Rede von Konstantin Karamanlis

Rede von Konstantin Karamanlis

Ich möchte Ihnen herzlich danken für das, was Sie über mein Land und mich persönlich gesagt haben.
Ich danke auch dem Bundesminister Herrn Ertl und meinem alten Freund Jean Rey für ihre liebenswürdigen Worte, obwohl diese Worte, fürchte ich, erhabener sind als meine Werke.
Mein besonderer Dank gilt dem Direktorium des Karlspreises für die Ehre, die es mir zuteilte, indem es mich jenem Kreis ausgezeichneter Europäer zuzählt, die das Ideal eines Vereinten Europas konzipiert und gefördert haben. Und es ist für mich ein glücklicher Zufall, daß ich diesem Kreis nach dem Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Herrn Scheel, beitrete, für den ich eine besondere Hochachtung hege.
Ich bin überzeugt, daß die hohe Ehrung, die mir heute zuteil wurde, sich nicht nur auf meine Person bezieht, sondern auch auf die griechische Nation, der Europa seinen Namen verdankt und die allen seinen Völkern durch die Jahrhunderte hindurch logos (Wort) und Geist bot.
Diese Feier zur Hervorhebung des europäischen Gedankens hat, Herr Oberbürgermeister, noch deshalb eine besondere Bedeutung, weil sie in Ihrer schönen, historischen Stadt stattfindet. Hier hat vor elf Jahrhunderten eine der großen Gestalten der Geschichte, Karl der Große, die Hauptstadt eines Reiches gegründet, welches sich fast über die gesamte Flüche der heutigen Europäischen Gemeinschaft erstreckte.
Zu dieser feierlichen Stunde und bevor ich zum Hauptthema meiner Rede schreite und Ihnen meine Gedanken darlege, fühle ich mich verpflichtet, all den Pionieren, die vor 30 Jahren den Kreuzzug für die Einigung Europas unternommen haben, Ehre zu erweisen.
Hekatomben menschlicher Existenzen und Millionen Toter in allen Ländern Europas hat es gekostet, bis sich die Europäer ihrer Identität, ihrer gemeinsamen Wurzeln und ihrer gemeinsamen Mission bewußt wurden. Am Anfang gab es nur wenige Aufgeklärte. Heute sind es viele geworden und sie werden mit jedem Jahr mehr. Man könnte sogar sagen, daß die europäische Idee unsere Völker schneller mitreißt als ihre Führungen. Es ist, glaube ich, ein Gemeinplatz, über die Zweckmäßigkeit der europäischen Einigung zu diskutieren, die unseren Völkern bereits zum Bewußtsein geworden ist. Es mag unterschiedliche Gesichtspunkte bezüglich der Gestalt, der Ausdehnung und des Rhythmus der Integration geben. Einen vernünftigen Einwand gegen die Einigung als solche kann es jedoch nicht geben: sie ist für unseren Kontinent eine Existenzfrage.
Es ist außerdem bekannt, daß der Begriff der Einigung - jeder Einigung - sich mit dem Begriff der Stärke fast deckt. Diese Wahrheit wird durch unzählige Beispiele erhärtet: von Rom, welches vereint das gespaltene Griechenland unterwarf, bis hin zu Amerika und Deutschland, die ebenfalls durch Vereinigung außerordentliche Macht gewannen. Hätten die alt-griechischen Stadtstaaten auf Isokrates gehört, der ihnen sein Leben lang riet, sich zu einigen, so wäre die Entwicklung des Griechentums und der Gang der Geschichte anders verlaufen.
Europa, das bis zum Anfang unseres Jahrhunderts in mehrerer Hinsicht eine vorherrschende Stellung in der Welt innehatte, befindet sich heute in Dekadenz: und es hätte selbst seine Freiheit eingebüßt, hätte es nicht die Solidarität Amerikas gehabt. Schon um zu überleben, muß es sich einigen und das gewaltige Potential, über das es verfügt, in politische, wirtschaftliche und moralische Kraft verwandeln.
