Rede des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen, Dr. Jürgen Linden

Rede des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen, Dr. Jürgen Linden

Verehrte Festgäste,

Europa steht an der Schwelle zum 21. Jahrhundert vor einer neuen Bewährungsprobe. Die Zeit der Umbrüche geht zu Ende. Die strategische Frage der europäischen Politik lautet heute, ob die kommende Epoche von einem neuen gesamteuropäischen Ordnungskonzept und vor allem von den Vorteilen des Friedens und der sozialen Sicherung geprägt werden kann.

"Europa ist kein Ort, sonder eine Idee" - schrieb jüngst ein französischer Kulturphilosoph. Und in der Tat: Europa wird ein Fundament für die Gemeinschaft aller Staaten nur dann sein, wenn die Menschen ein gemeinsames Bewußtsein von der Notwendigkeit der Einigung entwickeln.

Dazu gehört in erster Linie Vertrauen - Vertrauen in die Union, in die europäischen Nachbarn und in die gemeinsamen politischen Ziele.

Das Direktorium zur Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachenverleiht den Karlspreis 1996 an eine Persönlichkeit, die durch ihr bisheriges Lebenswerk immer wieder die Gemeinsamkeiten in Europa förderte, sich nachhaltig für die Aussöhnung und Zusammenarbeit der Völker einsetzte und durch ihr Auftreten ein Klima des Vertrauens und der Sympathie schaffte.

Ich begrüße sehr herzlich und mit großer Freude in unserer Mitte die Karlspreisträgerin 1996, Ihre Majestät Königin Beatrix der Niederlande. Majesteit, hartelijk welkom. Wij zijn zeer verheugd, dat U na Uw bezoek in Oktober afgelopen jaar nu weer bij ons in Aken bent. Wij zijn blij met U een prijsdrager gevonden te hebben, die telkens weer een overtuigende getuigenis voor de Europese gezindheid aflegt.

Zusammen mit Ihrer Majestät begrüße ich Ihre Königlichen Hoheiten, Gemahl Prinz Klaus der Niederlande sowie die Söhne Prinz Willem-Alexander, Prinz Johan Friso und Prinz Constantijn.

Sehr herzlich und mit großer Freude begrüße ich Seine Majestät Albert II. König der Belgier zu seinem ersten offiziellen Besuch in unserer alten Kaiserstadt.

Des weiteren begrüße ich die Karlspreisträger früherer Jahre:
-den Karlspreisträger 1963, den vormaligen britischen Premierminister Sir Edward Heath
-für den Karlspreisträger 1969, die Kommission der Europäischen Gemeinschaften, den damaligen Vizepräsidenten Dr. Fritz Hellwig und Kommissar Dr. Hans von der Groeben
-die Karlspreisträgerin 1981, die frühere Präsidentin des Europäischen Parlaments, Frau Simone Veil
-für den Karlspreisträger 1986, Seine Königliche Hoheit Großherzog Jean von Luxemburg
-den Karlspreisträger 1991, den Präsidenten des Tschechischen Republik, Herrn Václav Havel und
-den Karlspreisträger 1995, den Bundeskanzler der Republik Österreich, Herrn Dr. Franz Vranitzky.

Eine besondere Freude bereitet uns mit seiner Anwesenheit der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, Herr Prof. Dr. Roman Herzog, dem ich an dieser Stelle schon danken möchte für die große Ehre, die er uns mit der Laudatio auf die diesjährige Preisträgerin erweist.

Wir grüßen mit besonderer Hochachtung in unserer Mitte den Außenminister des Königreichs der Niederlande, Herrn Hans van Mierlo und den Minister für Wissenschaft, Forschung und Kunst der Republik Österreich, Herrn Dr. Rudolf Scholten.

Wir freuen uns über die Anwesenheit der Präsidentin des Deutschen Bundestages, Frau Prof. Dr. Rita Süssmuth, und der stellvertretenden Präsidentin, Frau Dr. Antje Vollmer, sowie des Bundesministers der Justiz, Herrn Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig.

Sehr herzlich begrüßen wir den ehemaligen Präsidenten der portugiesischen Republik, Herrn Dr. Mario Soares.

Ich begrüße gerne die Botschafter der Länder Australien, Belgien, Finnland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Indien, Italien, Lettland, Luxemburg, Malta, Mexiko, Niederlande, Norwegen, Österreich, Portugal, Slowakei, Spanien, Tschechien sowie den deutschen Botschafter in den Niederlanden und den Vertreter des Botschafters der Republik Ungarn.
Herzlich begrüße ich den Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen, Herrn Dr. Johannes Rau, sowie die Landesminister Frau Anke Brunn und Herrn Prof. Dr. Manfred Dammeyer. Ich begrüße den Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion, Herrn Rudolf Scharping. Wir freuen uns über die Anwesenheit des Mitglieds der Europäischen Kommission, Frau Dr. Monika Wulf-Mathies.

