Rede von Oberbürgermeister Marcel Philipp

Rede des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen Marcel Philipp

Verehrte Festgäste,

seien Sie herzlich willkommen in einer der Herzkammern der europäischen Geschichte, im Krönungssaal des Aachener Rathauses.

Dieser Ort gründet nicht nur auf der Königshalle Karls des Großen und auf der lange währenden Krönungsgeschichte, sondern dieser Ort diente in den letzten 65 Jahren auch immer wieder dazu, das Bewusstsein für unsere europäischen Werte zum Ausdruck zu bringen und den Sinn der Einigung Europas zu untermauern.

Für die Gründer des Karlspreises war im Jahr 1950 ein Europa in dauerhaftem Frieden, in Freiheit und in gesicherter Demokratie nicht die eigene Lebenserfahrung, ganz im Gegenteil, das war eine mehr als kühne Vision. Heute ist genau diese Vision für die Bürger der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union zum Normalzustand geworden, den die meisten ein Leben lang genießen durften. Viele Probleme der unmittelbaren Nachkriegszeit sind gelöst, und doch erscheinen die Herausforderungen, denen sich die EU heute zu stellen hat, übermächtig. Nicht in ganz Europa gelingt die Sicherung des Friedens, und innerhalb der Europäischen Union gibt es in dem Prozess der zunehmenden Einigung gerade jetzt mächtige gegenläufige Tendenzen in mehreren Ländern. Hier ist eine der Gelegenheiten, sich über den weiteren Weg unseres Kontinents auszutauschen, im Wissen um die Bedeutung des notwendigen Zusammenhalts, des respektvollen Diskurses und zugleich der klaren Worte.

Mit großer Freude begrüße ich dazu den designierten Karlspreisträger dieses Jahres, den Präsidenten des Europäischen Parlamentes, Seine Exzellenz Herrn Dr. Martin Schulz.

Ein herzliches Willkommen und unser Dank gilt den Festrednern der heutigen Preisverleihung, dem Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Herrn Joachim Gauck, dem Staatspräsidenten der Republik Frankreich, seiner Exzellenz Francois Hollande, und Seiner Majestät König Abdullah II von Jordanien.

Wir fühlen uns sehr geehrt durch die Anwesenheit Seiner Majestät König Felipe VI von Spanien, des Präsidenten des Europäischen Rates, Seiner Exzellenz Donald Tusk, sowie des Präsidenten der Europäischen Kommission, Seiner Exzellenz Dr. Jean-Claude Junker.

Mit großer Freude begrüßen wir die Präsidentinnen und Präsidenten von Finnland, Litauen, der Schweiz und der Ukraine, Ihre Exzellenzen Sauli Niinistö, Dr. Dalia Gribauskaite, Simonetta Sommaruga, der ich herzlich zum Geburtstag gratulieren darf, und Petro Poroshenko.

Wir heißen die Regierungschefs von Kroatien, Lettland und Österreich herzlich willkommen, Herrn Premierminister Zoran Milanivic, Frau Ministerpräsidentin Laimdota Straujuma und Herrn Bundeskanzler Werner Fayman.

Wir begrüßen sehr herzlich den Präsidenten des Deutschen Bundestages, Herrn Prof. Norbert Lammert und den Bundesminister für Wirtschaft und Energie und Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland, Herrn Sigmar Gabriel, sowie den Minister der Finanzen des Königreichs der Niederlande und Chef der Eurogruppe, Herrn Jeroen Dijsselbloem.

Ein besonderer Gruß gilt allen anwesenden Karlspreisträgern vergangener Jahre sowie der Ministerpräsidentin des Landes Nordrhein-Westfalen, Frau Hannelore Kraft, der Landtagspräsidentin Carina Gödecke, zahlreichen Ministern aus dem In- und Ausland, allen Abgeordneten des Europäischen Parlaments, des Deutschen Bundestages und des Landtages, den Vertretern des Diplomatischen und Konsularischen Korps, den Vertretern der Kirchen und Religionsgemeinschaften, den frisch gekürten Gewinnern des Jugendkarlspreises und Ihnen allen, die Sie mit uns gemeinsam ein Zeichen für die Einheit Europas setzen wollen. Herzlich willkommen beim Karlspreis 2015!

Uns, den Einwohnern der Europäischen Union geht es im Durchschnitt ausgezeichnet, jedenfalls im Vergleich zur Weltbevölkerung insgesamt. Wir sind ein sicherer Zufluchtsort in relativem Wohlstand. Die Menschen, die zu uns flüchten, haben in ihrer Heimat ähnlich Grauenvolles erlebt wie es auch im einstmals kriegerischen Mitteleuropa anzutreffen war: Gewaltherrschaft, Krieg, Vertreibung, der Verlust der Existenzgrundlagen und die Angst vor Ermordung. Es gibt noch zahlreiche Zeitzeugen in unseren Ländern, die selber einmal fliehen mussten. Diese Menschen kennen das Gefühl, einen Zufluchtsort zu finden, zu überleben. Es ist niemandem vorzuwerfen, wenn er jünger ist und diese Erfahrungen nicht machen musste, wenn er vielleicht sogar so jung ist, dass er nicht einmal die Teilung Deutschlands, die Teilung Europas, und die Fluchttragödien des Eisernen Vorhangs erlebt hat. Aber ein gewisses Maß an kollektivem Gedächtnis, an gemeinsamer Erinnerungskultur, ist Pflicht, wenn wir in einem verantwortungsbewussten Europa leben wollen. Sich um Flüchtlinge zu kümmern ist eine Aufgabe, der wir uns weniger mit abwehrender Furcht als vielmehr mit gelebter Menschlichkeit und mit positiver Entschlossenheit widmen sollten.