Um aber die Bedeutung der europäischen Einigung besser einschätzen zu können, muß man sie im Rahmen der heutigen Realitäten betrachten. Die Menschheit geht heute durch eine kritische Übergangsphase hindurch, die von einer allgemeinen und heftigen Unruhe gekennzeichnet ist. Eine Unruhe, die verschiedenartige Gestalten annimmt, von der Angst bis zur Gewalt. Denn der heutige Mensch möchte sich von einer Lebensart entfernen und sucht nach einer neuen.
Diese verzweifelte Suche stellt als solche eine Kraft dar, die nicht ignoriert werden darf. Sollte es in den nächsten Jahren eine politische und geistige Führung geben, die fähig wäre, diese Kraft zu lenken, so könnte sie sich als schöpferisch erweisen und zu einer besseren Lebensweise, ja sogar zu einer neuen Renaissance führen. Sollte diese Kraft aber umgelenkt bleiben, so könnte dies katastrophale Folgen haben . Und diese Führung kann nur Europa selbst bieten. Nicht nur, weil es über eine große kulturelle Tradition verfügt, sondern auch, weil es von der Suche nach einem Ideal inspiriert ist: d. h. die Schaffung einer großen Gemeinschaft, welche die Freiheit mit der Ordnung, die Ordnung mit der sozialen Gerechtigkeit verbindet. Denn ohne Ordnung kann es keine Freiheit geben, genauso wie es keine Ordnung ohne soziale Gerechtigkeit geben kann. Die Schaffung einer Gemeinschaft, die in Frieden leben und sich kulturell weiterentwickeln wird, die ihre Mittel für die Verbesserung der Lebensqualität einsetzen wird, anstatt die Gier und das Sybaritentum ihrer Bürger zu nähren.
All das, was ich Ihnen gesagt habe, mag den Eindruck erweckt haben, daß ich, von mediterraner Begeisterung beseelt, übertreibe. Das wäre jedoch ein unzutreffender Eindruck. Denn ich bin aus Überzeugung ein Freund des Maßes, das die Grundlage der Philosophie von Aristoteles bildet. Ich lasse aber auch Platon nicht außer Acht, welcher uns lehrt, daß für die Verwirklichung großer Werke auch die Vision notwendig ist. Persönlich glaube ich an die großen Möglichkeiten und demzufolge auch an die historische Rolle Europas. Aus diesem Grunde habe ich 18 Jahre lang für den Beitritt meines Landes in die Europäische Gemeinschaft gekämpft. Und ich bin glücklich, weil dieses mein Bestreben, voraussichtlich in den kommenden zwei Jahren seine Rechtfertigung finden wird.
Mir sind die Schwierigkeiten dieses Unternehmens, substanzieller und prozentualer Art bekannt. Auch die politischen sowie wirtschaftlichen und sozialen Probleme, mit denen Europa heute konfrontiert wird. Ich weiß aber auch, daß diese Probleme die Verzögerung der europäischen Einigung nicht rechtfertigen, wie einige glauben, sondern daß sie im Gegenteil, ihre Beschleunigung erzwingen. Denn es handelt sich um Probleme, die nicht im eigenen nationalen Rahmen jedes einzelnen Landes zu lösen sind, sondern nur im breiteren Rahmen eines Vereinten Europas.
Selbstverständlich gibt es immer und überall die Skeptiker, die Mißtrauischen und auch die Gegner. Die einen reagieren negativ, weil sie von überholten Nationalismus inspiriert sind und den kleinen Interessen den Vorrang geben vor den großen Zwecken der Einigung. Sie sind so sehr mit den Bäumen beschäftigt, daß sie den Wald vor den Augen verlieren. Die anderen reagieren negativ, weil sie sich ein zersplittertes und schwaches Europa wünschen, das eine leichte Beute für den Kommunismus wäre. Andere wiederum vertreten die Ansicht, daß die Nationen, die die Gemeinschaft bilden werden, ihre Persönlichkeit verlieren werden, daß wir alle, die Europäer, unsere nationale Kultur einbüßen und zu einer Masse ohne eigene Physiognomie und Charakter werden.