Darüber hinaus grüße ich die Vertreter der Kirchen und Religionsgemeinschaften, der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste, des Club of Rome, meine Kollegen aus den Nachbarstädten sowie viele weitere namhafte Persönlichkeiten, die uns durch ihre Anwesenheit ehren. Ihnen allen, die Sie an diesem heutigen Ereignis hier im Krönungssaal oder an Radio und Fernsehen teilnehmen, gilt der aufrichtige Gruß der Stadt Aachen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Regierungskonferenz der europäischen Mitgliedsstaaten stellt zur Zeit die Weichen für die Vollendung der politischen Union, der Währungsunion, der Sozialcharta und für die schrittweise Erweiterung auf über 20 Mitglieder während der nächsten zwei Jahrzehnte. Europa ist auf dem Weg zu neuen Zielen.

Gerade in diesem so bedeutsamen Zeitpunkt der Veränderung verkörpert allerdings die Gemeinschaft für viele Bürger weniger die Hoffnung auf bessere Zeiten als vielmehr Ratlosigkeit, Zweifel und die zunehmende Furcht vor persönlichen Verlusten.

Die Erfolge der europäischen Einigung, der Frieden innerhalb der Gemeinschaft, die Eröffnung des Europäischen Binnenmarktes mit seinen individuellen Gewinnmöglichkeiten, die gemeinsamen Umwelt- und Sozialstandards, die wechselseitige kulturelle Bereicherung sind vielen - viel zu vielen - schon zur banalen Selbstverständlichkeit geworden.
Die Lähmung, die wir gegenüber dem Balkankrieg erfahren haben, das soziale Gefälle zwischen Ost und West, die Probleme der Massenarbeitslosigkeit, die Verunsicherung gegenüber der angestrebten Einheitswährung, Angst vor nationalem Identitätsverlust, die Unkalkulierbarkeit rasanter technologischer Entwicklungen sowie das Unbehagen gegenüber einer Eurokratie werden lauter und sind nicht nur politisch ernstzunehmen, sondern auch zu beantworten.
Europa hat nur dann ein stabiles Fundament, wenn es seine Bürger überzeugt und politisch, sozial, ökonomisch und ökologisch den Herausforderungen gewachsen ist.
Politisch wissen wir, daß die Union nicht gegen die Nationen gerichtet ist - und doch übernational verbesserte Einrichtungen und Umgangsformen für ihr Miteinander braucht, so vor allem die Einigung über eine europäische Föderation mit einem gestrafften, aber gestärkten europäischen Parlament. Es geht bei aller nationaler Selbständigkeit um eine europaweite Teilhabe der Bürger an den Entscheidungen, um eine neue Gemeinschaftsdisziplin, um den Respekt der Großen vor den Kleinen, um einen Ausgleich zwischen Habenden und Nichtsahnenden, um die optimale Ausnutzung der Ressourcen: Es geht um die Idee von einem europäischen Gesellschaftsmodell, das überzeugt.

Gefragt ist auch ein gemeinsames außenpolitisches Erscheinungsbild, wenigstens die positive Darstellung des größten gemeinsamen Nenners.

Wenn politisch kein Konsens erzielt wird, wie sollen die Bürger ihn finden?
Das zentrale ökonomische und zugleich soziale Thema heißt Arbeit. Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit mit Hilfe eines großangelegten Investitions- und Beschäftigungsprogramms, wie es Jacques Delors bereits Ende der 80er-Jahre vorgeschlagen hat, harrt nach wie vor der Umsetzung. Derweil nimmt die Arbeitslosigkeit zu. Der technologische Fortschritt, die Automation, macht menschliche Arbeitskraft in vielen Aufgabenfeldern überflüssig. Die Natur der Arbeit ändert sich, ohne daß sich die Arbeitsmärkte oder -strukturen angleichen. Wir müssen die Frage beantworten, wie wir mit Arbeit umgehen. Flexibilisierung, Teilzeitangebote und Deregulierung auf der einen, wie auch Erhalt sinnvoller Sozialstandards auf der anderen Seite sind unverzichtbare Maßstäbe. Darüber hinaus muß wohl der öffentliche Sektor verstärkt niederschwellige Arbeitsangebote schaffen und nicht genutzte Betätigungsfelder aktivieren. Die Gemeinschaft ist intellektuell und materiell so mächtig, daß sie neue Arbeit auf neuen Wegen kreieren und die Verteilung der Wertschöpfung regeln kann. So prioritär die gemeinsame europäische Währung ist, so prioritär ist die Lösung des Problems Arbeit.