Dieses Kümmern muss viele Ebenen haben: Natürlich gilt es zunächst, Leben zu retten. Und wir bieten Schutz, Zuflucht, für viele Menschen sogar Perspektiven für den weiteren Lebensweg innerhalb der Grenzen der EU. Eine faire Verteilung dieser Aufgaben auf alle Partner ist zwar wichtig, aber die Debatte darüber darf nicht zum beherrschenden Thema werden, denn das würde aus einem „Willkommen“ ein „Willkommen, aber nicht bei mir“ werden lassen.

Und wir haben eine Verantwortung, die über die Grenzen unseres Kontinents hinausgeht. Der europäische Weg, der uns Jahrzehnte des Friedens gebracht hat, kann sicher nicht einfach kopiert und auf andere Regionen der Welt übertragen werden, aber wir können auch nicht tatenlos zusehen, wie Menschen ohne Schutz grausamer Gewalt ausgesetzt sind.

Wir sorgen uns um unsere Außengrenzen und wir müssen uns vor zunehmenden Terrorgefahren in Acht nehmen. Wir sehen Kriege direkt vor der Haustür der Europäischen Union und den Absturz der Beziehungen zu Russland. Die zunehmende Globalisierung, nicht nur der Ökonomie, sondern vieler Lebensbereiche, schränkt die nationalstaatlichen Gestaltungsmöglichkeiten ein. Nichtstaatliche Akteure betreten die internationale Bühne, organisierte Kriminalität nutzt jede Schwäche staatlicher Handlungsfähigkeit aus. Eine Entgrenzung findet statt, und offen ist, welche Strukturen dabei entstehen werden. Auf Europa wird dabei niemand warten. Wir brauchen eine Europäische Union mit Gestaltungswillen und Gestaltungskraft. Die Aufgaben unseres Kontinents sind heute andere als 1950. Aber sie sind nicht weniger drängend. Und diese aktuellen Herausforderungen erfordern gemeinsames Handeln.

Um gemeinsam handlungsfähig zu sein, braucht es starke und stabile demokratische Strukturen: freie Wahlen, die Freiheit der Presse, ein Parlament, in dem sich die Fragen und Ideen der Bürgerinnen und Bürger Europas bündeln, und eine Kommission, die von sich sagen kann, dass sie im Auftrag der Menschen in der EU agiert. Dieses zunächst abstrakte Gerüst gilt es mit Leben zu füllen. Die Identifikation der Bürgerinnen und Bürger der so vielfältigen Regionen Europas mit den Schaltstellen der Macht in Brüssel und Straßburg ist nur möglich, wenn hinter Konzepten und Wahlprogrammen auch Menschen stehen, die sichtbar sind und denen man vertrauen kann. Europa braucht Gesichter mit Charakter, Menschen, die für Perspektiven stehen und die ihre Programme verkörpern.

Einen Spitzenkandidaten für die Europawahl zu bestimmen, das war eine neue Erfahrung für die Parteien im letzten Jahr. Dieses „sich auf eine Person einigen müssen“ ist wichtig. Und Martin Schulz hat erkannt, dass darin eine große Chance für das Europäische Parlament liegt. Für ihn begann dieser Prozess mit der innerparteilichen Diskussion, durch die Bestimmung eines Spitzenkandidaten vorweg zu gehen. Er selber hat das Vertrauen erhalten, diese Aufgabe zu übernehmen und damit im Wahlkampf in allen Ländern der EU eine Verbindung zu schaffen zwischen den Menschen mit all ihren Sorgen und Wünschen und ihm, der mit entwaffnender Zugewandtheit die Distanzen verkürzt, die dem Ruf europäischer Politik so zu schaffen machen. Und nach der Wahl hat er das Parlament zum Wächter über die Umsetzung der Idee der Personifizierung gemacht und darauf bestanden, dass nur der Wahlsieger als neuer Kommissionspräsident akzeptiert wird. Damit hat er den Wählerinnen und Wählern zu ihrem Recht und der Demokratie zu einem Sieg verholfen. Martin Schulz hat Europas demokratische Legitimation gestärkt.

Die neue Verfassungspraxis einer wirklich politischen Wahl der Kommissionsspitze wird sich das Parlament nicht mehr nehmen lassen. Das ist die Basis dafür, dass das Parlament als wichtiger Ort des Austauschs und der politischen Entscheidungen zugleich auch Garant für die Bodenhaftung der europäischen Politik sein wird. Der Präsident ist dabei das Gesicht und die Stimme dieser Institution.

Wir zeichnen heute einen überzeugten und überzeugenden Europäer aus, der streitbar, sichtbar und hörbar für eine starke demokratische Europäische Union eintritt, die gemeinsam die Kraft aufbringt, die schwierigen Herausforderungen unserer Zeit zu lösen. Die Urkunde für Martin Schulz lautet:

„An Christi Himmelfahrt, dem 14. Mai 2015, wurde im Krönungssaal des Aachener Rathauses, der ehemaligen Kaiserpfalz, der Internationale Karlspreis zu Aachen an den Präsidenten des Europäischen Parlamentes, S.E. Dr. h.c. Martin Schulz verliehen, in Würdigung seiner bedeutenden Verdienste um die Stärkung des Parlaments und der demokratischen Legitimation in der EU.“

Zunächst erwarten wir mit großer Freude die Beiträge unserer Festredner, und als erstes gehört das Pult dem Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Herrn Joachim Gauck. Herzlichen Dank.

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