Menschen, die kein Vertrauen zu sich selbst und zu ihrer Abstammung haben, sind ein trauriges Phänomen. Kein Volk mit historischem Bewußtsein, das Träger einer langjährigen Zivilisation ist, kann von anderen Völkern absorbiert werden, mögen sie auch zahlenmäßig größer und reicher sein.
Das Vereinte Europa wird ein demokratisch organisierter "Staat" sein. Und so wie der Zweck jeder wahren Demokratie die Entfaltung der Tugenden der Bürger ist, so wird die Wahrung und die Entfaltung der nationalen Charaktermerkmale eines jeden Volkes eine der immanenten Zielsetzungen der Gemeinschaft sein.
Die Befürchtungen der Skeptiker sind offenbar auf eine Konfusion zurückzuführen. Von den oberflächlichen Unterschieden verleitet, sehen sie nicht mehr die tiefere Einheitlichkeit. Sie vergessen unsere gemeinsame kulturelle Tradition, die Verwandtschaft unserer Sitten und die Identität unser Denkweise. Mit anderen Worten, sie vergessen die europäische Zivilisation, die in der Synthese des griechischen, des römischen und des christlichen Geistes besteht. Einer Synthese, zu der der griechische Geist die Idee der Freiheit, der Wahrheit und der Schönheit beigetragen hat, der römische Geist die Idee des Staates und des Rechtes und das Christentum den Glauben und die Liebe.
Auf dieser gemeinsamen Zivilisation werden wir den europäischen Verband bauen, der die Sicherheit unserer Völker und unserer demokratischen Institutionen festigen und überdies auch den materiellen und moralischen Fortschritt Europas vorantreiben wird.
Die Bildung eines Vereinten Europas wird, wie ich glaube, das größte politische Ereignis unseres Jahrhunderts sein. Ein Ereignis, welches das Schicksal unseres Kontinents, aber auch den weiteren Weg der Menschheit beeinflussen wird. Denn es wird das Kräfteverhältnis in der Welt ausbalancieren, die Unabhängigkeit Europas sichern und zur Festigung der internationalen Ordnung und des Friedens beitragen.
Der Fortschritt der Wissenschaft, die enorme und kostspielige Entwicklung der technischen Mittel, und leider auch der Vernichtungsmittel, nimmt den kleineren Ländern die Möglichkeit, mit diesem zu verzeichnenden Fortschritt auf allen Gebieten Schritt zu halten. So kommt die Macht ausschließlich den größeren menschlichen Gemeinschaften zu, mit dem fatalen Ergebnis der Entstehung von Abhängigkeitsverhältnissen der Kleinen von den Großen.
Angesichts der gewaltigen Gebilde, die entstanden sind, sind alle Völker Europas, auch die zahlenmäßig großen, klein und schwach. Und es gibt für sie nur eine einzige Lösung, aus dieser unvorteilhaften Lage herauszukommen: Daß auch sie eine größere Einheit bilden, die den anderen politischen Formationen der heutigen Welt ebenbürtig sein würde. Nur auf diese Weise werden sie an dem allgemeinen Fortschritt teilhaben und die Sicherheit Europas festigen können.
Europa ist sicherlich, sowohl bevölkerungsmäßig als auch wirtschaftlich, der Sowjetunion überlegen. Und es steht ihr auch auf dem technologischen Gebiet nicht nach. Wenn es durch seine Einigung diese seine Möglichkeiten nutzt, wird es aus sich heraus in jeder Hinsicht stark sein. Dann wird es imstande sein, vorbehaltlos und gleichberechtigt mit Amerika zusammenzuarbeiten, anstatt von ihm abhängig zu sein.
Das Vereinte Europa wird, wie ich sagte, einen echt demokratischen Charakter haben. Aufgrund seiner demokratischen Struktur und Funktion wird es das demokratische Regime in den einzelnen Ländern festigen. Denn es ist offensichtlich, daß die Demokratie, die in dieser Stunde eine gefährliche Krise durchmacht, einer Anpassung an die Verhältnisse unserer Zeit bedarf. Und bezeichnend für diese Krise ist die Tatsache, daß von den 150 Staaten, die es in der Welt gibt, nur 19 eine echte Demokratie haben. Und auch bei diesen werden die demokratischen Institutionen auf eine harte Probe gestellt.
