Rede von Konrad Adenauer

Rede von Konrad Adenauer

Ich bin tief gerührt, ich bin erfreut, aber ich gestehe es offen, ich bin auch etwas beschämt. Ich höre heute in diesem Raume soviel Gutes über mich, daß ich mir, zu Hause angekommen, einmal überlegen muß, was daran echter Kern und was oratorisches Beiwerk ist. Aber, meine verehrten Damen und Herren, in den Reden, die wir eben gehört haben, in der Rede des Oberbürgermeisters Heusch, des Ministerpräsidenten Arnold und meines alten Freundes, des Grafen Coudenhove-Kalergi, klang ein so echter und warmer Ton durch, der Gedanke und die Hoffnung und die Überzeugung, daß wir ein Europa schaffen werden. Und das wollen wir tun und, meine Damen und Herren, ich bin fest überzeugt, wir werden es auch erreichen.

In dieser Stadt, meine Damen und Herren, die ja der Hauptsitz Karls des Großen gewesen ist und die die Krönungsstadt der deutschen Könige war, stehen wir im Herzen Europas, im Herzen des christlichen Abendlandes. Hier in Aachen liegt aufgeschlagen das Geschichtsbuch der europäischen Frühzeit, der Zeit, in der Europa noch eine einheitliche Ordnung besaß und der europäische Gedanke eine geistige, eine politisch konstruktive Macht bedeutete. Wer aus der Geschichte und den geschichtlichen Zeugnissen dieser Stadt Aachen zu lesen versteht, wird ihren europäischen Herzschlag fühlen. Dieser Blick in die Vergangenheit erfüllt uns Europäer von heute allerdings mit Wehmut. Europa hat in den Jahrhunderten seit der Zeit Karls des Großen sein europäisches Erbe vertan. In den Zeiten des Mannes, der dem Karlspreis seinen Namen und seine Idee gab, herrschte ein Austausch der materiellen und der geistigen Güter in Europa ohne alle Grenzen. Aber wie eben schon ausgeführt worden ist, unter seinen ersten Nachkommen begann sich das europäische Bild zu verdüstern. Persönlicher Eigennutz, ehrgeiziger innerer Streit, Angriffe der unruhigen Randvölker, die Anfänge der nationalen Verschiedenheiten, bewirkten ein immer stärkeres Gewicht der Teilreiche, unter denen die europäische Universalität des Abendlandes zerfiel. Es folgten Jahre und Jahrhunderte, in denen diese Idee verschwand und versank im Rauch der Schlachtfelder, im Lärm der Kanonen, im Aufschrei und im Blut der Europäer selber.

Nach dem Ersten Weltkrieg ist das Bild Europas als Sehnsucht einiger weniger wieder aufgetaucht. Und es liegt mir besonders hier am Herzen, zu unterstreichen und zu bekennen, was damals gerade nach dem ersten Weltkrieg Graf Coudenhove-Kalergi, zunächst alleinstehend auf diesem Gebiete, geleistet hat.

Das Grauen der Jahre 1933 bis 1945 vertrieb diese erste schwache Vision eines einigen Europa wieder. Und nun, nach einem neuen noch furchtbareren Krieg steht sie wieder vor uns. Diesmal löste sie in Millionen Herzen Begeisterung, Hoffnung und auch schon manche europäische Tat aus. Überall zeigten sich schöne Ansätze. Allein die Tatsache, daß dieser Karlspreis geschaffen wurde und vier Förderer des Europa-Gedankens und der Europa-Politik, vier nicht-deutschen Europäern hier in Aachen verliehen werden konnte, beweist, daß es nach diesem zweiten Kriege nicht bei einem Europabekenntnis geblieben ist. Gerade daß diese vier ersten Träger des Karlspreises aus verschiedenen Ländern Europas stammen, ist ein Zeichen dafür, daß, bei aller Wahrung der nationalen Eigenart, die gemeinsame europäische Aufgabe erkannt und ihre Lösung versucht wird. Vor allem, meine Damen und Herren, dürfen wir aus der Verleihung des Preises an einen Franzosen im Jahre 1953 und an einen Deutschen im Jahre 1954 die Aufforderung an die Politiker und an beide Völker herauslesen, den zerstörerischen deutsch-französischen Gegensatz endgültig verschwinden zu lassen. Dadurch, meine Damen und Herren, würde das letzte große Hemmnis der Einigung Europas beseitigt werden. Ich darf für meine Person an dieser historischen Stätte die Versicherung wiederholen und von neuem geben, daß mir dieses Ziel nicht nur in der Vergangenheit Herzenssache war, sondern daß ich auch in Zukunft immer danach handeln werde.
Der Weg nach einem vereinten Europa hat sich in den letzten zwölf Monaten als besonders steinig, schwer und mühevoll gezeigt. Aber das darf uns nicht enttäuschen und wird uns nicht enttäuschen, denn alle Wege zu wirklich großen Zielen sind schwer. Wir wollen uns nicht irre machen lassen, sondern unerschüttert und unerschütterlich weitergehen, immer näher miteinander in Einklang kommen, die Mißverständnisse aufklären und beseitigen, auf allen Seiten Opfer bringen unter dem größeren Gesichtspunkt eines europäischen Ganzen. Ich habe - es wurde eben schon erwähnt - vor der Beratenden Versammlung des Europa-Rats vor wenigen Tagen die Parlamentarier daran erinnert, daß das europäische Einigungswerk heute stärker bedroht ist als in den ersten Jahren unserer gemeinsamen Bestrebungen. Denn es besteht - man leugne das nicht und übersehe es nicht - denn es besteht nie große Gefahr, daß sich angesichts der Verzögerungen unter den Völkern Ungeduld und Enttäuschung ausbreiten und damit eine der schönsten und zukunftsreichsten Ideen ihre Triebkraft verliert. Ich wiederhole diese Besorgnis heute an einer historischen Stätte, an der ein solches Stocken besonders schmerzlich empfunden würde. Tragen Sie alle dazu bei, daß der Europagedanke eine Volksbewegung bleibt und nicht mehr erlahmt. Wirken Sie durch eine kräftige europäische öffentliche Meinung auf die Politiker, auf die Parlamentarier, auf die Regierungen ein, wir sichern damit unsere eigene Zukunft. Gerade in Aachen wird man die Mahnung verstehen, daß Europa uns heute Schicksalsgemeinschaft ist. Dieses Schicksal zu gestalten ist uns übergeben. Das rufe ich von hier aus den Deutschen wie unseren europäischen Partnern über die Grenzen zu, über die Grenzen, über die von hüben und drüben in der Vergangenheit soviel Unheil gekommen ist.

Möge aus dem Bewußtsein des gemeinsamen Erbes und der großen Tradition unseres europäischen Kontinents für uns alle eine bessere Zukunft erwachsen. Mögen aber auch alle, meine Damen und Herren, die an irgendeiner Stelle, in irgendeinem Lande Verantwortung tragen, dessen eingedenk sein, daß historische Möglichkeiten selten wiederkommen, wenn sie einmal versäumt worden sind.