtfertigte Aufgabe. Unsere Pflicht wiegt schwerer. Es geht nicht allein um die Bewahrung der staatlichen, der nationalen Einheit; es steht mehr auf dem Spiel: unsere politische Freiheit, die Sicherung unseres kulturellen Erbes, die freie Entfaltungsmöglichkeit des Individuums. So wird es unser Ziel bleiben, alles zu tun, um dem freien Europa die Verteidigung seiner höchsten Güter zu ermöglichen. Nur wenn wir uns dieser Aufgabe gewachsen zeigen, nur dann können wir der anderen Aufgabe gerecht werden, Treuhänder der Freiheit zu sein für die Völker, die in Unfreiheit leben.

Ihnen, Herr Spaak, - damit darf ich mich zum Schluß nochmals an Sie wenden – ist in diesem Zusammenhang eine besonders wichtige Rolle als Generalsekretär der Gemeinschaft der Atlantikpaktstaaten zugefallen. Ihnen war es bereits im Europäischen Bereich vergönnt gewesen, in den engeren Kreis der geschichtlich schöpferischen Männer aufzurücken. Möge es Ihnen vergönnt sein, auch in Ihrem neuen Wirkungskreis im Dienste für die Freiheit gleiche Möglichkeiten der Wirksamkeit zu finden. Da ist unser aller Wunsch.