Die wirtschaftliche und soziale Krise, die Europa heute durchmacht, ist das Ergebnis der Krise der demokratischen Institutionen, die durch den Mißbrauch der Freiheit und den Eudaimonismus (Wohlstandsgläubigkeit) unterhöhlt werden.
Europa kann, indem es sich vereinigt, seine demokratischen Institutionen neu gestalten und bewahren. Denn die Demokratie kann in einem Vereinten Europa zusammenbrechen. Dies ist ein Grund mehr, der für die Beschleunigung der Einigung Europas spricht. Denn sollte sich die Einigung übermäßig verzögern und in der Zwischenzeit die Demokratie in manchen Ländern erschüttert werden, dann wird der Traum eines Vereinten Europas endgültig erloschen sein.
Ermutigend ist jedenfalls, daß im nächsten Jahr das Europäische Parlament gewählt wird. In ihm wird eine neue Denkweise herausgebildet werden, die den Integrationsprozeß vorantreiben wird. Wähler und Gewählte werden sich als Europäer fühlen. Sie werden nicht nur mit dem kühlen Verstand wissen, sondern auch mit ihrer Seele spüren, daß sie Bürger des Vereinten Europa sind.
Die politische Struktur des Vereinten Europas wird sich, meiner Meinung nach, stufenweise auf zwei repräsentative Organe stützen müssen. Das eine wird sich aus Vertretern zusammensetzen, welche jedes Land proportional zu seiner Bevölkerung entsenden wird. Das zweite aus gleichvielen Vertretern aus jedem Staat. Auf diese Weise kann man, soweit es möglich ist, die Gleichheit mit der Gerechtigkeit, die selten koinzidieren, miteinander verbinden. Denn wie Aristoteles sagt, die Gleichheit zwischen Ungleichen und die Ungleichheit zwischen Gleichen führt zu Ungerechtigkeit.
Parallel zu den repräsentativen Gremien muß die Struktur des Verbandes konkretisiert und die Organisation seiner Exekutive vorangetrieben werden. Und dies wird schwieriger sein, da außer dem Problem ihrer Zusammensetzung auch die Frage der Reichweite ihrer Befugnisse besteht. Sollte es nicht parallel dazu eine Verstärkung der Exekutive geben, dann würde möglicherweise das Werk der repräsentativen Gremien nicht voll genutzt werden können; dies würde zu Enttäuschungen führen.
Es ist selbstverständlich, daß alle Länder einen Teil ihrer Befugnisse dem Europäischen Verband abtreten müssen, um die Entfaltung einer einheitlichen Politik im politischen, wirtschaftlichen und im verteidigungspolitischen Bereich zu ermöglichen.

Meine Damen und Herren,

einige Gedanken, die ich Ihnen darlegte, mögen sich noch im Stadium des Visionären befinden. Es handelt sich jedoch um Visionen, die durch die Kraft der Dinge, durch die Gemeinsamkeit der Interessen und die Gemeinsamkeit der uns bedrohenden Gefahren allmählich zur Wirklichkeit werden. Wir haben uns bereits auf diesen Weg begeben und einige hoffnungsvolle Schritte gemacht. Wir haben keine andere Wahl, als diesen Weg bis zum Ende zu gehen, bis Vision und historische Wirklichkeit sich voll decken werden.
Wie ich im Laufe meiner Rede betonte, wird die Einigung der Völker Europas die größte Errungenschaft in der Geschichte unseres Kontinents sein. Und sie wird eine große Etappe in der Weltgeschichte darstellen. Es ist ein Werk im Dienst der Freiheit, des Friedens und des Fortschritts, nicht nur für die Europäer, sondern für alle Völker der Erde. Es kann sein, daß seine Gegner es bekämpfen werden. Sie können es aber nicht vereiteln, denn es stellt eine geschichtliche Notwendigkeit dar.
Ich glaube, daß auch im Fall der Einigung Europas das gelten wird, was der Monarchienanhänger Chateaubriand über die Republik sagte: "Du kannst sie bekämpfen, du kannst sie verzögern. Aber was du auch tust, was du auch sagst, der Sieg wird ihrer sein".