Europa ist in vielem noch ein Abenteuer. Abenteuer, meine Damen und Herren, muß man wagen.
Wagen wir deshalb mit neuem Mut, unser Europa zu stärken, damit es den neuen, großen Herausforderungen gerecht werden kann.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Karlspreisträgerin 1996 hat Zeit ihres Lebens diesen Willen unter Beweis gestellt. Sie wirbt für die politische Integration, für die historisch gewachsenen gemeinsamen Werte, für die Einbeziehung der Bürger in die Zielsetzungen der Gemeinschaft, die Gleichberechtigung der Mitgliedsstaaten, den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und die Wahrung der kulturellen Vielfalt.

Mit Vehemenz und Glaubwürdigkeit setzt sie sich für die Erweiterung und Vertiefung der Europäischen Union ein, drängt häufig auf größeres Tempo und betont immer wieder das Recht der noch nicht zur Gemeinschaft gehörenden mittel- und osteuropäischen Länder, der EU beizutreten sowie die Pflicht der Mitgliedsstaaten, hierzu die notwendigen Hilfen zu leisten. Immer wieder unterstreicht sie, daß das Vertrauen der Nichtmitglieder, aber auch der Jugend für den Europagedanken nur gewonnen werden kann, wenn die Gemeinschaft den Bürgern Perspektiven bietet. Schon 1984 bekannte sie vor dem Europäischen Parlament: ,,Europa ist ein Glaube, der jedem von uns persönliche Verantwortung auferlegt, Verantwortung

-für die Erfüllung des Auftrags, der in der Geschichte Europas beschlossen liegt,
-für die europäische Kultur, deren Träger wir sind,
-für die Freiheit, die frühere Generationen uns zum Geschenk gemacht haben,
-für die Natur, die uns zu treuen Händen übergeben wurde,
-für die Verteilung des Wohlstands innerhalb der Gemeinschaft,
-für die Verteilung der verfügbaren Arbeit und für die Unterstützung derjenigen, die nicht am Arbeitsprozeß teilnehmen können."

Königin Beatrix wünscht ein gemeinsames Vaterland Europa. In vielen binationalen Beziehungen hat sie sich mutig hierfür eingesetzt und Versöhnung und Frieden angemahnt. Dies gilt auch für das Verhältnis zu uns Deutschen. Vor einer Woche haben wir des Tages gedacht, an dem vor nunmehr 51 Jahren der Zweite Weltkrieg in Europa zu Ende ging. Wir Deutschen werden die Wunden nicht vergessen, die von uns unseren Nachbarn - auch den Niederländern - zugefügt wurden.

Sie, Majestät, haben in den letzten Jahrzehnten nachhaltig das Entstehen einer guten deutsch-niederländischen Partnerschaft beeinflußt. Sie wissen, daß die beiderseitigen Interessen politisch, wirtschaftlich und geistig eng miteinander verflochten sind. Bestehenden Ressentiments wirkten Sie entgegen.

Sie haben betont, daß Gegensätze aus einstigem Streit keine unüberwindbare Kluft in unserer Zeit bleiben dürfen und auf "gebrochenen Pfeilern" keine Brücken in die Zukunft gebaut werden können. Sie wissen, daß "der einzige Weg der des Friedens und der Zusammenarbeit zwischen den Völkern ist."

Die Vertrauensbildung durch konkrete grenzüberschreitende Zusammenarbeit war und ist Ihnen dabei immer bedeutsam gewesen. Wir sind Ihnen dankbar für Ihre Impulse, die Sie vielen Projekten in der Euregio Maas-Rhein vermittelt haben. Durch Ihr Interesse haben Sie uns immer wieder Mut zur Kontinuität gegeben.

Hier am Dreiländereck, meine Damen und Herren, erfahren die Menschen täglich, daß die gemeinsame Vision eines vereinten Europas wesentlich von gut nachbarschaftlichen Beziehungen abhängt. Wer diese fördert und wie Sie, Majestät, europäisch und zukunftsbezogen denkt und handelt, ist ein würdiger Träger des Internationalen Karlspreises der Stadt Aachen. Ich gratuliere Ihnen zu dieser Auszeichnung sehr herzlich.